[34] Der König sprach: »Meister Nāgasena, ist der, welcher entsteht, derselbe (wie vorher) oder ein anderer?70«
Der Senior sprach: »Weder derselbe noch ein anderer.«
»Gib ein Gleichnis.«
»Nun, was meinst du, Grosskönig: als du ein kleines Kind warst, jung, zart, ohne Kenntnis von der Welt, warst du da derselbe wie jetzt, da du gross bist?«
»Nein, Meister. Verschieden ist jenes junge, zarte, unwissende Kindlein von mir, dem Erwachsenen.«
»Wenn es so ist, Grosskönig, so hast du (der hier vor mir steht) also keine Mutter gehabt, keinen Vater, keinen Lehrer, so hast du keine Schule durchgemacht, bist nicht in der Moral und nicht in der Weisheit unterwiesen worden! Wie, Grosskönig? Hat der Embryo im ersten Stadium eine andere Mutter als im zweiten, hat er im dritten Stadium eine andere und[35] im vierten Stadium wieder eine andere Mutter? Ist die Mutter des kleinen Kindes eine andere als die des Erwachsenen? Ist es ein anderer, der die Schule besucht, und ein anderer, der aus ihr entlassen wird? Ist der Verbrecher verschieden von dem, der durch Hand- oder Fussabhauen für das Verbrechen bestraft wird?«
»Gewiss nicht, Meister. Aber wie würdest denn du, Meister, dieses erklären?«
Der Senior sprach: »Ich, o Grosskönig, war jenes junge, zarte, unwissende Kindlein, und ich bin jetzt der Erwachsene. Denn mit Hinblick auf75 diesen (ohne Unterbrechung fortbestehenden) Körper werden (im Denken) alle jene (Stadien) zu einer Einheit verbunden.«
»Gib mir ein Bild.«
»Stelle dir vor, Grosskönig, dass jemand eine Lampe anzündet: könnte diese wohl die ganze Nacht durchbrennen?«
»Freilich, Meister, das könnte sie.«
»Wie nun, Grosskönig: ist die Flamme in der ersten Nachtzeit dieselbe wie die in der mittleren Nachtzeit?«
»Nein, Meister.«
»Und die in der mittleren Nachtzeit dieselbe wie die in der letzten Nachtzeit?«
»Nein, Meister.«
»Wie denn, Grosskönig: war es eine andere Lampe, die in der ersten, eine andere, die in der mittleren, und eine andere, die in der letzten Nachtzeit brannte?«
»Nein, Meister. An dieselbe Lampe gebunden75 hat das Licht die ganze Nacht durch gebrannt.«
»In derselben Weise, Grosskönig, erneuert sich[36] die Existenz (wörtlich ›Fortdauer‹) der Wesen und Dinge71. Ein anderer entsteht, ein anderer vergeht. Ohne Pause erneuert sie sich72, und so gelangt weder als derselbe noch als ein anderer der Mensch bis zu seinem letzten Bewusstseinsakt.«73
»Gib noch ein Bild.«
»Es ist hiermit wie mit Milch, die, nachdem sie einmal der Kuh entnommen ist, nach einiger Zeit zuerst zu Setzmilch wird, dann von Setzmilch zu Butter sich umwandelt und darauf von Butter in Ghrita74. Wenn nun, Grosskönig, jemand so spräche: ›Die Milch ist ein und dasselbe wie die Setzmilch, wie die Butter und wie das Ghrita,‹ könnte man dem wohl recht geben?«
»Nein, Meister. In Abhängigkeit von75 jener ist dieses entstanden (wäre die richtige Antwort).«
»In derselben Weise, Grosskönig, erneuert sich die Existenz der Wesen und Dinge. Ein anderer entsteht, ein anderer vergeht. Ohne Pause erneuert sie sich, und so gelangt weder als derselbe noch als ein anderer der Mensch bis zu seinem letzten Bewusstseinsakt.«
»Gut, Meister Nāgasena.«
2. Der König sprach: »Meister Nāgasena, wer nicht wiedergeboren wird, weiss der, dass er nicht wiedergeboren wird?«
