Drittes Kapitel.

[51] 1. Der König sprach: »Meister Nāgasena, was ist die Wurzel der vergangenen Zeit, was ist die Wurzel der zukünftigen Zeit, und was ist die Wurzel der gegenwärtigen Zeit?«

»Die Wurzel der vergangenen, der zukünftigen und der gegenwärtigen Zeit ist die Unwissenheit. Infolge91 der Unwissenheit entstehen die Dispositionen,30 infolge der Dispositionen entsteht das Erkennen, infolge des Erkennens entsteht Name-und-Form, infolge von Name-und-Form entsteht der Sechssinnensitz, infolge des Sechssinnensitzes entsteht die Berührung, infolge der Berührung entsteht das Gefühl, infolge des Gefühles entsteht der Durst, infolge des Durstes entsteht das Ergreifen, infolge des Ergreifens entsteht das Werden, infolge des Werdens entsteht die Geburt, infolge der Geburt entstehen Alter und Tod, Leid und Klage, Schmerz, Betrübnis und Verzweiflung, und so (da hiermit wieder die Unwissenheit einsetzt)92 ist es nicht möglich, einen äussersten Punkt dieses ganzen Zeitlaufes zu finden.«[52]

»Gut, Meister Nāgasena.«

2. Der König sprach: »Meister Nāgasena, du sagst, ein äusserster Punkt (der Zeit, d.h. des Werdens93) sei nicht zu finden. Erläutere das durch ein Beispiel.«

»Stelle dir vor, Grosskönig, dass ein Mann ein kleines Samenkorn in die Erde steckte und dass daraus ein junger Spross emporkeimte und sich weiter entwickelte und endlich Frucht trüge, und es pflanzte nun der Mann von dieser Frucht wieder ein Samenkorn und daraus entstände wieder ein Spross u.s.w.: würde es da ein Ende dieser Reihe geben?«

»Nein, Meister.«

»Geradeso, Grosskönig, ist auch bei der Zeit ein äusserster Punkt nicht zu erkennen.«

»Gib noch ein Gleichnis.«

»Es ist, Grosskönig, wie wenn die Henne ein Ei legt, aus dem Ei eine Henne wird, diese Henne gleichfalls ein Ei legt u.s.w.: würde die Reihe ein Ende haben?«

»Nein, Meister.«

»Ebenso, Grosskönig, ist auch kein äusserster Punkt des Zeitlaufes zu erkennen.«

»Gib noch ein Gleichnis.«

Der Senior zeichnete einen Kreis auf dem Erdboden und fragte den König Menandros: »Hat dieser Kreis ein Ende, Grosskönig?«

»Nein, Meister.«

»Genau so, Grosskönig, verhält es sich mit jenen Kreisen, die der Erhabene lehrte. Infolge des Auges (der Sehkraft) und infolge der Gestalten (Gesichtsobjekte)94 entsteht Sehbewusstsein. Das Zusammentreffen[53] der drei95 ist Berührung. Der Berührung folgt das Gefühl, dem Gefühl der Durst, dem Durst die Tat, und aus der Tat entsteht wieder das Auge96, und so gibt es kein Ende dieser Reihe, nicht wahr?«

»Nein, Meister.«

»Infolge des Gehörs und infolge der Töne entsteht Hörbewusstsein; infolge des Riechsinnes und infolge der Gerüche entsteht Riechbewusstsein; infolge des Geschmackes und infolge der Säfte entsteht Schmeckbewusstsein; infolge des Getastes und infolge der Tastungen entsteht Tastbewusstsein; infolge der Denkkraft und der Vorstellungen (Erinnerungen, Phantasiebilder) entsteht Denkbewusstsein. Das Zusammentreffen der drei ist Berührung. Der Berührung folgt Gefühl, dem Gefühl Durst, dem Durst Tat, und aus der Tat geht ein neues Gehör, ein neuer Geruchssinn, ein neues Schmeckvermögen, ein neuer Tastsinn, ein neues Vorstellungsvermögen hervor. Gibt es also ein Ende dieser Reihe?«

»Das gibt es nicht, Meister.«

»Geradeso, Grosskönig, ist auch ein äusserster Punkt der Zeit nicht zu erkennen.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

3. Der König sprach: »Meister Nāgasena, wenn du sagst, dass ein äusserster Punkt nicht zu erkennen sei, was meinst du da mit dem ›äussersten Punkt‹?«

