3. Von der Dunkelheit

[33] Man liest im Evangelium, als unser Herr zwölf Jahre alt war, da ging er mit Maria und Joseph nach Jerusalem in den Tempel, und als sie von dannen gingen, da blieb Jesus im Tempel, ohne dass sie es wussten, und als sie nach Hause kamen und ihn vermissten, suchten sie ihn unter den Bekannten und Unbekannten und unter den Verwandten und in der Menge und fanden ihn nirgends, sie hatten ihn in der Menge verloren und mussten daher wieder hingehen, von wo sie gekommen waren, und als sie wieder an den Anfang kamen, in den Tempel, da fanden sie ihn.

So ist es in Wahrheit; willst du diese edle Geburt finden, so musst du alle Menge verlassen und musst zum Anfang zurückkehren und in den Urgrund, von dem du ausgegangen bist. Alle Kräfte der Seele und ihr Werk sind bloss Menge; Gedächtnis, Verstand und Wille vermannigfaltigen sich alle, darum musst du sie alle[33] lassen: Sinnlichkeit, Vorstellungen und alles, worin du dich selbst findest oder suchst. Dann kannst du diese Geburt finden, aber sonst wahrlich nicht. Er ward nie unter Freunden oder Verwandten und Bekannten gefunden, vielmehr verliert man ihn da völlig.

Darum haben wir eine Frage hierüber: ob der Mensch diese Geburt etwa finden könne in etlichen Dingen, die zwar göttlich sind, aber von aussen hineingetragen durch die Sinne, wie einige Vorstellungen von Gott, zum Beispiel, dass Gott gut, weise, barmherzig oder etwas dergleichen ist, was die Vernunft schöpfen kann und was auch göttlich ist: ob man in all diesem diese Geburt etwa finden könne? In Wahrheit, nein! Obwohl das alles gut und göttlich ist, ist es doch alles von aussen durch die Sinne hineingetragen worden: es muss alles von innen auf von Gott herausquellen, wenn diese Geburt eigen und rein hineinleuchten soll, und all dein Werk muss sich hinlegen und all deine Kräfte müssen den seinen dienen und nicht den deinen. Soll dies Werk vollkommen sein, so muss es Gott allein wirken, und du darfst es allein empfangen. Wo du mit deinem Willen und deinem Wissen wahrhaft ausgehst, da gellt Gott wahrhaft und willig mit seinem Wissen ein und leuchtet da in Klarheit. Wo sich Gott aber wissen will, da kann dein Wissen[34] nicht bestehen und zu nichts dienen. Du brauchst nicht zu wähnen, deine Vernunft könne noch so wachsen, dass du Gott erkennen könntest, sondern wenn Gott in dir göttlich leuchten soll, dazu fördert dich ein natürliches Licht keineswegs, es muss vielmehr zu lauter Nichts werden und völlig ausgehen; und dann kann Gott mit seinem Licht hineinleuchten und bringt all das mit sich, das dir allsgegangen ist, und tausendfach mehr, und eine neue Form dazu, die alles in sich schliesst.

Nun könntest du sagen: »Wahrlich, Herr, was soll dann meine Vernunft, wenn sie so untätig stehn muss ohne alles Wirken? Ist das der nächste Weg, dass ich mein Bewusstsein zu einer unerkannten Erkenntnis erhebe, die es doch nicht geben kann? Denn erkennte ich etwas, so wäre es nicht Unerkanntheit und wäre nicht frei und losgelöst: soll ich denn ganz und gar in Dunkelheit stehen?« Ja gewiss, du wirst nie besser stehn können als wenn du dich völlig in Dunkelheit und Unwissen setzest. »Ach, Herr, muss ich alles abtun, lässt sich das gar nicht wenden?« Nein, wahrhaftig, das lässt sich wirklich nicht wenden. »Was ist aber diese Dunkelheit, wie heisst sie oder wie ist ihr Name?« Ihr Name ist lediglich: Möglichkeit des Empfangens, das der seienden Dinge nicht bedürftig ist und[35] dahin sollst du gebracht werden. Und das lässt sich nicht ändern. Wie die Materie nicht ruhet, bis sie mit allen Formen erfüllt ist, so ruht auch die Vernunft nimmer, bis sie erfüllt ist mit allem, was in ihr möglich ist.

Es spricht ein heidnischer Meister: Die Natur hat nichts, was rascher wäre als der Himmel, der überrascht alle Dinge mit seinem Lauf. Aber sicherlich! des Menschen Bewusstsein überrascht ihn noch mit seinem Lauf. Bliebe es in seinem Vermögen wirksam und hielte es sich unverhöhnt und unzerrissen von niedern und groben Dingen, es flöge höher als der höchste Himmel und liesse nimmer ab, es käme in das Allerhöchste und würde da gespeist und geführt von dem allerbesten Gut, das Gott ist.