»Freilich, Grosskönig.«
»Wie kann er das wissen, Meister?«
»Daraus, dass die nähere sowohl wie die entferntere Ursache des Wiedergeborenwerdens76 bei ihm[37] zu existieren aufgehört hat, erkennt er, dass er nicht wiedergeboren werden wird.« »Gib ein Gleichnis.«
»Wenn, o Grosskönig, ein Ackerbau treibender Hausherr pflügt und sät und seinen Kornboden füllt und darauf eine Zeit lang weder pflügt noch sät, sondern von dem aufgespeicherten Getreide lebt, es fortgibt oder nach Bedarf damit wirtschaftet: würde wohl, Grosskönig, dieser Ackerbau treibende Hausherr merken, dass sein Kornboden nicht voll wird?«
»Freilich, Meister, das würde er merken.«
»Woran würde er es merken?«
»Daran, dass die nähere und die entferntere Ursache77, durch die sein Kornboden sich füllte, zu wirken aufgehört hat.«
»Gerade so, Grosskönig, erkennt man, dass man nicht wiedergeboren wird, daran, dass die nähere und die entferntere Ursache des Wiedergeborenwerdens aufgehört hat.«
»Gut, Meister Nāgasena.«
3. Der König sprach: »Meister Nāgasena, hat derjenige, welcher Vernunft hat, auch Einsicht?«78
»Ja, Grosskönig.«
»Wie, Meister? Sind Vernunft und Einsicht dasselbe?«
»Ja, Grosskönig,«
»Wenn nun, Meister, jemand Vernunft und, was dasselbe ist, Einsicht hat, kann der noch fehlgehen oder nicht?«
»In einer Hinsicht, o Grosskönig, kann er fehlgehen, in einer anderen nicht.«
»Worin könnte er fehlgehen, Meister?«[38]
»Er könnte sich irren in Künsten, die er nicht gelernt hat, oder mit Bezug auf eine Gegend, die er bisher nicht gesehen hat, oder bei Namen und Ausdrücken, die ihm neu sind.«
»Und worin könnte er nicht fehlgehen?«
»In dem, Grosskönig, was durch jene Einsicht bewirkt worden ist: in der Erkenntnis der Vergänglichkeit, des Leidens und der Wesenlosigkeit.69«
»Und was wird aus seiner falschen Ansicht79 (betreffs dieser Punkte)?«
»Die falsche Ansicht, Grosskönig, geht in dem Augenblick, wo die Vernunft aufkommt, in dieser zugrunde.«
»Gib mir ein Gleichnis.«
»Gleichwie, o Grosskönig, jemand in ein dunkles Zimmer eine Lampe bringt und infolgedessen die Finsternis schwindet und Licht erscheint: geradeso, Grosskönig, geht in dem Augenblick, wo die Vernunft aufkommt, der Wahn zugrunde.«
»Und was wird aus seiner Einsicht, Meister?«
»Wenn die Einsicht, Grosskönig, ihre Wirkung getan hat, so schwindet auch sie. Aber was durch jene Einsicht bewirkt worden ist: die Erkenntnis der Vergänglichkeit, des Leidens und der Wesenlosigkeit, das schwindet nicht.«
»Meister Nāgasena, gib mir ein Gleichnis für das, was du da sagst: dass die Einsicht, wenn sie ihre Wirkung getan, schwindet, dass aber das, was jene Einsicht gewirkt hat: die Erkenntnis der Vergänglichkeit, des Leidens und der Wesenlosigkeit, nicht schwindet.«
»Denke dir, Grosskönig, es käme jemand bei[39] Nacht auf den Gedanken, einen Brief zu schreiben. Er lässt seinen Sekretär rufen, die Lampe anzünden und diktiert den Brief, und, nachdem der Brief beendigt, lässt er die Lampe löschen. Wie nun, obwohl die Lampe ausgelöscht ist, der Brief bestehen bleibt: ebenso, Grosskönig, schwindet zwar die Einsicht, nachdem sie ihre Wirkung getan, aber was durch sie bewirkt worden ist: die Erkenntnis der Vergänglichkeit, des Leidens und der Wesenlosigkeit, das schwindet nicht.«
