[97] Ich werde mir auf dem Kleinseitner Gymnasium wohl anfangs einige Mühe gegeben haben, den Vorsprung einzuholen, den die Schüler der besseren Anstalt vor uns Piaristenzöglingen voraus hatten; denn ich blieb auch drüben immer einer der sogenannten Vorzugsschüler, wenn ich auch niemals Primus geworden bin. Ich gedenke auch mit herzlicher Dankbarkeit einiger meiner Lehrer. Aber auch von der guten weltlichen Schule hatte ich keinen rechten Vorteil mehr; das Verbrechen (jawohl, ich wiederhole das zornige Wort), das an mir durch den Raub dreier Jahre verübt worden war, trug die Hauptschuld. Gewiß, ich war nach meiner individuellen Anlage zu altklug für die Schule; doch auch als Musterschüler wäre ich zu alt gewesen für den langsamen Betrieb des Unterrichts. In den bar zu zahlenden Examenkenntnissen stand ich sicherlich weit hinter dem Primus zurück; aber die Polyhistorie, die ich mir durch mein wahlloses Lesen verschafft hatte, hatte mich der Schule früh entwachsen lassen. Wenn Sehnsucht nach strenger Wissenschaft, wenn Sehnsucht nach Welterkenntnis reif macht für die Universität, so gehörte ich zu siebzehn Jahren nicht mehr auf das Gymnasium.
Schon auf dem Piaristengymnasium widmete ich ja meine müßige Zeit nicht nur dem Lesen von Romanen[97] und andern Räubergeschichten. Ich war seit jeher von einer wunderlichen Leidenschaft besessen, heimlich zu lernen, wovon ich erfuhr, daß andere es gelernt hatten. Man wird nach dieser Erklärung besser begreifen, warum ich immer wieder darüber klage, daß ich bei allem Unterricht niemals eine Anleitung gehabt habe. Meine Leidenschaft, die entlegensten Dinge zu lernen, wurde verspottet, und so schämte ich mich bald meiner Wißbegierde. Ich stellte mir die tollsten Aufgaben. Dazu rechne ich nicht, daß ich etwa von meinem zwölften Jahre ab heimlich Französisch, Englisch und Italienisch trieb. Auf unsern österreichischen Gymnasien wurden die modernen Sprachen (wie gesagt) nicht obligatorisch gelehrt; ich ging zwar einmal in die italienische und viel später in eine französische Privatstunde, aber was ich da gewann, hätte eine Katze bequem auf dem Schwanze forttragen können. Wenn ich heute einige moderne Sprachen geläufig lesen kann, so verdanke ich das meiner heimlichen Leidenschaft. Ich ging ja allsonntäglich nach dem Trödelmarkte der Judenstadt und da kaufte ich mir eine englische und eine französische Grammatik; die italienische stibitzte ich einem meiner Brüder fort; mit Hilfe dieser Grammatiken und einiger Wörterbücher brachte ich es mit der Zeit so weit, daß ich Shakespeare, den älteren Dumas und Manzoni recht gut lesen konnte. Das waren freilich keine tollen Dinge. Aber in meinem fünfzehnten Jahre hatte ich auch Sanskrit und die Hieroglyphen zu studieren angefangen. Ich verschaffte mir ein gelehrtes Sanskritwerk und glaubte die letzten Welträtsel zu lösen, als ich mit angestrengtem Fleiße die heiligen Buchstaben nachmalte und die Paradigmen auswendig lernte. Ganz wertlos war freilich auch diese Mühe nicht für mich, da[98] ich dreißig Jahre später doch an manches mir Geläufige anknüpfen konnte, als ich – um Panini zu verstehen – ein bißchen Sanskrit ernsthaft treiben mußte. Und kurz vor meinem Abgange vom Piaristengymnasium lieh ich mir aus der königlichen Bibliothek Uhlemanns Ägyptologie, um mich im Hieroglyphenschreiben zu üben und Altägyptisch »sprechen« zu lernen. Das konnte ich aber nicht ganz heimlich anfangen. Ein Buch aus der königlichen Bibliothek bekam ich nur, wenn der Leihzettel vom Gymnasialdirektor unterschrieben war. Da wäre es mir beinahe schlecht gegangen. Als der Direktor in seiner »Zelle« den Zettel unterschreiben sollte, mochte ihm der Titel des Buches aufgefallen sein. Er buchstabierte: Ägyptologie. »Für wen willst du das Buch haben?« Ich antwortete ehrlich, das Buch wäre für mich selbst. Da zankte mich der Direktor so tüchtig aus, als es seine Faulheit nur irgend zuließ; ich sollte nicht lügen; noch niemals hätte ein sechzehnjähriger Bub so ein Buch verlangt; am Ende enthielte es gar heidnische Unsittlichkeiten. Aus Faulheit gab er mir doch seine Unterschrift.