»Von der verflossenen Zeit, Grosskönig: von der meine ich den äussersten Punkt.«

»Meister Nāgasena, wenn du sagst, dass ein äusserster Punkt nicht zu erkennen ist, meinst du[54] damit, dass von nichts ein äusserster Punkt zu erkennen ist?«

»Zum Teil ist ein solcher erkennbar, zum Teil nicht.«

»Welcher äusserste Punkt ist erkennbar, Meister, und welcher nicht?«

»Von hier (diesem Zeitpunkt aus) rückwärts, Grosskönig, sind die Dinge in jeder Weise und allüberall nur Unwissenheit, und insofern diese nicht wurde (sondern stets war)97, ist von ihr ein erster Anfang nicht zu erkennen. Aber was, ohne gewesen zu sein, wird und, wenn es geworden ist, wieder vergeht, von dem ist ein äusserster Punkt zu erkennen.«98

»Meister Nāgasena, wenn etwas, ohne gewesen zu sein, wird und, nachdem es geworden ist, vergeht, muss es da nicht, an beiden Enden abgeschnitten, gänzlich aufhören zu sein?«

»Wenn, Grosskönig, das an beiden Enden Beschnittene aufhörte zu sein, wäre es da nicht auch denkbar, dass das an beiden Enden Beschnittene wieder wüchse?«

»Gewiss, es könnte wieder wachsen. Aber das frage ich nicht, Meister. Ob es von dem äussersten Punkt (dem Schnittpunkt) aus wieder wachsen kann, meine ich.«

»Freilich.«

»Gib mir ein Bild.«

Darauf wiederholte ihm der Senior das Gleichnis vom Baum und vom Samen und sagte, dass die Skandhas99 die Samenkörner seien, aus denen stets[55] von neuem der Leidensbaum emporwüchse. Und der König erklärte sich befriedigt.

4. Der König sprach: »Meister Nāgasena, gibt es Dispositionen30, die entstehen100

»Gewiss, Grosskönig.«

»Welche, Meister?«

»Wo das Gesicht ist, Grosskönig, und Gestalten, da entsteht Sehbewusstsein, und wo Sehbewusstsein ist, da entsteht Sehberührung, wo Sehberührung ist, da entsteht Gefühl, wo Gefühl ist, da entsteht Durst, wo Durst ist, da entsteht Ergreifen, wo Ergreifen ist, da entsteht Werden, wo Werden ist, da entsteht Geburt, wo Geburt ist, da entstehen Alter und Tod, Leid und Klage, Schmerz, Kummer und Verzweiflung. Das ist der Ursprung dieses ganzen Leidensagregates. Wo aber, Grosskönig, weder Gesicht noch Gestalten sind, da entsteht kein Sehbewusstsein, und wo kein Sehbewusstsein ist, da entsteht keine Sehberührung, und wo keine Sehberührung ist, da entsteht kein Gefühl, wo kein Gefühl entsteht, da entsteht kein Durst, wo kein Durst entsteht, da entsteht kein Ergreifen, wo kein Ergreifen entsteht, da entsteht kein Werden, wo kein Werden entsteht, da entsteht nicht Geburt, wo nicht Geburt entsteht, da entstehen nicht Alter und Tod, Leid und Klage, Schmerz, Kümmernis und Verzweiflung. Das ist das Ende dieses ganzen Leidensaggregates.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

5. Der König sprach: »Meister Nāgasena, gibt es Dispositionen30, die entstehen, ohne dass sie werden (die plötzlich, nicht allmählig entstehen)?«[56]

»Nein, Grosskönig. Sie alle treten allmählich ins Dasein.«

»Gib ein Gleichnis.«

»Nun, was meinst du, Grosskönig: ist dieses Haus, in dem du sitzest, plötzlich entstanden?«

»Nein, Meister, hier ist nichts, das nicht, ohne zu werden, entstanden ist; allmählich ist alles entstanden. Z.B. die Balken, Meister, waren zuvor im Walde, dieser Lehm war in der Erde, und durch die Mühe und Arbeit von Weibern und Männern101 ist dieses Haus zustande gekommen.«

»So auch, Grosskönig, gibt es keine Dispositionen die, ohne zu werden, entstehen: allmählich treten die Dispositionen ins Dasein.«