»Gib noch ein Gleichnis.«
»In den Ländern des Ostens, Grosskönig, haben die Bauern die Gewohnheit, vor jedem Hause fünf Töpfe Wasser gefüllt zu halten, um ein ausbrechendes Feuer gleich unterdrücken zu können. Denke dir nun, der Brand wäre ausgebrochen, und es seien die fünf Töpfe Wasser darauf entleert und das Feuer dadurch gelöscht worden: würden da wohl, Grosskönig, die Leute daran denken, noch weiter mit den Töpfen zu hantieren?«
»Nein, Meister. Sie würden die Töpfe fortstellen. Was sollen sie noch mit den Töpfen?«
»Die fünf Töpfe Wasser, Grosskönig, sind die fünf moralischen Kräfte: die Kraft des Glaubens, der Ausdauer, des ernsten Denkens, der Konzentration und der Einsicht; den Bauern ist der Religionsbeflissene zu vergleichen und dem Feuer die Fehler (Sünden). Wie durch die fünf Töpfe Wasser das Feuer gelöscht wird, so werden durch die fünf moralischen Kräfte die Fehler getilgt, und sind diese einmal getilgt, so erscheinen sie nicht wieder. Ebenso, Grosskönig, schwindet zwar die Einsicht, nachdem sie ihr Werk getan, aber was durch die[40] Einsicht bewirkt worden ist: die Erkenntnis der Vergänglichkeit, des Leidens und der Wesenlosigkeit, das schwindet nicht.«
»Gib noch ein Gleichnis.«
»Es ist hiermit, Grosskönig, wie mit einem Arzte, der, mit den fünf Hauptarzneimitteln versehen, zu einem Kranken sich begibt, die Arzneimittel zerreibt und sie dem Kranken zu trinken gibt. Wenn nun hierdurch die Krankheit verschwindet, würde es da wohl dem Arzte einfallen, noch weiter die Arzneimittel anzuwenden?«
»Nein, Meister. Sie haben ja ihre Wirkung getan! Wozu soll er sie noch anwenden?«
»Den fünf Hauptarzneimitteln, Grosskönig, sind die fünf moralischen Kräfte zu vergleichen: die Kraft des Glaubens, der Ausdauer, des ernsten Denkens, der Konzentration und der Einsicht; dem Arzte der Religionsbeflissene; der Krankheit die Fehler; dem Kranken der Weltmensch (gewöhnliche Mensch). Gleichwie durch die fünf Hauptarzneimittel die Defekte des Kranken beseitigt worden sind und der Kranke nunmehr gesund geworden ist: ebenso werden durch die fünf moralischen Kräfte die Fehler beseitigt, so dass sie nicht wiederkommen, und so auch, Grosskönig, schwindet zwar die Einsicht da, wo sie ihr Werk getan hat, aber was durch jene Einsicht erreicht worden ist: die Erkenntnis der Unbeständigkeit, des Leidens und der Wesenlosigkeit, das bleibt bestehen.«
»Gib noch ein Gleichnis.«
»Es ist hiermit wie mit einem schlachtenkundigen Krieger, der fünf Wurfspiesse nimmt und in die[41] Schlacht zieht, um das feindliche Heer zu besiegen. Würde wohl ein solcher, nachdem er seine fünf Speere geworfen hat und nachdem das feindliche Heer geschlagen ist, daran denken, nochmals die fünf Wurfspiesse zu gebrauchen?«
»Nein, Meister. Sie haben ja ihre Wirkung getan! Wozu sollen sie ihm noch dienen?«