Nicht nur dieser Botokude, auch andere Lehrer, meine Mitschüler und nicht zuletzt meine Nächsten fanden diese Beschäftigung mit schwer kontrollierbaren Philologien komisch, sobald ich mich nicht genug hütete und mein Geheimnis verriet. Vielleicht war ich aber in meiner diebischen Heimlichkeit auch allzu empfindlich; vielleicht witterte ich Verkennung, wo nur eine gutmütige Neckerei vorlag oder ein berechtigter Spott, wie ich ihn jetzt selbst übe. Übrigens wäre zu Spott noch mehr Veranlassung gewesen, wenn die Spötter nur gewußt hätten, mit wie übermäßigen Hoffnungen ich an diese Studien heranging; und wie führungslos[99] und oft hilflos ich auf diesen fremden Gebieten umherirrte. Ich versuchte sogar Chinesisch zu lernen; da gelangte ich aber nicht einmal an die allerersten Anfänge heran; das Zeichnen der Schrift wurde mir zu schwer.
Für solche Allotria hatte ich auf dem Kleinseitner Gymnasium keine Zeit mehr. Zwar die Stunden, die der weitere Weg kostete – der wundervolle Weg an der Teynkirche vorbei und am alten Rathaus, über den kleinen Ring und die Jesuitengasse, über die herrliche Nepomukbrücke und die untere Spornergasse – machten dem jungen Burschen nicht viel aus.
Aber die Zeit war gekommen; es war Mode in unserer Klasse, oder wenigstens in einem kleinen Kreise von Gleichgesinnten, sich zu verlieben und zu dichten. Ich schwärmte besonders für die Musikschülerinnen, die ich täglich auf meinem Schulwege traf; zwei oder drei von ihnen kannte ich persönlich, für die übrigen schwärmte ich noch viel ausgiebiger. Das Schwärmen war nicht zeitraubend, das Gedichtemachen desto mehr. Bei mir fing es damals ernsthaft an. Bis dahin hatte ich nur mit den tschechischen Kollegen um die Wette gereimt, um ihnen Hochachtung für die deutsche Sprache abzuzwingen. Auf den Einfall, dieses Ziel durch einen Hinweis auf Goethe zu erreichen, kam ich nicht. Außer diesen pädagogischen Sonetten hatte ich nur gelegentlich Epigramme geschmiedet. Jetzt aber wurde nicht mehr für die Kameraden gedichtet, sondern für die Unsterblichkeit. Man drückte noch die Schulbank, hatte sie noch für einige Jahre zu drücken, war aber der Mann, durch Verse die Welt zu erobern und nebenbei durch den Inhalt der Verse die Welt auf den Kopf zu stellen: die Könige und die Priester zu verjagen. Wir Dichter, Schauspieler und Weltverbesserer fanden uns aus verschiedenen[100] Klassen zusammen und gründeten einen heimlichen Verein.
Es war eine der ersten Enttäuschungen meines Lebens, die wahrscheinlich, die ich am schwersten trug, da ich erfahren sollte, daß es diesen Dichtern und Weltverbesserern, ja selbst den Schauspielern, nicht so heiliger Ernst um unsere Sache war, wie – ich muß es so sagen – wie mir. Zwei Dichter lasen einige kaum abgeänderte Gedichte von Bürger und sogar von Goethe als ihre eigenen Erzeugnisse vor; ertappt, behauptete einer, er habe unsere Belesenheit auf die Probe stellen wollen. Ein Schauspieler hatte einmal die Stirn, eine kleine Rolle, weil sie zu klein war, abzulehnen. Der Weltverbesserer tastete unser Vereinsvermögen an oder wurde doch dieser Tat verdächtigt; von 2 Gulden und 40 Kreuzern fehlte beinahe die Hälfte. Ich soll der Wildeste gewesen sein, wenn es galt, einen solchen »Ehrlosen« aus dem Verein zu entfernen. Immer wieder glaubte ich, jetzt wären wir Idealisten ganz unter uns; und immer wieder störten Realitäten.