Und darum ist es nützlich, dieser Möglichkeit nachzufolgen, und sich frei und losgelöst zu halten, und allein dieser Dunkelheit und diesem Unwissen nachzufolgen und nachzuhängen und nachzuspüren und nicht davon abzulassen, so ist es dir wohl möglich, den zu erreichen, der alle Dinge ist. Und je mehr in dir selbst Wüste ist und Unwissenheit aller Dinge, je näher kommst du diesem. Von dieser Wüste steht bei Jeremias geschrieben: »Ich will meine Freundin in die Wüste führen und in ihrem Herzen mit ihr sprechen.« Das wahre Wort der Ewigkeit wird[36] allein in der Ewigkeit ausgesprochen, wo der Mensch Wüste ist und seiner selbst und aller Mannigfaltigkeit entfremdet. Nach dieser Wüste und Fremde begehrte der Prophet, als er sprach: »Ach, wer gibt mir Flügel wie die Taube hat, auf dass ich fliegen könnte, wo ich Ruhe finde?« Wo findet man Ruhe und Rast? Wahrlich, da wo man aller kreatürlichen Dinge entworfen und entwüstet und entfremdet ist. In diesem Sinne sagt David: »Ich erwählte lieber, verworfen und verschmäht zu sein im Haus meines Gottes, als grosse Ehren und Reichtum zu haben in der Taberne der Sünder.«

Nun könntest du sagen: »Fürwahr, Herr, muss das immer und notwendig so sein, dass man aller Dinge entfremdet und zerwüstet ist, äusserlich und innerlich, der Kräfte und ihrer Werke, muss das alles hinab? Das ist ein schwerer Stand, wenn Gott den Menschen so ohne seinen Aufenthalt lässt, wenn Gott der Menschen Verlassenheit so dehnt, dass er nicht in ihm ist, leuchtend oder zusprechend oder wirkend, wie Ihr hier lehret und meinet. Wenn der Mensch so in lauter Nichts steht, ist es dann nicht besser, dass er etwas tue, um diese Dunkelheit und Entfremdung zu vertreiben, zum Beispiel, dass er bete oder lese oder eine Predigt höre oder andere Werke tue, was doch Tugenden sind, mit[37] denen man sich helfen soll?« Nein, das sollst du in Wahrheit wissen: ganz und sehr stille und ganz und gar leer zu verharren ist dein allerbestes. Das merke. Ohne Schaden kannst du dich nicht wieder irgend zu Dingen wenden. Das ist sicher: du wärest gern bereit, ein Teil von dir und ein Teil von ihm, das aber kann nicht sein. Du kannst des Bereitseins nicht einmal denken oder begehren, wenn nicht Gott vorher, da ist. Gesetzt aber, es sei geteilt, das Bereitsein und das Wirken oder Eingiessen sei dein und sein, was ja möglich ist, so musst du wissen, dass Gott wirken und eingiessen muss, sobald er dich bereit findet. Du darfst nicht wähnen, es sei mit Gott wie mit der Person eines Zimmermanns, der wirkt und nicht wirkt wie er will, es steht in seinem Willen, wie er Lust hat zu tun und zu lassen. So steht es aber nicht um Gott: sondern wenn Gott dich bereit findet, so muss er wirken und sich in dich ergiessen, ebenso wie wenn die Luft lauter und rein ist, die Sonne sich ergiessen muss und sich dessen nicht enthalten kann. Fürwahr, es wäre ein arg grosser Fehler an Gott, wenn er nicht grosse Werke in dich wirkte und grosses Gut in dich gösse, sowie er dich frei und entblösst findet.

Es lehren uns die Meister, dass in demselben Moment, wo die Materie des Kindes im[38] Mutterleib bereit ist, in demselben Augenblick giesst Gott in den Leib den lebendigen Geist, das heisst die Seele, die des Leibes Form ist. Es ist ein Augenblick bereit zu sein und einzugiessen. Wenn die Natur auf ihr Höchstes kommt, so tritt Gottes Gnade ein: in demselben Moment, wo der Geist bereit ist, geht Gott hinein ohne Aufschub und ohne Zögern. Im Buch der Geheimnisse steht geschrieben, dass unser Herr dem Volke entbot: »Ich stehe vor der Tür und klopfe und warte, wer mich einlässt, mit dem will ich schmausen.« Du brauchst ihn nicht zu suchen, nicht da und nicht dort: er ist nicht entfernter als vor der Türe des Herzens, da steht er und harrt und wartet, wen er bereit findet, der ihm auftue und ihn einlasse. Du brauchst ihn nicht in der Ferne zu rufen: ihn kommt das Warten, bis du auftust, härter an als dich. Er bedarf deiner tausendmal mehr als du seiner: das Auftun und das Hineingehen ist nur ein Moment.