»Den fünf Wurfspiessen, Grosskönig, sind die fünf moralischen Kräfte: die Kraft des Glaubens, der Ausdauer, des ernsten Denkens, der Konzentration und der Einsicht, zu vergleichen; dem schlachtenkundigen Krieger der Religionsbeflissene; dem feindlichen Heere die Fehler. Wie durch die fünf Wurfspiesse das feindliche Heer, so werden durch die fünf moralischen Kräfte die Fehler überwunden, und sind die Fehler einmal vernichtet, so erscheinen sie nicht wieder. Und so auch, Grosskönig, schwindet zwar die Einsicht da, wo sie ihr Werk getan hat, aber was durch jene Einsicht erreicht worden ist: die Erkenntnis der Unbeständigkeit, des Leidens und der Wesenlosigkeit, das bleibt bestehen.«
»Gut, Meister Nāgasena.«
4. Der König sprach: »Meister Nāgasena, empfindet der, welcher nicht wiedergeboren wird80, noch irgend welches Unlustgefühl?«
Der Senior sprach: »eine Art empfindet er, eine andere nicht.«
»Wieso?«
»Körperliches Leiden kann er noch empfinden, seelisches Leiden nicht mehr.«
»Inwiefern, Meister Nāgasena, kann er noch körperliches[42] Leiden, aber nicht mehr seelisches Leiden empfinden?«
»Weil die nähere und die entferntere Ursache81 des körperlichen Unlustgefühls nicht aufgehört hat, deshalb empfindet er noch körperliche Unlustgefühle, und weil die nähere und entferntere Ursache des seelischen Unlustgefühls aufgehört hat, deshalb empfindet er kein seelisches Unlustgefühl mehr. Dies hat auch der Erhabene, o Grosskönig, mit den Worten ausgesprochen: ›Ein Gefühl nur empfindet er: das körperliche; das seelische nicht.‹«
»Meister Nāgasena, warum verlässt ein solcher nicht das Dasein, wenn er leidet?«
»Für den Arhat58, Grosskönig, gibt es kein Begünstigen und kein Abstossen. Der Arhat schüttelt nicht die unreife Frucht ab: als ein Weiser wartet er, bis sie reif ist. Dies hat, o Grosskönig, der Senior Sāriputta, der Heerführer des Glaubens, in den Versen ausgesprochen:
›Nicht sehne ich den Tod herbei,
Nicht wünsche ich das Leben mir.
Ich warte bis die Stunde kommt,
Gleichwie des Solds der Söldner harrt.
Nicht sehne ich den Tod herbei,
Nicht wünsche ich das Leben mir.
Ich warte bis die Stunde kommt,
Gedankenvoll und klar bewusst.‹«
»Gut, Meister Nāgasena.«
5. Der König sprach: »Meister Nāgasena, ist das angenehme Gefühl nützlich oder schädlich oder indifferent?«82[43]
»Es kann, Grosskönig, nützlich sein, es kann schädlich sein, es kann indifferent sein.«
»Aber, Meister, das Nützliche ist doch nicht schmerzlich und das Schmerzliche nicht nützlich! Wie sollte etwas Nützliches entstehen können, das zugleich schmerzlich ist (oder etwas Schädliches, das zugleich angenehm ist)?«
»Nun, was meinst du, Grosskönig: wenn ein Mann hier in der einen Hand eine zum Glühen erhitzte Eisenkugel und in der andern Hand einen eisigen Schneeball hielte, würden da nicht alle beide ihn brennen?«
»Freilich, Meister.«
»Sind denn beide heiss?«
»Nein, Meister.«
»Oder sind beide kalt, Grosskönig?«
»Nein, Meister.«
»So höre, wie du widerlegt wirst. Wenn (nur) die Hitze brennt und nicht beide heiss sind, so kann nicht von ihr der Schmerz herrühren; und wenn (nur) die Kälte brennt und nicht beide kalt sind, so kann auch von jener der Schmerz nicht kommen. Wie sollten sie denn, Grosskönig, dich beide brennen, da doch nicht beide heiss und nicht beide kalt sind, sondern die Kugel heiss und der Schneeball kalt ist? Dass beide dich brennen, kann weder von der Hitze noch von der Kälte kommen.«
»Ich bin nicht fähig, mit dir, dem Kenner, zu diskutieren. Guter Meister, erkläre mir, wie es sich verhält.«
