XI. Übergang.

[104] Meine Sehnsucht nach dem Besuche der Universität war so tief, meine Erwartungen waren so groß, daß ich meine Geistesverfassung einem Leser aus der heutigen nüchternen Welt kaum begreiflich machen kann. Auf der Schule durfte ich ja im deutschen Aufsatze meinem Herzen nicht Luft machen; denn über dem deutschen Aufsatze lag der religiöse Zwang. Ich wurde schon getadelt, wenn ich pantheistische Anwandlungen verriet. Ich aber war schon seit meinem fünfzehnten Jahre in die Pubertätszeit eines kriegerischen Atheismus eingetreten. Der liebe Gott war mein persönlicher Feind geworden. Dazu kam nach dem Kriege ein politischer Radikalismus von bedenklicher Röte. Irgendwo hatte ich den Satz aufgeschnappt, man müßte den letzten König an den Gedärmen des letzten Pfaffen aufhängen; ich beneidete den unbekannten Präger dieses Spruches. Ich wollte vom Fleck weg mit der Umwälzung anfangen und fühlte doch, daß ich das erst als richtiger Student tun konnte. Mit herzbrechendem Neide sah ich auf die jungen Leute, die schon rote oder grüne Mützen trugen und in dem alten Universitätsgebäude, welches ich oft in der Dunkelheit umschlich, die Wahrheit kennen lernten, die heilige und unentweihte Wissenschaft, die man uns vorenthielt. Diese Studenten sah ich im Geiste allabendlich nach der Kneipe laufen, um dort[104] nichts anderes zu tun, als Schwüre ablegen für Pfaffenausrottung und Tyrannenkampf. Hie und da, wenn so ein Student es nicht sehen konnte, nahm ich andächtig die Mütze vor ihm ab. Und mit Erbitterung ahnte ich es, daß ich die verlorenen Jahre niemals würde einholen können, daß ich zu spät in den Tempel der Wahrheit eintreten würde.

»Zu spät. Es wird mir so gehen, wie es mir mit dem ersehnten Kleinseitner Gymnasium ergangen ist. Ich komme immer zu spät. Und darum fühle ich mich jetzt auf der Schule so unglücklich, die ich mir doch erwählt habe.«

Die Schulkameraden und die meisten Lehrer trugen keine Schuld an meiner unglücklichen Stimmung. Sie waren eigentlich sehr lieb zu mir. Ich bildete mir sogar ein, daß ich eine Art von Ausnahmestellung in der Klasse hatte. Meine griechischen Heinelieder gingen von Hand zu Hand, und nachdem das erste Mißtrauen überwunden war – daß ich nämlich ebenso abschrieb wie andere Schöngeister der höheren Klassen –, da bekam ich als Anerkennung einige wohlwollende Spitznamen. Meine Schülereitelkeit wurde auch sonst vollauf befriedigt; daher konnte meine Stimmung nicht kommen. Etwas Weltschmerz der Entwicklungsjahre war natürlich dabei. Aber das Schlimmste war doch die ewige Sorge: ich würde zu spät auf die Universität kommen, wie ich immer zu spät gekommen war. Sicherlich behandelte ich mich zu liebevoll und beschönigte meine Unfähigkeit, mich allen Ansprüchen der Schule zu fügen, mit dem alten Unrecht, das in der Klippschule an mir verübt worden war. Aber die Empfindung und die Sorge waren nicht unberechtigt. Immer klarer wurde mir, daß ein ähnliches Verbrechen wie das, unter welchem[105] ich noch litt, an allen begabten Gymnasiasten mehr oder weniger begangen wurde. Die Aufgabe der Schule war für Durchschnittschüler berechnet und wurde noch viel kleiner, damit auch solche mitkommen konnten, die unter dem Durchschnitt waren. Und keine Möglichkeit, auf Grund hervorragender Leistungen auch nur ein Jahr zu überspringen.

Ich war sehr lang aufgeschossen, hatte schon ein schwarzes Schnurrbärtchen und hatte immer noch nichts für die Unsterblichkeit getan; ich hatte nämlich meine Maturitätsprüfung noch nicht abgelegt. Als das endlich und doch ganz pünktlich im Sommer 1869 geschehen war, ganz ehrenvoll übrigens, hatte ich das Gefühl eines Mannes, der unschuldig im Kerker gesessen hat und zu spät seine Freiheit wiederbekommt. Und nicht einmal meine Freiheit erhielt ich; denn ich durfte die Universität nur besuchen, um Jura zu studieren und Advokat zu werden. Die Wahl eines freien Berufes galt für den Sohn einer achtbaren Familie für unmöglich. Eine Neigung haben? Warum nicht. Ihr folgen? Um in der Gosse zu krepieren. Ich konnte mich als ein freier Schriftsteller schon auf ganz hübsche Erfolge berufen, als die stilleren oder lauteren Vorwürfe über meinen ungehörigen Beruf noch nicht aufhörten. Selbst von seiten meiner lieben Mutter nicht, die doch sonst oft sagte, die Bücher wären ihre einzigen Freunde und Tröster.