»Gib noch ein Gleichnis.«

»Gleichwie, Grosskönig, alle diese Arten von Pflanzen und Bäumen, in die Erde gesetzt, allmählich wachsen, sich entwickeln, zur Reife kommen und dann erst Blumen und Früchte bieten – nicht sind jene Bäume, ohne zu werden, entstanden: durch Werden sind sie alle entstanden – so auch, Grosskönig, gibt es keine Dispositionen, die, ohne zu werden, entstehen: durch Werden vielmehr entstehen die Dispositionen.«

»Gib noch ein Gleichnis.«

»Gleichwie, Grosskönig, ein Töpfer, nachdem er aus der Erde den Lehm hervorgegraben, daraus die verschiedenen Gefässe macht – nicht sind jene Gefässe, ohne zu werden, entstanden: durch Werden vielmehr sind sie entstanden – so auch, Grosskönig, gibt es keine Dispositionen, die, ohne zu werden, entstehen: durch Werden vielmehr entstehen die Dispositionen.«[57]

»Gib noch ein Gleichnis.«

»Gesetzt, Grosskönig, es gäbe bei einer Vīnā (eine Art Leier) keinen Flügel (?), kein Leder (Fell), keinen Hohlraum, kein Gerüst, keinen Hals, keine Saiten, keinen Bogen und keine menschliche Mühe und Anstrengung: würde da wohl ein Ton entstehen?«

»Nein, Meister.«

»Wenn aber alle diese Dinge da wären, würde dann ein Ton entstehen?«

»Freilich, Meister, würde er entstehen.«

»So auch, Grosskönig, gibt es keine Dispositionen, die, ohne zu werden, entstehen: durch Werden vielmehr entstehen die Dispositionen.«

»Gib noch ein Gleichnis.«

»Gesetzt, Grosskönig, es fehlte zu einem Feuerzeug das obere Holz, der Quirlstock, die Schnur, das untere Holz und der Zündstoff102, sowie alle Anstrengung und Mühe menschlicherseits: würde da Feuer entstehen?«

»Nein, Meister.«

»Wenn aber alle diese Bedingungen da wären, würde dann Feuer entstehen?«

»Freilich, Meister, würde es entstehen.«

»So auch, Grosskönig, gibt es keine Dispositionen, die, ohne zu werden, entstehen: durch Werden vielmehr entstehen die Dispositionen.«

»Gib noch ein Gleichnis.«

»Gesetzt, Grosskönig, es sei kein Brennglas da und keine Sonnenhitze und kein (trockener) Kuhdünger (als Zunder): würde da Feuer entstehen?«

»Nein, Meister.«

»Wenn nun aber ein Brennglass da wäre und[58] Sonnenhitze und Kuhdünger: würde dann Feuer entstehen?«

»Freilich, Meister.«

»So auch, Grosskönig, gibt es keine Dispositionen, die, ohne zu werden, entstehen: werdend vielmehr entstehen die Dispositionen.«

»Gib noch ein Gleichnis.«

»Gesetzt, Grosskönig, es wäre kein Spiegel da und keine Helle und kein Gesicht: würde da ein Bild erscheinen?«

»Nein, Meister.«

»Wenn aber ein Spiegel da wäre und Helligkeit und ein Gesicht: würde dann ein Bild erscheinen?«

»Ja, Meister, es würde erscheinen.«

»Ebenso, Grosskönig, gibt es keine Dispositionen, die, ohne zu werden, entstehen: werdend vielmehr entstehen die Dispositionen.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

6. Der König sprach: »Meister Nāgasena, gibt es ein erkennendes Prinzip103

»Was verstehst du darunter, Grosskönig?«

»Das Lebensprinzip in uns, Meister, das da mit dem Auge die Gestalt104 sieht, mit dem Ohr den Ton hört, mit der Nase den Duft riecht, mit der Zunge den Geschmack wahrnimmt, mit der Haut die Berührung empfindet und mit dem Vorstellen das Ding erkennt. Gleichwie wir, die wir hier im Palaste sitzen, durch jedes beliebige Fenster hinaussehen können, durch das östliche, westliche, nördliche oder südliche: ebenso, denke ich, Meister, kann auch das[59] Lebensprinzip in uns durch jede Öffnung hinausschauen, durch die es hinausschauen will.«