Da belehrte der Senior den König Menandros nach dem Abhidharma wie folgt: »Jene sechs83, Grosskönig,[44] sind die Freuden des weltlichen Lebens und jene anderen sechs die des religiösen Lebens. Jene sechs sind die Leiden des weltlichen Lebens und jene anderen sechs die des religiösen Lebens. Sechs Arten indifferenter Empfindungen gibt es im weltlichen und ebensoviele im religiösen Leben. Das sind sechs mal sechs. Und zwar gibt es sechsunddreissig Arten vergangener, sechsunddreissig Arten zukünftiger und sechsunddreissig Arten gegenwärtiger Gefühle, so dass die Gesamtsumme aller Gefühle hundertundacht ist.«
»Gut, Meister Nāgasena.«
6. Der König sprach: »Meister Nāgasena, was ist es, das wiedergeboren wird?«
Der Senior sprach: »Das geistig-leibliche Wesen (›Name-und-Form‹), Grosskönig, wird wiedergeboren.«
»Ist es dieses selbe geistig-leibliche Wesen, das wiedergeboren wird?«
»Nein, Grosskönig, nicht dieses selbe geistig-leibliche Wesen wird wiedergeboren, aber durch dieses geistig-leibliche Wesen werden Werke (Karman) vollbracht, gute und schlechte, und durch diese Werke wird ein anderes geistig-leibliches Wesen wiedergeboren84.«
»Wenn, o Meister, nicht dasselbe geistig-leibliche Wesen wiedergeboren wird, würde man dann nicht (durch die Wiederverkörperung) von den Folgen seiner schlechten Werke befreit werden?«
Der Senior sprach: »Stelle dir vor, Grosskönig, es hätte jemand einem anderen eine Mango-Frucht gestohlen, und der Eigentümer hätte den Dieb abgefasst und vor den König geführt, und es würde nun jener auf die Beschuldigung antworten: ›Majestät! Ich habe die Mangos dieses Mannes nicht weggenommen.[45] Es sind andere Mangos, die jener gepflanzt hat, und andere Mangos, die ich fortgenommen habe. Ich verdiene keine Strafe.‹ Wie nun, Grosskönig: wäre dieser Mann strafbar?«
»Freilich, Meister, er müsste bestraft werden.«
»Aus welchem Grunde?«
»Weil, was er auch einwenden mag, er wegen des letzten (gestohlenen) Mangos strafbar ist, da dieser nicht ohne den ersten (gepflanzten) hätte entstehen können.«
»Geradeso, Grosskönig, ist ein Mensch, wenn er als das gegenwärtige geistig-leibliche Wesen gute oder böse Werke tut und nun kraft dieser Werke als ein anderes geistig-leibliches Wesen wiedergeboren wird, darum von den Folgen seiner bösen Taten nicht befreit.«
»Gib ein zweites Gleichnis.«
»Es ist, wie wenn jemand einem anderen Reis oder Zucker stiehlt und dann dasselbe sich ereignete wie in dem vorigen Fall. Oder es ist, Grosskönig, wie wenn jemand in der kalten Jahreszeit ein Feuer anzündet, sich daran wärmt und, ohne es ausgelöscht zu haben, fortgeht, und nun das Feuer das Feld eines anderen Mannes niederbrennt, und darauf dieser den ersteren ergreift und zum König bringt mit der Behauptung: ›Dieser Mann, o König, hat mein Feld eingeäschert,‹ worauf aber der andere entgegnete: ›Majestät! Ich habe nicht das Feld dieses Mannes angezündet. Verschieden ist das Feuer, das ich zu löschen unterliess, von dem, durch welches das Feld dieses Mannes eingeäschert worden ist. Ich bin unschuldig.‹[46] Was meinst du, Grosskönig, wäre der Mann als strafbar zu erklären?«
»Gewiss, Meister, er wäre als strafbar zu erklären.«
»Und warum?«
»Weil, Meister, was er auch einwenden mag, er insofern wegen des letzten Feuers strafbar ist, als dieses nicht ohne das erste hätte entstehen können.«