Wir spielten Theater, tranken Bier und vergeudeten furchtbar viel Zeit. Auch gaben wir eine Zeitung heraus, die in der einzigen Handschrift, in welcher sie zu lesen war, noch heute in meinem Besitze ist. Es muß zum Schreien gewesen sein. Meine Darstellung des Mephisto gab zu Kritiken und Antikritiken Anlaß. Wir spielten für gewöhnlich nur solche Szenen, in welchen Männer allein auftraten, aus Schiller und Körner. Nur einmal, für das Stiftungsfest, wurde ein Akt der Jungfrau von Orleans einstudiert. Die Jungfrau wurde heiß umworben. Aber unsere Grundsätze duldeten nichts Ungebührliches; wenn doch etwas Ungebührliches passiert sein sollte, so müßte es gegen unsere Grundsätze passiert sein.[101]
Ich darf sagen, daß meine Grundsätze besonders rigoristisch waren und daß ich in diesem Vereine mit kindischer Altklugheit eine Weltfrage nach der andern zu lösen suchte. Meine freien Vorträge stürmten den Himmel und machten Eindruck, trotzdem ich ein elender Sprecher war (und geblieben bin); meine Beiträge für die Zeitschrift waren weise, phantastisch und dumm. Meine Kritiken der Theaterspielerei waren unerbittlich streng. Der den Liebhaber in Körners Zriny gespielt hatte, forderte mich einmal für eine solche Kritik; aber er schwankte so lange zwischen Pistolen und krummen Säbeln (Zriny!), daß die Sache gütlich beigelegt werden konnte.
Mein Interesse für den Verein nahm ein jähes Ende, als ich die Entdeckung machte, daß die meisten von uns ihre Beiträge für die Zeitschrift abgeschrieben hatten; sie stahlen wie die Raben; merkwürdig nur, daß sie immer so dummes Zeug stahlen. Ich verlangte ein furchtbares Gericht über die Schuldigen; und als ich meinen Willen gegen die Mehrheit nicht durchsetzen konnte, legte ich meine zahlreichen Ämter nieder und trat aus.
Ich hatte es ehrlich gemeint. Jetzt war ich wieder ganz einsam und dichtete im größten Stile drauf los. Auch übersetzte ich aus allen möglichen Sprachen. Daß ich Heines Lieder ins Altgriechische zu übersetzen versucht habe, ist schon berichtet worden; ich übersetzte aber auch den angeblich Homerischen Froschmäusler ins Deutsche und ganze Dramen von Sophokles. Ich übersetzte aus den modernen Sprachen, sobald ich das Original entziffern konnte. Ich übersetzte aus dem Sanskrit. Nur aus dem Ägyptischen übersetzte ich nicht; mich hielt wahrscheinlich ein guter Instinkt zurück.[102]
Doch ich dichtete auch selbständig; meine Vorbilder waren sicherlich, wenn ich aufmerksam zurückblicke, Byron und Lenau. Am weitesten gedieh ein großes phantastisches Epos »Merlin«; ich benützte die Legende, der berühmte Zauberer wäre der Sohn des Teufels und einer Nonne gewesen, zu einer verwegenen Komposition; Merlin war der Sohn der Nonne Maria und des unheiligen Geistes; Merlin war nach dem Willen des Schicksals auf die Welt gekommen, um das Christentum zu vernichten; seine Aufgabe scheitert daran, daß Merlin Jesus Christus lieben muß, sobald er ihn gesehen hat. Auch der Entwurf zu einem Drama »Ahasverus und Christus« stammt aus nicht viel späterer Zeit; das Drama war viel kirchenfeindlicher als das Epos; Ahasverus liebt und versteht Jesus tiefer und besser als die andern (ich werde wohl unbewußt von Goethe und von Hebbel allerlei angenommen haben); da er nach der Kreuzigung Zeuge wird, wie Petrus und Paulus um das geistige Gewand des Heilands würfeln, beschließt er aus eigener Kraft: so lange zu leben, bis das Christentum vernichtet ist.
Ich habe durchgeblättert, was von diesen und andern alten Plänen noch vorhanden ist; noch vorhanden, weil ich selten so ordnungsliebend war, wertlose Papiere ins Feuer zu werfen. Wertlos, ja; starke Anläufe wechseln mit platten Gemeinplätzen ab, kühne Gedanken mit elenden Geistreichigkeiten; und dichterische Gestaltungskraft fehlt vielleicht. Und dennoch: wenn ich einen verständigen Lehrer gehabt hätte, wenn ich in meinem achtzehnten Jahre einem Lehrer mich hätte anvertrauen dürfen, ihm diese Entwürfe zeigen dürfen, der Mann hätte sagen müssen: dieser Bursche gehört nicht mehr auf die Schulbank.[103]
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»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«
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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
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