Der Senior sprach: »Ich will dir von den fünf Toren reden, Grosskönig. Höre zu und gib wohl acht. Wenn das Lebensprinzip in uns (das du annimmst) mit dem Gesicht die Gestalt sähe und dieses dasselbe wäre, wie wenn wir, die wir hier im Palaste sitzen, durch jedes Fenster hinausschauten, durch das wir gerade hinausschauen wollten, sei es das östliche, westliche, nördliche oder südliche, dann müsste auch jenes Lebensprinzip mit dem Gehör die Gestalt sehen können, mit dem Geruch, dem Geschmack, dem Gefühl, dem Vorstellen die Gestalt sehen können; dann müsste auch von ihm mit dem Auge der Ton zu hören sein, mit dem Geruch, dem Geschmack, dem Getast, dem Vorstellen der Ton zu hören sein; dann müsste auch mit dem Auge der Duft zu riechen sein, mit dem Gehör, dem Geschmack, dem Getast, dem Vorstellen der Duft zu riechen sein; es müsste mit dem Auge der Geschmack zu schmecken sein, mit dem Gehör, dem Geruch, dem Getast, dem Vorstellen der Geschmack zu schmecken sein; es müsste mit dem Auge die Tastung zu fühlen sein, mit dem Gehör, dem Geruch, dem Geschmack, dem Vorstellen die Tastung zu fühlen sein; und endlich müsste man mit dem Gesicht das Phantasiebild erkennen können und ebensowohl mit dem Gehör, dem Geruch und dem Getast das Phantasiebild erkennen können.«

»Das geht nicht, Meister.«

»So passt also nicht, Grosskönig, das letzte zum ersten oder das erste zum letzten (das Lebensprinzip zur Sinneswahrnehmung). Und ferner, Grosskönig,[60] wir, die wir hier im Palaste sitzen, sehen, wenn wir bei vollem Tageslicht durch die geöffneten Fenster unseren Kopf stecken, vollkommen deutlich die Formen und Farben104: sieht denn in derselben Weise jenes innere Prinzip bei vollem Tageslicht durch die geöffneten Gesichtstore vollkommen deutlich Form und Farbe? kann es durch die offenen Gehörstore, bei offenem Geruchssinn, bei offenem Geschmack, bei offenem Getast infolge der Helle des Tages vollkommen deutlich den Ton hören, den Duft riechen, den Saft schmecken, die Berührung fühlen?«105

»Nein, Meister.«

»So bringst du auch nicht, Grosskönig, das letzte mit dem ersten oder das erste mit dem letzten (das Lebensprinzip mit der Sinneswahrnehmung) zusammen. Und ferner, Grosskönig, wenn dieser Dinna hier hinausginge und (draussen vor der offenen Tür) in der Vorhalle stehen bliebe, wüsstest du dann, Grosskönig, dass Dinna hinausgegangen und in der Vorhalle stehen geblieben ist?«

»Freilich, Meister.«

»Und wenn nun, Grosskönig, dieser Dinna wieder einträte und vor dir stände, wüsstest du da, Grosskönig, dass Dinna eingetreten ist und vor dir steht?«

»Gewiss, Meister.«

»Und nun, Grosskönig, wenn ein Saft auf die Zunge träfe, würde da das Lebensprinzip in uns den sauren, salzigen, scharfen, stechenden, zusammenziehenden oder süssen Geschmack desselben empfinden?«

»Ja, Meister.«[61]

»Würde es auch diese Empfindung haben, nachdem der Saft in den Magen gewandert ist?«

»Nein, Meister.«

»So bringst du auch nicht, Grosskönig, das letzte mit dem ersten oder das erste mit dem letzten zusammen. Und ferner, Grosskönig, wenn irgend ein Mensch hundert Töpfe Honig in ein grosses Honigfass entleerte und einen Mann mit verbundenem Munde dahineinsteckte, würde der letztere schmecken, dass es Honig ist oder nicht?«

»Nein, Meister.«

»Und warum nicht?«

»Weil der Honig in seinen Mund nicht eindringen kann.«

»So bringst du auch nicht, Grosskönig, das letzte mit dem ersten und das erste mit dem letzten zusammen.«

»Ich bin nicht fähig, mit dir, dem Kenner, zu diskutieren. Lieber, erkläre mir den Gegenstand.«

Darauf belehrte der Senior den König Menandros nach dem Abhidharma wie folgt: »Infolge des Auges und infolge der Gestalten entsteht Sehbewusstsein, und mit ihm zugleich entstehen Berührung, Gefühl, Vorstellung, Denken, Abstraktion, Gemeinsinn ›Lebenskraft‹), Aufmerksamkeit106. Ein inneres Prinzip ist da nicht zu entdecken. Und ebenso ist es mit dem Gehör und den Tönen, mit dem Geruch und den Düften, mit dem Geschmack und den Säften, mit dem Gefühl und den Tastungen, mit der Vorstellungskraft und den Vorstellungsbildern. Ein inneres Prinzip ist nirgends zu finden.«

»Gut, Meister Nāgasena.«[62]

7. Der König sprach: »Meister Nāgasena, wo Sehbewusstsein107 entsteht, entsteht da auch Vorstellungsbewusstsein108

»Ja, Grosskönig, wo Sehbewusstsein entsteht, da entsteht auch Vorstellungsbewusstsein.«

»Wie denn, Meister Nāgasena: entsteht zuerst Sehbewusstsein und dann Vorstellungsbewusstsein oder umgekehrt?«

»Zuerst, Grosskönig, entsteht Sehbewusstsein und dann Vorstellungsbewusstsein.«

»Befiehlt denn etwa, Meister Nāgasena, das Sehbewusstsein dem Vorstellungsbewusstsein: ›Wo ich entstehe, da entstehe auch du!‹ oder befiehlt das Vorstellungsbewusstsein dem Sehbewusstsein: ›Wo du entstehen wirst, da werde auch ich entstehen‹?«

»Nein, Grosskönig, die beiden können nicht zu einander reden.«

»In welcher Weise, Meister Nāgasena, ensteht denn Vorstellungsbewusstsein, wo Sehbewusstsein entsteht?«

»Insofern, Grosskönig, es sich damit verhält wie mit der Bodensenkung, dem Tor, der Gewohnheit, der Übung.«

»Wieso, Meister Nāgasena, verhält es sich damit wie mit der Bodensenkung?«

»Nun, was meinst du, Grosskönig: wenn es regnet, welchen Weg nimmt da das Wasser?«

»Es folgt der Senkung des Bodens, Meister.«

»Und wenn es nun abermals regnete, welchen Weg würde dann das Wasser nehmen?«

»Es würde denselben Weg gehen, den das erste Wasser ging.«[63]

»Wie denn, Grosskönig: gibt das erste Wasser dem zweiten zu verstehen: ›Wo ich gehe, da, sollst auch du fahren‹ oder das zweite dem ersten: ›Wo du gehen wirst, da werde auch ich gehen‹?«

»Nein, Meister, die beiden können nicht zu einander reden. Wegen der Bodensenkung nehmen sie den (gleichen) Weg.«

»Ebenso, Grosskönig, geschieht es (gewissermassen) durch eine Senkung, dass, wo Sehbewusstsein entsteht, ebendort auch Vorstellungsbewusstsein entsteht. Nicht gibt das Sehbewusstsein dem Vorstellungsbewusstsein zu verstehen: ›Wo ich entstehe, da entstehe auch du!‹ noch gibt das Vorstellungsbewusstsein dem Sehbewusstsein zu verstehen: ›Wo du entstehen wirst, da werde auch ich entstehen.‹ Die beiden können nicht zu einander reden. Ihr Entstehen richtet sich nach der Senkung.«

»Und inwiefern, Meister Nāgasena, geschieht es wie bei einem Tor, dass Vorstellungsbewusstsein entsteht, wo Sehbewusstsein entsteht? Erkläre mir das Bild.«

»Stelle dir vor, Grosskönig, es hätte ein König eine durch Mauern und Türme stark befestigte Grenzstadt mit einem einzigen Tore, und es wollte ein Mann die Stadt verlassen: auf welchem Wege würde er hinausgehen?«

»Durch das Tor, Meister.«

»Und es wollte nun ein zweiter Mann hinausgehen: welchen Weg würde der nehmen?«

»Denselben, Meister, den der erste genommen hat.«

»Wie denn, Grosskönig, gibt der erste Mann dem[64] zweiten zu verstehen: ›Wo ich gehe, da sollst auch du gehen‹ oder der letzte dem ersten: ›Wo du gehen wirst, da werde auch ich gehen‹?«

»Nein, Meister, die beiden reden nicht zu einander. Weil das (eine) Tor da ist, gehen sie den (gleichen) Weg.«

»Geradeso, Grosskönig, verhält es sich mit dem Sehbewusstsein und dem Vorstellungsbewusstsein.«

»Und inwiefern, Meister Nāgasena, geschieht es nach Art einer Gewohnheit, dass Vorstellungsbewusstsein entsteht, wo Sehbewusstsein entsteht? Erkläre mir das Bild.«

»Nun, was meinst du, Grosskönig: wenn (von mehreren Lastwagen, die dieselbe Bestimmung haben), ein Wagen zuerst abfährt, welchen Weg wird der zweite einschlagen?«

»Denselben wie der erste, Meister.«

»Wie denn, Grosskönig: gibt der erste Wagen dem zweiten zu verstehen: ›Wo ich fahre, da sollst auch du fahren‹ oder der zweite dem ersten: ›Wo du fahren wirst, da werde auch ich fahren‹?«

»Nein, Meister, die beiden reden nicht zu einander. Sie fahren der Gewohnheit gemäss.«

»Und ebenso, Grosskönig, ist es mit dem Sehbewusstsein und dem Vorstellungsbewusstsein.«

»Und inwiefern, Meister Nāgasena, geschieht es nach Art der Übung, dass Vorstellungsbewusstsein entsteht, wo Sehbewusstsein entsteht? Zeige mir das Bild.«

»Gleichwie, Grosskönig, jemand, der die Kunst des Zählens, Rechnens, Kalkulierens oder Schreibens zu lernen beginnt, zuerst nur langsam vorwärts kommt,[65] dann aber, indem er sich Mühe gibt, durch die Übung bald erfahren wird in der betreffenden Kunst: ebenso, Grosskönig, geschieht es durch die Übung, dass Vorstellungsbewusstsein entsteht, wo Sehbewusstsein entsteht, ohne dass das Sehbewusstsein dem Vorstellungsbewusstsein zu verstehen gäbe: ›Wo ich entstehe, da sollst du auch entstehen‹ oder dieses dem ersteren: ›Wo du entstehen wirst, da werde auch ich entstehen.‹ Die beiden reden nicht zu einander. Nach Art der Übung entstehen sie.«

»Meister Nāgasena, wo Hörbewusstsein, Riechbewusstsein, Schmeckbewusstsein, Tastbewusstsein entsteht, entsteht auch dort Vorstellungsbewusstsein?«

»Ja, Grosskönig.«

»Und entsteht es dort auf dieselbe Art wie beim Sehbewusstsein?«

»Ja, Grosskönig.«

»Schön, Meister Nāgasena.«

8. Der König sprach: »Meister Nāgasena, entsteht da, wo Vorstellungsbewusstsein entsteht, auch Gefühl?«

»Ja, Grosskönig, wo Vorstellungsbewusstsein entsteht, da entstehen Berührung, Gefühl, Wahrnehmung, Wollen, Überlegen und Forschen109, da entstehen alle Lebenserscheinungen110 von der Berührung an101

9. Der König sprach: »Meister Nāgasena, was ist das Merkmal der Berührung?«

»Die Berührung, Grosskönig, hat das Berühren zum Merkmal.«

»Gib mir ein Gleichnis.«

»Es ist, Grosskönig, wie wenn zwei Widder gegen einander angehen. Dem einen von ihnen ist das[66] Gesicht zu vergleichen, dem andern die Gestalt (das Gesichtsobjekt) und dem Zusammenstoss die Berührung.«

»Gib noch ein Gleichnis.«

»Denke dir an Stelle der Widder zwei andere Lebewesen irgend welcher Art.«

»Gib ein weiteres Gleichnis.«

»Denke an ein Paar Cymbeln, Grosskönig. Der einen ist das Gesicht zu vergleichen, der andern die Gestalt und dem Zusammentreffen beider die Berührung.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

10. »Meister Nāgasena, was ist das Kennzeichen des Gefühls?«

»Das Empfundenwerden, Grosskönig, und das Genossenwerden.«

»Gib mir ein Gleichnis.«

»Es ist, Grosskönig, wie wenn jemand dem Könige einen Dienst leistete und darauf der König, mit ihm zufrieden, ihm ein Amt verliehe und jener nun, jegliche Art von Luxus geniessend, des Amtes waltete und sich dabei dächte: ›Einstmals habe ich dem König einen Dienst getan, und dafür hat mir der König zum Zeichen seiner Befriedigung das Amt verliehen. Aus jenem Grunde also empfinde ich jetzt dieses so beschaffene Gefühl.‹ Oder es ist, Grosskönig, wie wenn jemand, der sich ein gutes Karman111 erworben hat, nach der Auflösung des Körpers, nach dem Tode auf eine gute Fährte, in einer Himmelswelt kommt, daselbst im Genusse aller fünf112 göttlichen Sinnesfreuden schwelgt und sich dabei denkt: ›Einst habe ich mir ein gutes Karman erworben: demzufolge geniesse ich jetzt dieses so beschaffene Gefühl.‹ So,[67] Grosskönig, hat das Gefühl das Empfundenwerden und das Genossenwerden als Kennzeichen.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

11. »Meister Nāgasena, was ist das Kennzeichen der Vorstellung113

»Das Feststellen (Bezeichnen, Erkennen)114, Grosskönig, ist das Kennzeichen der Vorstellung. Und was stellt sie fest? Dass etwas blau ist oder gelb oder rot oder weiss oder braun: das stellt sie fest. So, Grosskönig, ist Feststellen das Merkmal der Vorstellung.«

»Gib ein Gleichnis.«

»Gleichwie, Grosskönig, der Schatzmeister des Königs, wenn er in die Schatzkammer kommt, die blauen, gelben, roten, weissen und braunen Gegenstände, die den Reichtum des Königs ausmachen, erblickt und erkennt: so, Grosskönig, ist Feststellen das Merkmal der Vorstellung.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

11 a. »Meister Nāgasena, was ist das Kennzeichen des Trachtens115

»Das Erdachtwerden, Grosskönig, und das Zubereitetwerden.«

»Gib ein Gleichnis.«

»Gleichwie, Grosskönig, irgend ein Mensch, nachdem er Gift zubereitet hat, davon selbst tränke und anderen zu trinken gäbe, und wie infolgedessen er selbst leiden müsste und auch die anderen leiden müssten: so auch, Grosskönig, wird ein Mensch, dessen Trachten auf eine böse Tat gerichtet war116, nach der Auflösung des Körpers, nach dem Tode in Unglück, in Leiden, in einen Abgrund, eine Hölle geraten117,[68] und auch jene, die seinem Rate folgen, auch die werden nach der Auflösung des Körpers, nach dem Tode in Unglück, in Leiden, in einen Abgrund, eine Hölle geraten. Und andererseits, Grosskönig, gleichwie ein Mensch, der aus Ghrita, Butter, Öl, Honig und Melasse eine Mischung zurechtgemacht hat, von dieser selbst tränke und anderen zu trinken gäbe, und wie infolge derselben er selbst sich wohl fühlte und die anderen sich wohl fühlten: ebenso, Grosskönig, gelangt ein Mensch, dessen Trachten auf ein gutes Werk gerichtet war, nach der Auflösung des Körpers, nach dem Tode in einen glücklichen Zustand, eine Himmelswelt, und auch jene, die seinem Winke folgen, auch die werden nach des Körpers Zerfall, nach dem Tode in einem glücklichen Zustande, einer Himmelswelt, wiedergeboren. In diesem Sinne, Grosskönig, hat das Trachten das Erdachtwerden und das Zubereitetwerden als Merkmale.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

12. Der König sprach: »Meister Nāgasena, was ist das Merkmal des Erkennens119

»Das Beurteilen120, Grosskönig, ist das Merkmal des Erkennens.«

»Gib mir ein Bild.«

»Gleichwie, o Grosskönig, der Stadtwächter, wenn er im Mittelpunkte der Stadt an der Kreuzung der Strassen sitzt, einen Mann sähe, der von Osten herankäme, der von Süden, von Westen oder von Norden herankäme: ebenso, Grosskönig, erkennt (beurteilt, versteht) man durch das Erkennen die Gestalt, die man mit dem Auge sieht, den Ton, den man mit dem Ohre hört, den Duft, den man mit der Nase riecht,[69] den Saft, den man mit der Zunge schmeckt, die Berührung, die man mit dem Körper fühlt, die Vorstellung, die man mit der Phantasie wahrnimmt121. So, Grosskönig, hat das Erkennen das Beurteilen zum Merkmal.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

13. »Meister Nāgasena, was ist das Kennzeichen der Überlegung122

»Das Anpassen, (Passendmachen)123, Grosskönig, ist das Kennzeichen der Überlegung.«

»Gib ein Gleichnis.«

»Gleichwie, Grosskönig, ein Tischler ein schön gearbeitetes Stück Holz in eine Fuge einfügt, so, Grosskönig, ist Anpassen das Merkmal der Überlegung.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

14. »Meister Nāgasena, was ist das Kennzeichen des Erforschens124

»Das Durchdreschen, Grosskönig, ist das Merkmal des Erforschens.«

»Gib ein Gleichnis.«

»Es ist, Grosskönig, wie wenn ein Kupferkessel bearbeitet wird: bei jedem Schlage ertönt er und gewinnt Gestalt. Dem Schlagen, Grosskönig, ist die Überlegung zu vergleichen, dem Ertönen das Erforschen.«

»Gut, Meister Nāgasena.«


Ende des dritten Kapitels.[70]


15.126 Der König sprach: »Meister Nāgasena, wenn alle diese Erscheinungen (die du soeben erklärt hast) zusammengekommen sind, ist man da imstande, eine nach der anderen herauszunehmen und zu unterscheiden, so dass man sagen kann: ›Hier ist die Berührung, hier das Gefühl, hier das Vorstellen, hier das Trachten, hier das Erkennen, hier das Überlegen, hier das Erforschen‹?«

»Nein, Grosskönig, das ist unmöglich.«

»Gib mir ein Gleichnis.«

»Gesetzt, Grosskönig, ein Koch des Königs sei mit der Herstellung einer Suppe oder einer Sauce beschäftigt und nähme dazu Setzmilch, Salz, Ingwer, Kümmel, Pfeffer und andere Zutaten. Wie, wenn nun der König zu ihm sagte: ›Ziehe mir den Geschmack der Setzmilch heraus und den des Salzes und den des Ingwers, des Kümmels, des Pfeffers und aller anderen Dinge, die du dazu gebraucht hast‹? Wäre es wohl möglich, Grosskönig, nachdem diese Geschmäcke sich vereinigt haben, sie einzeln herauszuziehen und zu sagen: ›Hier ist der saure, hier der salzige, hier der stechende, hier der beissende, hier der zusammenziehende und hier der süsse Geschmack‹?«[71]

»Nein, Meister, das wäre nicht möglich. Aber doch wäre jeder Geschmack mit seinem besonderen Merkmal gegenwärtig.«

»Geradeso, Grosskönig, ist es unmöglich, nachdem jene Bedingungen zusammengekommen sind, eine nach der anderen herauszunehmen und zu unterscheiden als die Berührung, das Gefühl, das Vorstellen, das Trachten, das Erkennen, das Überlegen, das Erforschen. Aber doch sind sie alle mit den ihnen eigenen Merkmalen gegenwärtig.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

16. Der Senior sprach: »Grosskönig, kann Salz mit dem Gesicht erkannt werden?«

»Ja, Meister, warum nicht?«

»Überlege es dir wohl, Grosskönig!«

»Soll ich sagen, Meister, dass es mit dem Geschmack erkannt wird?«

»Ja, Grosskönig, durch den Geschmack wird es erkannt.«

»Aber wird denn, Meister, das Salz ganz und gar (nur) mit dem Geschmack erkannt?«

»Allerdings, Grosskönig.«127

»Wenn aber das Salz ganz und gar nur mit dem Geschmack erkannt wird (also ein Objekt des Gesichts, des Tastsinnes u.s.w. nicht werden kann), Meister, wie kommt man dann dazu, es durch Ochsen in Lastwagen herbeizuschaffen, da man doch Salz (Salzigkeit) allein herbeischaffen will?«

»Salz allein, Grosskönig, kann man nicht herbeischaffen, weil sich mit ihm andere Erscheinungen vereinigt haben. Diese aber treten auseinander in der sinnlichen Erkenntnis (sind Objekte verschiedener[72] Sinne128), so dass man das Salz (die Salzigkeit), die Schwere u.s.w. unterscheiden kann. Kann man, Grosskönig, das Salz etwa mittels einer Wage wägen?«

»Ja, Meister, das kann man.«

»Das kann man nicht, Grosskönig. Nur das Gewicht wird auf der Wage gewogen.«

»Gut, Meister Nāgasena.«


Ende der Befragung des Nāgasena durch den König Menandros.

Quelle:
Die Fragen des Königs Menandros. Berlin [1905], S. 51-73.
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