»Geradeso, Grosskönig, ist ein Mensch, wenn er als das gegenwärtige geistig-leibliche Wesen gute oder böse Werke tut und kraft dieser Werke als ein anderes geistig-leibliches Wesen wiedergeboren wird, darum von den Folgen seiner bösen Taten nicht befreit.«
»Gib noch ein Gleichnis.«
»Denke dir, Grosskönig, es sei jemand mit seiner Lampe auf seine Dachkammer gegangen und verzehrte dort sein Mahl. Die flammende Lampe setzt das Stroh in Brand, durch das brennende Stroh gerät das Haus in Flammen und von dem Haus aus verbreitet sich der Brand über das ganze Dorf. Das Dorfvolk ergreift jenen Mann und spricht zu ihm. ›Kerl, was hast du unser Dorf anzuzünden?‹ Der aber erwidert: ›Ich habe nicht das Dorf angezündet. Die Lampenflamme, bei deren Licht ich ass, hat nichts zu tun mit dem Feuer, das das Dorf in Brand gesetzt hat.‹ Wie nun, Grosskönig, wenn die Streitenden sich an dich wendeten: wessen Partei würdest du da ergreifen?«
»Die des Dorfvolkes, Meister.«
»Und warum?«[47]
»Weil, was auch jener sagen mag, doch von ihm das Feuer ausgegangen ist.«
»Ebenso, Grosskönig, ist es zwar ein anderes geistig-leibliches Wesen, das stirbt, und ein anderes geistig-leibliches Wesen, das wiedergeboren wird. Aber doch ist dieses aus jenem hervorgegangen und darum von dessen Sünden nicht befreit.«
»Gib mir noch ein Gleichnis.«
»Stelle dir vor, Grosskönig, dass ein Mann sich ein junges Mädchen (als künftige Frau) wählte, den Preis dafür bezahlte und fortginge. Nach einiger Zeit wäre nun das Mädchen in das heiratsfähige Alter gekommen, und jetzt bezahlte ein anderer Mann den Preis und führte sie in die Ehe. Darauf käme der erste wieder und spräche zu diesem: ›Wie konntest du dich unterstehen, mein Weib fortzuführen!‹ Der aber sagte: ›Ich nehme dir nicht dein Weib. Das junge, zarte Mädchen, das du gewählt und bezahlt hast, ist verschieden von diesem grossen, erwachsenen Mädchen, das ich gewählt und bezahlt habe.‹ Und streitend kämen die Leute zu dir. Wessen Sache, Grosskönig, würdest du da unterstützen?«
»Die des ersten Mannes, Meister.«
»Aus welchem Grunde?«
»Weil, was auch immer jener sagen mag, doch dieses erwachsene Mädchen aus jenem (Kinde) sich entwickelt hat.«
»Geradeso, Grosskönig, ist zwar die Persönlichkeit85, welche stirbt, verschieden von der, die wiedergeboren wird. Aber doch ist diese aus jener entstanden und eben darum von deren Sünden nicht befreit.«[48]
»Gib noch ein Gleichnis.«
»Denke dir, Grosskönig, es hätte jemand bei einem Hirten einen Topf Milch gekauft und er hätte diesen zur Aufbewahrung dort gelassen und wäre mit den Worten fortgegangen: ›Morgen will ich ihn holen,‹ und es wäre nun aus der Milch am andern Tag Setzmilch geworden. Der Mann käme wieder und sagte: ›Gib mir meinen Topf Milch‹ und bekäme die Setzmilch angeboten, worauf er entgegnete: ›Ich habe keine Setzmilch von dir gekauft. Gib mir meinen Topf Milch.‹ Der andere aber sagte: ›Deine Milch ist, ohne dass du es wusstest, zu Setzmilch geworden.‹ Und streitend wendeten sich die beiden an dich. Zu wessen Gunsten würdest du entscheiden, Grosskönig?«
»Zu Gunsten des Hirten, Meister.«
»Warum?«
»Weil trotz allem, was der andere einwenden mag, die Setzmilch doch aus der gekauften Milch entstanden ist.«
»Geradeso, Grosskönig, ist zwar die Persönlichkeit, welche stirbt, verschieden von der, die wiedergeboren wird. Aber diese ist doch aus jener entstanden und eben darum von deren Sünden nicht befreit.«
»Gut, Meister Nāgasena.«
7. Der König sprach: »Meister Nāgasena, wirst du noch einmal wiedergeboren werden?«
»Warum fragst du, Grosskönig? Ich habe dir doch bereits gesagt, dass ich wiedergeboren werde, falls ich in der Sterbestunde noch irdische Gelüste habe; im anderen Falle nicht.«[49]
»Gib mir ein Gleichnis hierfür.«
»Denke dir, Grosskönig, ein Mann hätte seinem König einen Dienst erwiesen, und der König, zufrieden mit ihm, hätte ihm dafür ein Amt gegeben, und jener führte nun sein Amt und genösse dabei jede Art von Bequemlichkeit, erklärte aber den Leuten: ›Der König hat mir garnichts vergolten.‹ Würde ein solcher wohl recht handeln?«
»Gewiss nicht, Meister.«
»Ebenso ist es mit deiner letzten Frage, Grosskönig, da ich dir doch schon erklärt hatte, dass ich wiedergeboren würde, falls ich in der Sterbestunde noch irdische Gelüste haben sollte, im anderen Falle nicht.«
»Gut, Meister Nāgasena.«
8. Der König sprach: »Meister Nāgasena, du sprachst von ›Name-und-Form‹ (dem geistig-leiblichen Wesen, der Persönlichkeit). Was bedeutet dabei ›Name‹ und was ›Form‹?«
»Was es an einem Wesen Grobstoffliches gibt, das ist ›Form‹, und was es Feines, Seelisches, Geistiges an ihm gibt, das ist ›Name‹.«
»Woher kommt es, Meister Nāgasena, dass nicht der ›Name‹ für sich wiedergeboren wird oder die ›Form‹ für sich?«
»Diese beiden, Grosskönig, sind untrennbar mit einander verknüpft: nur als Einheit können sie ins Dasein treten.«
»Gib ein Gleichnis.«
»Gleichwie, Grosskönig, eine Henne Dotter und Eischale nicht getrennt legen kann, weil Dotter und Eischale so von einander abhängig sind, dass sie nur[50] als Einheit entstehen können: ebenso, Grosskönig, würde es keine ›Form‹ geben, wenn es keinen ›Namen‹ gäbe. Denn ›Name‹ und ›Form‹ sind derart von einander abhängig, dass sie nur zusammen entstehen können, und so geschieht es seit undenkbarer Zeit.«
»Gut, Meister Nāgasena.«
9. Der König sprach: »Du sprichst von der langen Zeit, Meister Nāgasena. Was bedeutet dieses Wort ›Zeit‹86?«
»Die vergangene Zeit, Grosskönig, die zukünftige Zeit und die gegenwärtige Zeit.«
»Ist denn, Meister, die Zeit etwas Existierendes?«
»Es gibt Zeit, die existiert, Grosskönig, und solche, die nicht existiert.«
»Welche Zeit existiert, Meister, und welche nicht?«
»Die Zeit existiert nicht, Grosskönig, die den Dingen87 entspricht, die nicht mehr da sind, die geschwunden, vernichtet oder gänzlich verwandelt sind. Aber wo Dinge88 ihre Wirkung tun oder die Möglichkeit des Wirkens in sich tragen oder anderswie zu einem neuen Dasein drängen, da existiert die Zeit. Und für Wesen, die nach dem Tode anderswo wiedererscheinen, auch für die existiert die Zeit. Hingegen für Wesen, die, wenn sie gestorben sind, nirgends wiedergeboren werden, gibt es keine Zeit89. Und auch für die gänzlich erloschenen (erlösten) Wesen90 existiert die Zeit nicht, weil sie von allem befreit sind.«
»Gut, Meister Nāgasena.«
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