Das Kriegsjahr hatte meinem Vater sein ganzes bescheidenes Vermögen gekostet; der Bankerott von Verwandten, denen er vertraut hatte, nahm ihm alles außer der kaufmännischen Ehre. Meine älteren Brüder waren auch schon ohne jede Unterstützung in die Welt hinausgegangen, um sich selbst eine Stellung zu erkämpfen.[106] Mein Vater erholte sich von dem Schlage nicht wieder; er wurde krank. Nun war es ganz gerecht von ihm, daß er die Erlaubnis, ich dürfte studieren, wieder zurücknahm und mich dazu bringen wollte, ebenfalls Kaufmann zu werden und sofort als Kommis mein Brot zu verdienen. Mein passiver Widerstand hätte mir diesmal nicht viel geholfen. Aber meine Mutter und meine Schwester Marie, die meine literarischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten oder Neigungen sehr hoch einschätzten, nahmen sich meiner an; der Familienbeschluß, daß ich weiter studieren und Rechtsanwalt werden sollte, war also ein Kompromiß zwischen der Notlage meines Vaters und meinen Wünschen. Ich hätte sehr dankbar sein müssen, wenn auch der Beruf eines Rechtsanwalts mir just damals noch weniger ideal erschien als der eines Kaufmanns und ich »den Flügelschlag einer freien Seele« sehr laut rauschen hörte. Aber ich war nicht dankbar und nicht ehrlich; ich dachte nicht einen Augenblick daran, Advokat zu werden. Doch die Hauptsache schien gewonnen; das freie akademische Studium für die nächsten Jahre. Nur daß bei meiner Naturanlage der Betrug gegen meinen Vater schwer auf mir lastete; und daß ich die Pflicht fühlte – wie später als Journalist so lange – ein Doppelleben zu führen, doppelte Arbeit zu leisten: Jura zu studieren und daneben mit ganzer Kraft Philosophie und Kunstgeschichte und Medizin und leider auch Theologie. Die juristischen Fächer mußte ich belegen, die Professoren mußte ich hören, wenn ich nicht nach dem vierten Semester beim rechtshistorischen Staatsexamen durchfallen wollte. So marterte mich der mir aufgezwungene Beruf vom ersten Tage an und ich geriet immer tiefer in einen ziemlich individuellen[107] Weltschmerz hinein. Als ich etwa drei Jahre später Schopenhauer kennenlernte, überwältigte mich sein Scharfsinn und seine Sprachkraft; aber sein Weltschmerz bot mir nichts Neues. Ich war als ein fast zwölfjähriger Knabe auf das Gymnasium gekommen mit den Zielen eines idealen Studenten; ich kam jetzt als ein fast zwanzigjähriger Mensch auf die Universität als ein Pessimist, als ein Zerrissener, als ein Nihilist.

Bevor ich aber meine Erinnerungen an die Prager Universität – eine andere habe ich als Student nicht kennengelernt – niederschreibe, möchte ich einige ganz besondere Erfahrungen meiner Schulzeit im Zusammenhange aufhellen; meine Stellung zur Religion und zu der nationalen Frage stellte mich abseits von dem, was ein christlicher Deutscher in seiner Schulzeit zu erleben pflegt. Meine Darstellung wird dadurch nicht typischer werden, aber persönlicher.

Vorher noch ein Wort darüber, warum ich auch die Disziplin des Heeres nicht kennengelernt habe: warum ich nicht Soldat wurde, auch nicht Einjähriger. Eine allgemeine Wehrpflicht wie in Preußen hatte es in Österreich nicht gegeben; bei der Rekrutierung entschied zuletzt das Los, und die Söhne reicher Leute konnten sich vom allgemein gehaßten Militärdienste gesetzlich loskaufen, ganz abgesehen von den zahlreichen Fällen, in denen per nefas eine Befreiung erzielt wurde. Nach dem für Österreich unglücklichen Kriege von 1866 wurden die preußischen Einrichtungen nachgemacht. Gerade in meinem zwanzigsten Jahre, kurz vor meiner Maturitätsprüfung, wurde auch das Institut der Einjährig-Freiwilligen eingeführt. Wir freuten uns, die Pioniere der neuen Zeit zu sein, wir freuten uns auf die schmucke Uniform und meldeten uns alle, etwa fünfunddreißig[108] Burschen, bei dem gleichen Regimente, welches – ich weiß nicht mehr warum – uns das liebste war. Da kamen wir aber schön an; der Bericht wird preußischen Lesern seltsam erscheinen. Der Oberst war kein Freund von Neuerungen und erklärte einfach, er wollte in seinem Regimente keinen Einjährigen haben. Da aber mit dem Gesetze nicht zu spaßen war, so erklärte sein Militärarzt uns fünfunddreißig Burschen alle miteinander für untauglich, auch die kräftigsten unter uns. Ich muß bekennen, daß meine Untauglichkeit auf Grund eines körperlichen Gebrechens festgestellt wurde: mein rechtes Bein ist noch länger als das linke. Ich war immer ein sehr guter Fußgänger gewesen; aber der Arzt hatte wohl recht, wenn er behauptete, ich würde nicht gerade schön in Reih und Glied marschieren können.

Wir beruhigten uns bald bei dem Bescheide. Nur ein einziger von uns hatte die Energie, oder sein Vater hatte die Eitelkeit, den Eintritt bei einem andern Regimente durchzusetzen. Der arme schwächliche Junge wurde Leutnant, machte die Okkupation von Bosnien mit und starb dort am Typhus.[109]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 104-110.
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