Nun könntest du fragen: Wie kann das sein? Ich empfinde ihn doch nicht. Nun pass auf. Das Empfinden ist nicht in deiner Gewalt, sondern in seiner. So es ihm ansteht, so zeigt er sich, und kann sich verbergen, so er will. Das musst du wissen: Gott kann nichts leer oder hohl lassen; dass irgend das geringste leer oder hohl[39] sei, das kann der Naturgott nicht leiden. Darum, wenn es dich dünkt, du fändest ihn nicht und er sei nicht in dir, dem ist nicht so. Denn wäre irgend etwas leer unterm Himmel, es wäre was es wollte, gross oder klein, so zöge es entweder der Himmel zu sich hinauf, oder er müsste sich herniederneigen und den Himmel hineingiessen. Gott, der Meister der Natur, leidet es durchaus nicht, dass irgend etwas leer sei. Darum steh still und wanke nicht, denn du kannst dich zur Stunde von Gott abwenden und kommst dann nimmermehr zu ihm.

Du könntest fragen: Soll der Mensch sich kasteien, und versäumt er etwas, wenn er sich nicht in der Busse übt? Höre. Alles Bussleben ist neben andern Ursachen darum erfunden, sei es nun Fasten, Wachen, Beten, Geisseln, härene Hemden tragen, hart liegen oder was sonst immer, das ist alles darum erdacht, weil der Leib und das Fleisch sich allezeit dem Geist entgegengestellt. Der Leib ist ihm viel zu stark, ein richtiger Kampf ist immerzu unter ihnen, ein ewiger Streit. Der Leib ist hier kühn und stark, denn er ist hier zu Hause, die Welt hilft ihm, die Erde ist sein Vaterland, ihm helfen hier alle seine Verwandten: die Speise, der Trank, die Schönheit: das ist alles gegen den Geist. Der Geist ist hier fremd, aber im Himmel sind[40] alle seine Verwandten und sein ganzes Geschlecht: da ist er gar heimisch. Um dem Geist zu Hilfe zu kommen in dieser Fremde und das Fleisch etwas zu schwächen in diesem Streit, damit der Leib den Geist nicht überwindet, darum tut man ihn den Zaum der Bussübungen an und darum bedrückt man ihn, damit der Geist sich seiner erwehren könne. Da man ihm das tut, damit er ein Gefangener sei, so lege ihm, wenn du ihn tausendmal besser fangen und beladen willst, den Zaum der Liebe an. Mit der Liebe überwindest du ihn am allerschnellsten und mit der Liebe belädst du ihn am stärksten. Und darum stellt uns Gott mit keinen Dingen so sehr nach, wie mit der Liebe. Denn mit der Liebe geht es just ebenso, wie mit der Angel des Fischers. Der Fischer kann den Fisch nicht erhalten, wenn der sich nicht an der Angel fängt. Wenn er nach der Angel schnappt, dann ist der Fischer seiner sicher: wohin sich der Fisch dann wendet, hin oder her, der Fischer hat ihn ganz sicher. So spreche ich auch von der Liebe: wer von ihr gefangen wird, der hat das allerstärkste Band und doch eine süsse Bürde. Wer diese süsse Bürde auf sich genommen hat, der erreicht damit mehr und kommt weiter damit als mit all der Busse und Strenge, die je Menschen üben könnten. Er kann auch sanft und geduldig alles[41] tragen und leiden, was ihn trifft und was Gott über ihn verhängt. Nichts macht dich Gott so eigen, und durch nichts wird Gott dir so eigen als durch dieses süsse Band. Wer diesen Weg gefunden hat, der suche keinen andern. Wer an dieser Angel haftet, der ist so gefangen, dass der Fuss und die Hand, der Mund, die Augen, das Herz und alles was am Menschen ist, das muss alles Gott zu eigen sein. Und darum kannst du diesen Feind niemals besser überwinden, dass er dir nicht schade, als mit der Liebe. Wer in diesem Stricke gefangen ist und in diesem Wege wandelt, welch Werk er immer wirke, das wirkt die Liebe. Seine Ruhe ist besser als eines andern Wirken. Darum warte allein auf diese Angel, so wirst du selig gefangen, und je mehr gefangen desto mehr befreit. Dass wir so gefangen und befreit werden, dazu verhelfe uns der, der selber die Liebe ist. Amen.[42]

Quelle:
Meister Eckharts mystische Schriften. Berlin 1903, S. 33-43.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Fantasiestücke in Callots Manier

Fantasiestücke in Callots Manier

Als E.T.A. Hoffmann 1813 in Bamberg Arbeiten des französischen Kupferstechers Jacques Callot sieht, fühlt er sich unmittelbar hingezogen zu diesen »sonderbaren, fantastischen Blättern« und widmet ihrem Schöpfer die einleitende Hommage seiner ersten Buchveröffentlichung, mit der ihm 1814 der Durchbruch als Dichter gelingt. Enthalten sind u.a. diese Erzählungen: Ritter Gluck, Don Juan, Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza, Der Magnetiseur, Der goldne Topf, Die Abenteuer der Silvester-Nacht

282 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon