Leben und Charakter des Sokrates

Charakter des Sokrates.


Sokrates, Sohn des Bildhauers Sophroniskus und der Hebamme Phänareta, der weiseste und tugendhafteste unter den Griechen, ward in dem vierten Jahre der sieben und siebzigsten Olympiade, zu Athen, in der alopecischen Zunft daselbst geboren. Der Vater hielt ihn in seiner Jugend zur Bildhauerkunst an, in welcher er keine geringen Progressen gemacht haben muß, wenn die bekleideten Grazien, die auf der Mauer zu Athen, hinter der Bildsäule der Minerva standen, wie verschiedene versichern, von seiner Arbeit gewesen. Zeiten, in welchen ein Phidias, Zeuxis und Myron lebten, können keiner mittelmäßigen Arbeit eine so wichtige Stelle eingeräumt haben.

Etwa in seinem dreyßigsten Jahre, als sein Vater längst todt war, und er, ohne sonderliche Neigung, aber aus Noth, die Bildhauerkunst noch immer trieb, lernte ihn Krito, ein vornehmer Athenienser, kennen, bemerkte seine erhabenen Talente, und urtheilte, daß er dem menschlichen Geschlechte durch sein Nachdenken weit nützlicher werden könnte, als durch seine Handarbeit. Er nahm ihn aus der Schule der Kunst, und brachte ihn zu den Weisen der damaligen Zeit, um ihm Schönheiten einer höhern Ordnung zur Betrachtung und Nachahmung vorhalten zu lassen. Lehret die Kunst, das Leben im Leblosen nachzuahmen, den Stein dem Menschen ähnlich zu machen; so suchet die Weisheit hingegen, das Unendliche im Endlichen nachzuahmen, die Seele des Menschen jener ursprünglichen Schönheit und Vollkommenheit so nahe zu bringen, als es in diesem Leben möglich ist. Sokrates genoß den Unterricht und den Umgang der berühmtesten Leute in allen Wissenschaften und Künsten, von welchen seine Schüler den Archelaus, Anaxagoras, Prodikus, Evenus, Isimachus, Theodorus und andere nennen.

Krito versahe ihn mit den Nothwendigkeiten des Lebens, und Sokrates[13] legte sich anfangs mit vielem Fleiße auf die Naturlehre, die zur damaligen Zeit sehr im Schwange war. Er merkte aber gar bald, daß es Zeit sey, die Weisheit von Betrachtung der Natur auf die Betrachtung des Menschen zurückzuführen. Dieses ist der Weg, den die Weltweisheit allezeit nehmen sollte. Sie muß mit Untersuchung der äußerlichen Gegenstände anfangen, aber bey jedem Schritte, den sie thut, einen Blick auf den Menschen zurückwerfen, auf dessen wahre Glückseligkeit alle ihre Bemühungen abzielen sollten. Wenn die Bewegung der Planeten, das Wesen der himmlischen Körper, die Natur der Elemente u.s.w. nicht wenigstens mittelbar einen Ein fluß in unsre Glückseligkeit haben: so ist der Mensch gar nicht bestimmt, sie zu untersuchen. Sokrates war der erste, wie Cicero sagt, der die Philosophie vom Himmel herunter gerufen, in die Städte eingesetzt, in die Wohnungen der Menschen geführet, und über ihr Thun und Lassen Betrachtungen anzustellen genöthiget hat. Indessen gieng er, wie überhaupt die Neuerungsstifter zu thun pflegen, auf der andern Seite etwas zu weit, und sprach zuweilen von den erhabensten Wissenschaften, mit einer Art von Geringschätzung, die dem weisen Beurtheiler der Dinge nicht geziemet.

Damals stand in Griechenland, wie zu allen Zeiten bey dem Pöbel, die Art von Gelehrten in großem Ansehen, die sich bemühen, eingewurzelte Vorurtheile und verjährten Aberglauben durch allerhand Scheingründe und Spitzfindigkeiten zu begünstigen. Sie gaben sich den Ehrennamen Sophisten, den ihre Aufführung in einen Ekelnamen verwandelte. Sie besorgten die Erziehung der Jugend, und unterrichteten auf öffentlichen Schulen so wohl, als in Privathäusern, in Künsten, Wissenschaften, Sittenlehre und Religion, mit allgemeinem Beyfalle. Sie wußten, daß in demokratischen Regierungsverfassungen die Beredsamkeit über alles geschätzt wird, daß ein freyer Mann gerne von Politik schwatzen höret, und daß die Wissensbegierde schaaler Köpfe am liebsten durch Mährchen befriediget seyn will: daher unterließen sie niemals, in ihrem Vortrage gleißende Beredsamkeit, falsche Politik und ungereimte Fabeln so künstlich durcheinanderzuflechten, daß das Volk sie mit Verwunderung anhörte und mit Verschwendung belohnte. Mit der Priesterschaft standen sie in gutem Vernehmen; denn sie hatten beiderseits die weise Maxime: [14] leben und leben lassen. Wenn die Tyranney der Heuchler den freyen Geist der Menschen nicht länger unter dem Joche halten konnte: so waren jene Scheinfreunde der Wahrheit bestellt, ihn auf falsche Wege zu verleiten, die natürlichen Begriffe durcheinander zu werfen, und allen Unterschied zwischen Wahrheit und Irrthum, Recht und Unrecht, Gutem und Bösem, durch blendende Trugschlüsse aufzuheben. In der Theorie war ihr Hauptgrundsatz: Man kann alles beweisen und alles wiederlegen, und in der Ausübung: Man muß von der Thorheit anderer, und seiner eigenen Ueberlegenheit, so viel Vortheil ziehen, als man nur kann. Diese letztere Maxime hielten sie zwar, wie leicht zu erachten, vor dem Volke geheim, und vertrauten dieselbe nur ihren Lieblingen, die an ihrem Gewerbe Theil nehmen sollten; allein die Moral, die sie öffentlich lehrten, war nichts destoweniger für das Herz der Menschen eben so verderblich, als ihre Politik für die Rechte, Freyheit und Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts.

Da sie listig genug waren, das herrschende Religionssystem mit ihrem Interesse zu verwickeln: so gehörte nicht nur Entschlossenheit und Heldenmuth dazu, ihren Betrügereyen Einhalt zu thun, sondern ein wahrer Tugendfreund durfte es ohne die behutsamste Vorsichtigkeit nicht wagen. Es ist kein Religionssystem so verderbt, das nicht wenigstens einigen Pflichten der Menschheit eine gewisse Heiligung giebt, die der Menschenfreund verehren, und der Sittenverbesserer, wann er nicht seiner eigenen Absicht zuwider handeln will, unangetastet lassen muß. Von Zweifel in Religionssachen zur Leichtsinnigkeit, von Vernachläßigung des äußerlichen Gottesdienstes zur Geringschätzung alles Gottesdienstes überhaupt, pflegt der Uebergang sehr leicht zu seyn, besonders für Gemüther, die nicht unter der Herrschaft der Vernunft stehn, sondern von Geiz, Ehrsucht oder Wollust regieret werden. Die Priester des Aberglaubens verlassen sich nur allzusehr auf diesen Hinterhalt, und nehmen zu demselben, wie zu einem unverletzlichen Heiligthum, ihre Zuflucht, so oft ein Angriff auf sie geschiehet.

Solche Schwierigkeiten und Hindernisse standen dem Sokrates im Wege, als er den großen Entschluß faßte, Tugend und Weisheit unter seinen Nebenmenschen zu verbreiten. Er hatte, von der einen Seite, seine eignen Vorurtheile der Erziehung zu besiegen, die Unwissenheit[15] anderer zu beleuchten, Sophisterey zu bestreiten, Bosheit, Neid, Verleumdung und Beschimpfung von Seiten seiner Gegner auszuhalten, Armuth zu ertragen, festgesetzte Macht zu bekämpfen, und, was das schwerste war, die finstern Schrecknisse des Aberglaubens zu vereiteln. Von der andern Seite waren die schwachen Gemüther seiner Mitbürger zu schonen, Aergernisse zu vermeiden, und der gute Einfluß, den selbst die albernste Religion auf die Sitten der Einfältigen hat, nicht zu verscherzen. Alle diese Schwierigkeiten überstand er mit der Weisheit eines wahren Philosophen, mit der Geduld eines Heiligen, mit der uneigennützigen Tugend eines Menschenfreundes, mit der Entschlossenheit eines Helden, auf Unkosten und mit Verlust aller weltlichen Güter und Vergnügungen. Gesundheit, Macht, Bequemlichkeit, Leumund, Ruhe und zuletzt das Leben selbst, gab er auf die liebreichste Weise für das Wohl seiner Nebenmenschen hin. So mächtig wirkte in ihm die Liebe zur Tugend und Rechtschaffenheit, und die Unverletzlichkeit der Pflichten gegen den Schöpfer und Erhalter der Dinge, den er durch das reine Licht der Vernunft auf die lebendigste Art erkannte.

Diese höheren Aussichten des Weltbürgers hielten ihn indessen nicht ab, die gemeineren Pflichten gegen sein Vaterland zu erfüllen. In seinem sechs und dreyßigsten Jahre that er Kriegesdienste wider die Potidäer, die Einwohner einer Stadt in Thrazien, die sich wider ihre Tributherrn, die Athenienser, empört hatten. Allhier versäumete er die Gelegenheit nicht, seinen Körper wider alle Beschwerlichkeiten des Kriegs und Rauhigkeit der Jahreszeit abzuhärten, und seine Seele in Unerschrockenheit und Verachtung der Gefahr zu üben. Er trug, durch die allgemeine Einstimmung seiner Mitwerber selbst, den Preis der Tapferkeit davon, überließ aber denselben dem Alcibiades, den er liebte, und hiedurch aufmuntern wollte, solche Ehrenbezeigungen von seinem Vaterlande künftighin durch eigene Thaten zu verdienen. Kurz vorher hatte er ihm in einem Gefechte das Leben gerettet. Man belagerte die Stadt Potidäa in der strengsten Kälte. Andere verwahrten sich wider den Frost, er blieb bey seiner gewöhnlichen Kleidung, und gieng mit bloßen Füßen über das Eis. Die Pest wütete in dem Lager und in Athen selbst. Es ist fast nicht zu glauben, was Diogenes Laertius und Aelian versichern: Sokrates soll der einzige gewesen seyn, den sie gar nicht angegriffen. Ohne aus diesem Umstande, der ein bloßer Zufall hat seyn[16] können, etwas zu schließen, kann man überhaupt mit Gewißheit sagen, daß er von einer starken und dauerhaften Leibesbeschaffenheit gewesen, und solche durch Mäßigkeit, Uebung und Entfernung von aller Weichlichkeit so zu erhalten gewußt hat, daß er wider alle Zufälle und Beschwerlichkeit des Lebens abgehärtet war. Gleichwohl hat er auch im Felde nicht unterlassen, seine Seelenkräfte nicht nur zu üben, sondern äußerst anzustrengen. Man sah ihn zuweilen vier und zwanzig Stunden auf eben der Stelle, mit unverwandten Blicken, in Gedanken vertieft stehn, als wenn der Geist von seinem Körper abwesend wäre, sagt Aulus Gellius. Man kann nicht läugnen, daß diese Entzückungen eine Anlage zur Schwärmerey gewesen, und man findet in seinem Leben mehrere Spuren, daß er nicht völlig davon befreyet gewesen. Indessen war es eine unschädliche Schwärmerey, die weder Hochmuth noch Menschenhaß zum Grunde hatte, und die in der Verfassung, in welcher er sich befand, ihm sehr nützlich gewesen seyn mag. Die gemeinen Kräfte der Natur reichen vielleicht nicht hin, den Menschen zu so großen Gedanken und standhaften Entschließungen zu erheben.

Nach geendigtem Feldzuge kehrte er in seine Vaterstadt zurück, und fieng an mit Nachdruck Sophisterey und Aberglauben zu bekämpfen, und seine Mitbürger in Tugend und Weisheit zu unterrichten. Auf öffentlichen Straßen, Spaziergängen, in Bädern, Privathäusern, Werkstätten der Künstler, wo er nur Menschen fand, die er bessern zu können glaubte, da hielt er sie an, ließ sich mit ihnen in Gespräche ein,4 erklärte ihnen, was recht und unrecht, gut und böse, heilig und unheilig sey; unterhielt sie von der Vorsehung und Regierung Gottes, von den Mitteln ihm zu gefallen, von der Glückseligkeit des Menschen, von den Pflichten eines Bürgers, eines Hausvaters, eines Ehemannes u.s.w. Alles dieses niemals in dem aufdringenden Ton[17] eines Lehrers, sondern als ein Freund, der die Wahrheit selbst erst mit uns suchen will. Er wußte es aber durch die einfältigsten Kinderfragen so einzuleiten, daß man von Frage zu Frage, ohne sonderliche Anstrengung, ihm folgen konnte, ganz unvermerkt aber sich am Ziele sah, und die Wahrheit nicht gelernet, sondern selbst erfunden zu haben glaubte. Ich ahme hierinn meiner Mutter nach, pflegte er im Scherze zu sagen: Sie gebieret selbst nicht mehr, aber sie besitzet Kunstgriffe, wodurch sie andern ihre Geburten zur Welt bringen hilft. Auf eine ähnliche Weise versehe ich bey meinen Freunden das Amt eines Geburtshelfers. Ich frage und forsche so lange, bis die verborgene Frucht ihres Verstandes ans Licht kömmt.

Diese Methode, die Wahrheit zu erfragen, war auch die glücklichste, die Sophisten zu widerlegen. Wenn es zu einem ausführlichen Vortrage kam, so war ihnen nicht beyzukommen. Denn da standen ihnen so viel Ausschweifungen, so viel Mährchen, so viel Scheingründe, und so viel rednerische Figuren zu Gebote, daß die Zuhörer verblendet wurden, und überzeugt zu seyn glaubten. Ein allgemeines Händeklatschen pflegte ihnen selten zu entstehen. Und man stelle sich den triumphirenden Blick vor, mit welchem solche Lehrer alsdann auf ihre Schüler, oder wohl gar Wiedersacher, herabsahen. Was that Sokrates bey einer solchen Gelegenheit? Er klatschte mit; wagte aber einige gar leichte von der Sache etwas entfernte Fragen, die der hochgelehrte Mann für albern hielt, und aus Mitleiden beantwortete. Nach und nachschlich er sich der Sache näher, immer mit Fragen, und immer indem er seinem Gegner die Gelegenheit abschnitt, in anhaltende Reden auszuschweifen. Dadurch wurden sie genöthigt, die Begriffe deutlich auseinander zu setzen, richtige Erklärungen gelten, und aus ihren falschen Voraussetzungen ungereimte Folgerungen ziehen zu lassen. Zuletzt sahen sie sich so in die Enge getrieben, daß sie ungeduldig wurden. Er aber ward es niemals, sondern ertrug ihre Unart selbst mit der größten Gelassenheit, fuhr fort die Begriffe zu entwickeln, bis endlich die Ungereimtheiten, die aus den Grundsätzen der Sophisten folgten, dem einfältigsten Zuhörer handgreiflich wurden. Auf solche Weise wurden sie ihren eignen Schülern zum Gelächter.

In Ansehung der Religion scheint er folgende Maxime vor Augen gehabt zu haben. Jede falsche Lehre oder Meynung, die offenbar zur Unsittlichkeit führet, und also der Glückseligkeit des menschlichen[18] Geschlechts entgegen ist, wurde von ihm auf keinerley Weise verschont, sondern öffentlich, im Beyseyn der Heuchler, Sophisten und des gemeinen Volks, bestritten, lächerlich gemacht, und in ihren ungereimten und abscheulichen Folgen gezeigt. Von dieser Art waren die Lehren der Fabeldichter von den Schwachheiten, Ungerechtigkeiten, schändlichen Begierden und Leidenschaften, die sie ihren Göttern zuschrieben. Ueber dergleichen Sätze, so wie über unrichtige Begriffe von der Vorsehung und Regierung Gottes, auch über die Belohnung des Guten und die Bestrafung des Bösen war er niemals zurückhaltend, niemals, selbst zum Scheine nicht, zweifelhaft, sondern allezeit entschlossen, die Sache der Wahrheit mit der größten Unerschrockenheit zu verfechten, und, wie der Erfolg gezeigt, sein Bekentniß mit dem Tode zu versiegeln. Eine Lehre aber, die bloß theoretisch falsch, und den Sitten so großen Schaden nicht bringen konnte, als von einer Neuerung zu befürchten war, ließ er unangefochten, bekannte sich vielmehr öffentlich zu der herrschenden Meynung, beobachtete die darauf gegründeten Ceremonien und Religionsgebräuche, vermied hingegen alle Gelegenheit zu einer entscheidenden Erklärung; und wann ihr nicht auszuweichen war, so hatte er eine Zuflucht in Bereitschaft, die ihm niemals entstehen konnte: er schützte seine Unwissenheit vor.

Hierunter begünstigte ihn vorzüglich die Methode zu lehren, die er, wie wir gesehen, aus andern Absichten gewählt hatte. Denn da er seine Lehren niemals mit dem Hochmuthe eines alleswissenden Mannes ankündigte, da er vielmehr nichts selbst behauptete, sondern allezeit die Wahrheit durch Fragen von seinen Zuhörern herauszulocken suchte: so war ihm erlaubt, das nicht zu wissen, was er nicht wissen konnte, oder durfte. Die Eitelkeit, auf alle Fragen eine Antwort zu wissen, hat so manchen großen Geist verführt, Dinge zu behaupten, die er in dem Munde eines andern getadelt haben würde. Sokrates war von dieser Eitelkeit weit entfernt. Von Dingen, die über seinen Horizont waren, gestand er mit der naivesten Freymüthigkeit: Dieses weiß ich nicht; und wann er merkte, daß ihm Fallen gelegt wurden, und gewisse Geständnisse abgelockt werden wollten, so zog er sich aus dem Spiele, und sagte: Nichts weiß ich! Das Orakel zu Delphi erklärte ihn für den weisesten unter allen Sterblichen. »Wißt ihr, sprach Sokrates, warum Apollo mich für den größten Weisen auf Erden hält? Weil andere mehrentheils[19] etwas zu wissen glauben, was sie nicht wissen. Ich aber sehe wohl ein und gestehe, daß alles, was ich weiß, darauf hinausläuft, daß ich nichts weiß

Der Ruhm des Sokrates, verbreitete sich in ganz Griechenland, und es kamen die angesehensten und gelehrtesten Männer von allen Gegenden zu ihm, um seines freundschaftlichen Umgangs und Unterrichts zu genießen. Die Begierde ihn zu hören, war unter seinen Freunden so groß, daß mancher sein Leben wagte, um nur täglich bey ihm zu seyn. Die Athenienser hatten bey Lebensstrafe verboten, daß sich kein Megarenser auf ihrem Gebiete betreten lassen sollte. Euklides von Megara, ein Freund und Schüler des Sokrates, ließ sich dadurch nicht abhalten seinen Lehrer zu besuchen. Des Nachts gieng er, in bunte Weiberkleider gehüllt, von Megara nach Athen, und des Morgens, ehe es Tag war, gieng er wieder seine zwanzig tausend Schritte zurück nach Hause. Bey dem allen lebte Sokrates in der äußersten Armuth und Dürftigkeit, und wollte sich nichts für seinen Unterricht bezahlen lassen, obgleich die Athenienser so lehrbegierig waren, daß sie sichs große Summen würden haben kosten lassen, wann er auf Belohnung gedrungen hätte. Die Sophisten wußten von dieser Bereitwilligkeit schon bessern Gebrauch zu machen.

Es muß ihm desto mehr Ueberwindung gekostet haben, diese Dürftigkeit zu ertragen, da seine Frau, die berüchtigte Xantippe, eben nicht die genügsamste Hausfrau gewesen, und er auch für Kinder zu sorgen gehabt, die ihre Verpflegung von seiner Hand erwarteten. Es ist zwar noch nicht ausgemacht, daß die Xantippe von so böser Gemüthsart gewesen, als man gemeiniglich glaubet. Die Mährchen, die zu ihrer Beschimpfung bekannt sind, rühren von spätem Schriftstellern her, die sie nur vom Hörensagen haben konnten. Plato und Xenophon, die am besten davon unterrichtet seyn mußten, scheinen sie als eine mittelmäßige Frau gekannt zu haben, von der sich weder viel gutes noch viel böses sagen läßt. Ja man wird in folgendem Gespräche nach dem Plato finden, daß sie, an dem letzten Tage des Sokrates, mit ihrem Kinde bey ihm im Kerker gewesen, und sich außerordentlich über seinen Tod betrübt hat. Alles was man sonst bey diesen glaubwürdigsten Schriftstellern zu ihrem Nachtheile findet, ist etwa eine Stelle in dem Tischgespräche Xenophons, wo jemand den Sokrates fragt, warum er sich eine Frau genommen,[20] die so wenig umgänglich wäre? worauf dieser in seinem gewöhnlichen Tone antwortet: »Wer mit Pferden umgehen lernen will, der wählet sich zu seiner Uebung kein geduldiges Lastthier, sondern ein muthiges Roß, das schwer zu bändigen ist. Ich, der ich mit Menschen umgehen lernen will, habe mir aus eben der Ursache eine Hausfrau gewählt, die unverträglich ist, um die verschiedene Laune der Menschen desto besser ertragen zu lernen.« An einer andern Stelle läßt eben dieser Schriftsteller den Sohn des Sokrates, den Lamproklus, sich gegen seinen Vater über die harte Begegnung, mürrische Gemüthsart und unerträgliche Laune seiner Mutter beschweren. Allein aus der Antwort des Sokrates erhellet, zu ihrem Lobe, daß sie, bey ihrem zänkischen Gemüthe, die Pflichten einer Hausmutter gleichwohl sorgfältig beobachtet, und ihre Kinder geliebt, und gehörig verpflegt hat. Dieses Zeugniß ihres Ehemannes widerlegt offenbar alle schimpfliche Histörchen, die man auf ihre Unkosten ersonnen, und wodurch man sie der Nachwelt als ein Beyspiel eines bösen Weibes aufgestellt hat. Man kann mit gutem Grunde glauben, daß Sokrates seine Kunst mit Menschen umzugehen an seiner Ehegenoßinn nicht vergebens geübt hat; daß er vielmehr durch unermüdete Geduld, Gefälligkeit, Sanftmuth, und durch seine unwiderstehlichen Ermahnungen die Härte ihres Temperaments überwunden, ihre Liebe gewonnen, und sie dergestalt gebessert haben wird, daß sie aus einem unverträglichen Weibe, eine gute Hausmutter, und, wie ihre Aufführung vor seinem Ende ausweiset, eine zärtliche Ehefrau geworden. Dem sey indessen wie ihm wolle, so müssen ihm seine häußlichen Umstände die Armuth weit beschwerlicher gemacht haben; da er nicht sich allein, sondern einer ganzen Familie, und vielleicht einer unzufriedenen und über seine strenge Genügsamkeit sich beklagenden Familie, von seinem Thun und Lassen Rechenschaft zu geben hatte. Niemand war besser von den Pflichten eines Hausvaters unterrichtet, als Sokrates. Er wußte wohl, daß ihm obliege, so viel zu erwerben und anzuschaffen, als zum ehrlichen Auskommen für seine Familie nöthig sey, und er hat diese natürliche Pflicht seinen Freunden sehr oft eingeschärft. Allein was ihn selbst betraf, so stand ihm eine höhere Pflicht im Wege, die ihn verhinderte, jener Genüge zu leisten. Das Verderbniß der Zeiten, da alles des feilen Gewinnstes halber geschahe, und insbesondere die niederträchtige Habsucht der Sophisten, die ihre verderblichen Lehren[21] um baares Geld verkauften, und die schändlichsten Mittel anwendeten, sich auf Unkosten des betrogenen Volks zu bereichern: diese legten ihm die Verbindlichkeit auf, ihnen die äußerste Uneigennützigkeit entgegen zu setzen, damit seine reinen und unbefleckten Absichten keiner übeln Auslegung fähig seyn möchten. Er wollte lieber darben, und, wenn ihn der Mangel zu sehr drückte, von Almosen leben, als durch sein Beyspiel den schmuzigen Geldgeiz dieser falschen Weisheitslehrer nur einigermaßen rechtfertigen.

Er unterbrach diese wohlthätigen Beschäfftigungen, und zog abermals freywillig mit zu Felde wider die Boeotier. Die Athenienser verloren eine Schlacht bey Delium, und wurden aufs Haupt geschlagen. Sokrates zeigte seine Tapferkeit so wohl im Treffen, als auf dem Rückzuge. »Hätte jedermann seine Pflicht so gethan, wie Sokrates, spricht der Feldherr Laches beym Plato, so wäre der Tag gewiß nicht unglücklich für uns gewesen.« Als alles floh, gieng er auch zurück, aber Schritt vor Schritt, und indem er sich öfters um kehrte, um einem Feinde, der ihm etwa auf den Hals käme, Wiederstand zu thun. Er fand den Xenophon, der vom Pferde gefallen und verwundet war, unterwegens liegend, nahm ihn auf seine Schulter, und brachte ihn in Sicherheit.

Die Priester, Sophisten, Redner und andre, die dergleichen feile Künste trieben, Leute, denen Sokrates ein Dorn im Auge seyn mußte, machten sich desselben Abwesenheit zu Nutz, und suchten die Gemüther wider ihn aufzubringen. Bey seiner Zurückkunft fand er eine geschlossene Partey, der kein Mittel ihm zu schaden zu niederträchtig war. Sie mietheten, wie man zu glauben Ursach hat, den Komödienschreiber Aristophanes, daß er durch ein Possenspiel, das man damals Komödie nannte, den Sokrates verhaßt und lächerlich zu machen suchte, um das gemeine Volk theils auszuholen, theils vorzubereiten, und wann der Streich gelänge, ein mehreres zu wagen. Diese Fratze führte den Namen die Wolken. Sokrates war die Hauptperson, und die Figur, die diese Rolle machte, gab sich Mühe ihn nach dem Leben zu konterfeyen. Kleidung, Gang, Geberde, Stimme, alles äffte er natürlich nach. Das Stück selbst hat sich, zur Ehre des verfolgten Weltweisen, bis auf unsre Zeiten erhalten. Man kann sich kaum etwas ungezogeners gedenken.

Sokrates pflegte sonst niemals das Theater zu besuchen, außer wann die Stücke des Euripides, (daran er selbst, wie einige[22] wollen, Antheil gehabt) aufgeführt wurden. Den Tag, da dieses Pasquill aufgeführt werden sollte, gieng er gleichwohl hinein. Er hörte, daß viele Fremde, die zugegen waren, sich erkundigten, wer dieser Sokrates im Original sey, der auf der Bühne so gehöhnt werde? Er trat mitten im Schauspiel hervor, und blieb, bis ans Ende des Stücks, auf einer Stelle stehn, wo ihn jedermann sehen und mit der Kopey vergleichen konnte. Dieser Streich war für den Dichter und seine Komödie tödtlich. Die possenhaftesten Einfälle thaten keine Wirkung mehr: denn das Ansehn des Sokrates erregte Hochachtung und eine Art von Erstaunen über seine Unerschrockenheit. Auch fand das Stück keinen Beyfall. Der Dichter veränderte es, und brachte es das folgende Jahr wieder auf die Bühne, aber mit eben so schlechtem Erfolge. Die Feinde des Weltweisen sahen sich genöthiget, die vorgehabte Verfolgung bis auf eine günstigere Zeit zu verschieben.

Kaum war der Krieg mit den Boeotiern geendiget, so mußten die Athenienser schon ein neues Heer anwerben, um dem Lacedämonischen Feldherrn Brasidas Einhalt zu thun, der in Thrazien verschiedene Städte, und unter andern die wichtige Stadt Amphipolis ihrer Herrschaft entzogen hatte. Sokrates ließ sich die Gefahr, in die ihn seine letzte Abwesenheit gesetzt, nicht abhalten, dem Vaterlande abermals zu die nen. Dieses war das letzte mal daß er seine Vaterstadt verlassen hatte. Nach der Zeit kam er, bis an sein Ende, nicht aus dem Gebiete der Athenienser, und unterließ niemals, der Jugend, die ihn suchte, seinen freundschaftlichen Umgang zu gönnen, und ihr durch Lehren und gutes Exempel die Liebe zur Tugend einzuflößen. Wie er aber überall ein großer Freund und Liebhaber der Schönheit war, so schien er in der Wahl seiner Freunde auch auf körperliche Schönheit zu sehen. Ein schöner Körper, pflegte er zu sagen, verspricht eine schöne Seele, und wenn sie der Erwartung nicht zusagt, so muß sie verwahrlost worden seyn. Daher er sich denn viele Mühe gab, das Inwendige dieser Personen mit ihrem wohlgebildeten Aeußerlichen übereinstimmend zu machen. Niemand aber war ihm so angelegen, als Alcibiades, ein junger Mensch von ungemeiner Schönheit und von großen Talenten, der hochfahrend, muthig, leichtsinnig und überaus feuriges Temperaments war. Diesen verfolgte er unermüdet, ließ sich bey allen Gelegenheiten mit ihm in Unterredung ein, um ihn durch freundschaftliche[23] Ermahnungen und liebreiche Verweise von den Ausschweifungen des Ehrgeizes und der Wollust, wozu er von Natur sehr geneigt war, abzuhalten. Plato läßt ihn bey dieser Gelegenheit öfters Ausdrücke brauchen, die beynahe verliebt scheinen: daher man in spätern Zeiten Gelegenheit genommen, den Sokrates eines sträflichen Umgangs mit jungen Leuten zu beschuldigen. Allein die Feinde des Sokrates selbst, Aristophanes in der Komödie, und Melitus in seiner Anklage, thun hiervon nicht die geringste Erwähnung. Melitus beschuldigt ihn zwar, daß er die Jugend verderbe, allein, wie aus der Antwort des Sokrates gar deutlich erhellet, gieng dieses auf die Gesetze der Religion und der Politik, gegen welche er die Jugend gleichgültig gemacht haben sollte. Gesetzt auch, die damalige Verderbniß der Sitten wäre so weit gegangen, daß man dieses widernatürliche Laster beynahe für natürlich gehalten, so hätten seine Feinde dennoch diesen Umstand nicht ganz verschwiegen, wenn es nicht offenbar unmöglich gewesen wäre, das Muster der Keuschheit und Enthaltsamkeit einer so viehischen Geilheit zu beschuldigen. Man lese die strengen Vorwürfe, die er dem Kritias und Kritobulus machet; man lese das Zeugniß, das ihm der muthwillige, halbberauschte Alcibiades, in Platons Tischgespräche, giebt. Das Stillschweigen der Feinde und Verläumder, und das positive Zeugniß seiner Freunde vom Gegentheil, lassen keinen Zweifel zurück, daß die Beschuldigung ungegründet und eine strafbare Verläumdung sey. Die Ausdrücke des Plato, so fremde sie auch in unsern Ohren klingen, beweisen weiter nichts, als daß diese unnatürliche Galanterie damals die Modesprache gewesen, wie etwa der ernsthafteste Mann in unsern Zeiten sich nicht entbrechen würde, wenn er an ein Frauenzimmer schreibt, wie verliebt zu thun.

Ueber den Genius, den er zu besitzen vorgab, und der ihn, wie er sagte, allzeit abhielt, wenn er etwas Schädliches unternehmen wollte, sind die Meynungen der Gelehrten getheilt. Einige glauben, Sokrates habe sich hierum eine kleine Erdichtung erlaubt, um bey dem abergläubischen Volk Gehör zu finden; allein dieses scheint mit seiner gewöhnlichen Aufrichtigkeit zu streiten. Andre verstehen unter diesem Genius ein geschärftes Gefühl vom Guten und Bösen, eine durch Nachdenken, durch lange Erfahrung und anhaltende Uebung zum Instinkt gewordene moralische Beurtheilungskraft, vermöge welcher er jede freye Handlung nach ihren muthmaßlichen Folgen und[24] Wirkungen prüfen und beurtheilen konnte, ohne sich selbst von seinem Urtheil Rechenschaft geben zu können. Man findet aber beym Xenophon so wohl als Plato verschiedene Vorfälle, wo dieser Geist dem Sokrates Dinge vorher gesagt, die sich aus keiner natürlichen Kraft der Seele erklären lassen. Vielleicht sind diese von seinen Schülern aus guter Meynung hinzu gesetzt worden; vielleicht auch hatte Sokrates, der, wie wir gesehen, zu Entzückungen aufgelegt war, selbst Schwachheit oder schwärmende Einbildungskraft genug, dieses lebhafte moralische Gefühl, das er nicht zu erklären wußte, in einen vertraulichen Geist umzuschaffen, und ihm hernach auch diejenigen Ahndungen zuzuschreiben, die aus ganz andern Quellen entspringen. Muß denn ein vortrefflicher Mann nothwendig von allen Schwachheiten und Vorurtheilen frey seyn? In unsern Tagen ist es kein Verdienst mehr, Geistererscheinungen zu verspotten. Vielleicht hat zu den Zeiten des Sokrates eine Anstrengung des Genies dazu gehört, die er nützlicher angewendet hat. Er war ohnedem gewohnt, ieden Aberglauben zu dulden, der nicht unmittelbar zur Unsittlichkeit führen konnte, wie bereits oben erinnert worden.

Die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts war sein einziges Studium. So bald ein Vorurtheil oder Aberglaube zur offenbaren Gewaltthätigkeit, Kränkung der menschlichen Rechte, Verderbniß der Sitten u.s.w. Anlaß gab: so konnte ihn nichts in der Welt abhalten, aller Drohung und Verfolgung zum Trotze, sich dawider zu erklären. Es war unter den Griechen ein hergebrachter Aberglaube, daß die Schatten der unbegrabenen Todten am Ufer des Styx hundert Jahre rastlos herumirren müßten, bevor sie herüber gelassen würden. Dieser Wahn mag dem rohen Volk von dem ersten Stifter der Gesellschaft aus löblichen Absichten beygebracht worden seyn. Indessen hat er zu den Zeiten des Sokrates, durch einen schändlichen Mißbrauch, manchen wackern Patrioten das Leben gekostet. Die Athenienser hatten bey den Arginusinischen Inseln über die Lacedämonier einen vollkommenen Sieg erhalten. Die Befehlshaber der siegenden Flotte wurden aber durch einen Sturm abgehalten, ihre Todten zu begraben. Bey ihrer Rückkunft nach Athen wurden sie, auf die undankbarste Weise, dieser Unterlassung halben öffentlich angeklagt. Sokrates hatte denselben Tag den Vorsitz in dem Senat der Prytanen, welche die öffentlichen Angelegenheiten zu besorgen hatten. Die Bosheit einiger Mächtigen im Reiche, die Heucheley[25] der Priester und die Niederträchtigkeit feiler Redner und Demagogen, hatten sich vereinigt, den blinden Eyfer des Volks wider diese Beschützer des Staats aufzubringen. Das Volk drang mit Ungestüm auf ihre Verdammung. Ein Theil des Senats war selbst von diesem pöbelhaften Wahne bethört; und der Ueberrest hatte nicht Muth genug, sich der allgemeinen Raserey zu widersetzen. Alles willigte darein, diese unglücklichen Patrioten zum Tode zu verurtheilen. Nur Sokrates allein hatte die Herzhaftigkeit, ihre Unschuld zu vertheidigen. Er verachtete die Drohungen der Mächtigen, und die Wut des aufgebrachten Pöbels, stand ganz allein auf der Seite der verfolgten Unschuld, und wollte lieber das Aergste über sich ergehen lassen, als in eine so heillose Ungerechtigkeit willigen. Wiewohl alle seine Bemühungen zu ihrem Besten dennoch fruchtlos abliefen. Er hatte den Verdruß, zu sehen, daß der blinde Eyfer die Oberhand erhielt, und daß die Republik sich selbst die Schmach anthat, ihre tapfersten Beschützer einem übelverstandenen Vorurtheil aufzuopfern. Das Jahr darauf wurden die Athenienser von den Lacedämoniern auf das Haupt geschlagen, ihre Flotte zu Grunde gerichtet, ihre Hauptstadt belagert und dergestalt aufs Aeußerste gebracht, daß sie sich den Siegern auf Gnade und Ungnade ergeben mußte. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Mangel an erfahrenen Anführern auf Seiten der Athenienser an dieser Niederlage nicht wenig Schuld gewesen.

Lysander, der Feldherr der Lacedämonier, der die Stadt eingenommen hatte, begünstigte eine in derselben entstandene Empörung, verwandelte die demokratische Regierungsform in eine Oligarchie, und setzte einen Rath von dreyßig Männern, die unter dem Namen der dreyßig Tyrannen bekannt sind. Die grausamsten Feinde hätten in der Stadt so nicht wüten können, als diese Ungeheuer gewütet haben. Unter dem Vorwande, Staatsverbrechen und Meuterey zu bestrafen, wurden die rechtschaffensten Leute im Staat ihres Lebens oder ihres Vermögens beraubt. Plündern, rauben, verbannen, diesen öffentlich, jenen meuchelmörderisch hinrichten lassen, waren Thaten, mit welchen sie ihre Regierung bezeichneten. Wie mußte das Herz des Sokrates bluten, den Kritias, der vormals sein Schüler war, an der Spitze dieser Scheusale zu sehen! Ja, dieser Kritias, sein vormaliger Freund und Zuhörer, zeigte sich nunmehr als seinen offenbaren Feind, und suchte Gelegenheit, ihn zu verfolgen. Der[26] weise Mann hatte ihm einst seine viehische und widernatürliche Geilheit mit harten Worten verwiesen, und seit der Zeit trug ihm der Unmensch einen heimlichen Groll nach, der jetzo auszubrechen Gelegenheit suchte.

Als er und Charikles zu Gesetzgebern ernennt wurden, führten sie, um eine Ursach an dem Sokrates zu finden, das Gesetz ein, daß niemand in der Redekunst unterrichten sollte. Sie erfuhren darauf, daß sich Sokrates mit Worten wider sie vergangen, und verschiedentlich habe verlauten lassen, es wäre zwar wunderbar, wenn Hirten die ihnen anvertraute Heerde kleiner und magerer machten, und dennoch nicht für schlechte Hirten wollten gehalten seyn: aber weit wunderbarer wäre es, wenn die Vorsteher eines Staats die Bürger weniger und schlechter machten, und dennoch nicht schlechte Vorsteher seyn wollten. Sie ließen ihn kommen, zeigten ihm das Gesetz, und verboten ihm mit jungen Leuten sich in Unterredung einzulassen. »Ist es erlaubt, versetzte Sokrates, eines und das andere zu fragen, das mir in diesem Verbote nicht deutlich genung ist?« – »O ja!« antwortete man. – »Ich bin bereit, erwiederte er, dem Gesetze zu folgen, und befürchte nur aus Unwissenheit dawider zu verstoßen: ich bitte daher um eine deutlichere Erklärung, ob ihr unter der Redekunst, eine Kunst recht zu reden, oder unrecht zu reden versteht? Ist jenes: so muß ich mich enthalten, jemanden zu sagen, wie er recht reden soll; ist aber dieses: so werde ich niemand unterweisen, wie er unrecht reden soll.«

Charikles entrüstete sich, und sprach: »Wenn du dieses nicht verstehest, so haben wir dir es faßlicher gemacht, und schlechterdings verboten, mit jungen Leuten zu reden.« – »Damit ich aber auch hierinn wisse, wie ich mich zu verhalten habe, sprach Sokrates: so bestimmt mir die Zeit, wie lange ihr die Menschen für junge Leute haltet?« »So lange sie nicht im Rathe sitzen können, antwortete Charikles, das ist, so lange sie nicht zu reifem Verstande gekommen sind, nehmlich bis zu dreyßig Jahren.«

»Wenn ich aber etwas kaufen will, erwiederte Sokrates, das ein junger Mensch unter dreyßig Jahren zu verkaufen hat, soll ich nicht fragen, wie theuer?« »Dieses ist dir nicht verboten, sprach Charikles; aber du fragst manchmal Dinge, die du gar wohl weißt: solcher Fragen enthalte dich ferner!« – »Und antworten? sprach Sokrates weiter. Wenn ein junger Mensch mich fragt, wo Charikles oder Kritias wohne?[27] darf ich ihm hierauf antworten?« – »Ja, ja, sprach Kritias; aber enthalte dich der abgenutzten Beispiele und Gleichniße von Riemenschneidern, Zimmerleuten und Schmieden.« »Vermuthlich, erwiederte Sokrates, auch der Begriffe, die ich durch diese Beyspiele zu erläutern pflege, von der Gerechtigkeit, Heiligkeit, Frömmigkeit, u.s.w.?« »Ganz recht! antwortete Charikles, und vor allen Dingen auch der Viehhirten. Merke dir das! oder ich befürchte, du wirst auch die Heerde kleiner machen.«

Sokrates achtete ihre Drohungen so wenig, als ihr ungereimtes Gesetz, das sie, der gesunden Vernunft und dem Gesetz der Natur schnurstracks zuwider, keine Befugniß gehabt einzuführen. Er setzte seine Bemühungen zum Besten der Tugend und Gerechtigkeit mit dem unermüdetesten Eifer fort, und die Tyrannen unterstunden sich gleichwohl nicht, ihm so gerade auf den Leib zu kommen. Sie suchten Umwege, und wollten ihn mit in ihre Ungerechtigkeiten verwickeln: trugen ihm daher nebst vier andern Bürgern auf, den Leon von Salamin nach Athen zu bringen, um ihn hinrichten zu lassen. Die andern übernahmen den Auftrag; Sokrates aber erklärte sich, daß er niemals zu einer ungerechten Sache die Hände bieten werde. So willst du denn, sprach Charikles, Freyheit haben, zu reden, was du willst, und gar nichts dafür leiden? Alles mögliche Uebel, antwortete er, will ich dafür leiden, nur das nicht, jemanden Unrecht zu thun. Charikles schwieg, und die übrigen sahen sich einander an. Diese Freiheiten würden den Sokrates am Ende dennoch das Leben gekostet haben, wenn nicht das Volk, der Grausamkeit dieser Tyrannen müde, einen Aufstand erregt, ihre vornehmsten Anführer umgebracht, und die übrigen zur Stadt hinaus gejagt hätte.

Unter der wiederhergestellten demokratischen Regierung fanden die alten Feinde des Sokrates, die Sophisten, Priester und Redner, die längst erwünschte Gelegenheit, ihn mit besserm Glück zu verfolgen, und endlich gar aus dem Wege zu räumen. Anytus, Melitus und Lykon, sind die drey zu ihrer Schmach unvergeßliche Namen derer, die sich zur Ausführung dieses schändlichen Vorhabens haben brauchen lassen. Sie brachten die Verläumdung unter das Volk: Sokrates habe dem Kritias die Grundsätze der Tyranney beygebracht, die er neulich mit so unerhörter Grausamkeit ausgeübt hätte. Wer die Leichtgläubigkeit und Unbeständigkeit des Pöbels kennt, wird[28] sich nicht verwundern, daß die Athenienser einer so offenbaren Falschheit Gehör gegeben, ob gleich jedermann wußte, was zwischen dem Sokrates und den Tyrannen vorgefallen. Einige Jahre vorher hatte Alcibiades, der große Talente, aber einen sehr wilden Charakter hatte, in Gesellschaft andrer muthwilligen Jünglinge, die Bildsäule des Merkurs zerschlagen, die Eleusinischen Geheimnisse öffentlich verspottet, und wegen dieses Uebermuths aus seiner Vaterstadt entweichen müssen. Anjetzo wurde diese Geschichte wieder rege gemacht, und von den Feinden des Sokrates ausgestreut, er habe dem jungen Menschen die Verachtung der Religion beygebracht. Nichts war den Lehren und der Aufführung des Sokrates mehr zuwider, als ein solcher Frevel. Den öffentlichen Gottesdienst, so abergläubisch er auch seyn mochte, hat er allezeit in Ehren gehalten; und was die Eleusinischen Geheimnisse betrifft, so rieth er allen seinen Freunden, sich in denselben einweihen zu lassen; ob er gleich selbst seine Ursachen haben mochte, es nicht zu thun. Man hat sehr guten Grund, zu glauben, daß die großem Geheimnisse zu Eleusis nichts anders waren, als die Lehren der wahren natürlichen Religion, und eine vernünftige Auslegung der Fabeln. Wenn Sokrates sich weigerte, die Einweihung anzunehmen, so geschah es, wahrscheinlicher Weise, um die Freyheit zu behalten, diese Geheimnisse ungestraft ausbreiten zu dürfen, die ihm die Priester durch die Einweihung zu entziehen suchten.

Als die Verläumder das Volk durch dergleichen boshafte Ausstreuungen genugsam vorbereitet zu haben glaubten, brachte Melitus eine förmliche Anklage wider den Sokrates an die Obrigkeit der Stadt, welche alsofort dem Volk davon Nachricht gab. Das Gericht der Heliäa wurde zusammen berufen und die gewöhnliche Anzahl der Bürger durch das Loos bestimmt, die den Angeklagten richten sollten. Die Anklage war: Sokrates handelt wider die Gesetze, indem er, 1) die Götter der Stadt nicht verehrt und eine neue Gottheit einführen will, und 2) die Jugend verderbet, der er eine Verachtung alles dessen, was heilig ist, beybringet. Seine Strafe sey der Tod.

Seine Freunde brachten ihm wohlausgearbeitete Reden zu seiner Vertheidigung. »Sie sind sehr schön, sprach er, aber für mich alten Mann schicken sich dergleichen Künste nicht.« »Willst du nicht selbst[29] etwas zu deiner Vertheidigung aufsetzen?« fragten sie ihn. »Die beste Vertheidigung die ich machen kann, antwortete er, ist, daß ich in meinem Leben niemanden Unrecht gethan. Ich habe zu verschiedenen Malen angefangen auf eine Schutzrede zu denken, bin aber allemal von Gott daran verhindert worden. Vielleicht ist es sein Wille, daß ich in diesen Jahren, bevor das hinfällige und einer Krankheit ähnliche Alter kömmt, eines leichtern Todes sterben, und weder meinen Freunden noch mir selbst zur Last werden soll.« In diesen Worten hat jemand vor einiger Zeit den Beweis finden wollen, daß Sokrates feigherzig gewesen, und die Unbequemlichkeiten des Alters, mehr als den Tod, gefürchtet habe. Es gehöret nicht wenig Herzhaftigkeit dazu dem Leser so was einbilden zu wollen!

An dem zu dieser Untersuchung öffentlich anberaumten Tage, erschienen Melitus, Anytus und Lyko, der erste für die Dichter, der zweyte für das Volk, und der letzte für die Redner, bestiegen einer nach dem andern den Rednerstul, und hielten die giftigsten und verleumderischsten Reden wider den Sokrates. Er betrat nach ihnen den Platz, ohne zu zittern oder zu zagen, ohne, nach der damaligen Gewohnheit auf Gerichtsstuben, seine Richter durch einen jämmerlichen Anblick zum Mitleiden bewegen zu wollen; sondern mit dem gesetzten und zuversichtlichen Wesen, das seiner Weisheit anständig war. Er hielt eine zwar ungekünstelte und unvorbereitete, aber männliche und sehr nachdrückliche Rede, in welcher er alle Verleumdungen und boshaften Gerüchte, die man zu seinem Nachtheil ausgestreut, ohne Bitterkeit wiederlegte, seine Ankläger beschämte und in ihren eigenen Beschuldigungen Widersprüche und Ungereimtheiten zeigte. Seinen Richtern begegnete er zwar mit der erforderlichen Ehrerbietigkeit, sprach aber in einem so festen und seines Vorzugs sich bewußten Tone, daß seine Rede öfters durch unzufriedenes Murmeln unterbrochen ward. Er beschloß mit folgenden Worten:

»Werdet nicht ungehalten, Athenienser! daß ich, wider die Gewohnheit der Verklagten, nicht in Thränen zu euch rede, oder meine Kinder, Verwandten und Freunde in einem kläglichen Aufzuge erscheinen lasse, um euch zum Mitleiden zu bewegen. Nicht aus Hochmuth oder Trotz habe ich dieses unterlassen; sondern weil ich es für unanständig halte, einen Richter anzuflehen, und ihn anders, als durch die Rechtmäßigkeit der Sache, einnehmen zu wollen. Der[30] Richter hat sich durch einen Eid verpflichtet, nach Gesetz und Billigkeit zu urtheilen, und sein Mitleiden so wenig als seinen Zorn den Ausspruch thun zu lassen. Wir Angeklagten handeln also wider Recht und Billigkeit, wenn wir euch durch unsre Klagen eidbrüchig zu machen suchen, und wider die Achtung, die wir euch schuldig sind, wenn wir euch fähig halten, es zu werden. Ich will auf keinerley Weise meine Errettung solchen Mitteln zu verdanken haben, die weder recht, noch billig, noch gottesfürchtig sind; vornehmlich da ich vom Melitus so eben der Gottlosigkeit beschuldiget worden bin. Wenn ich durch mein Flehen euch meyneidig zu machen suchete, so wäre dieses der überzeugendste Beweis, daß ich keine Götter glaube; mithin würde mich diese Vertheidigung selbst der Atheisterey überführen. Aber nein! ich bin mehr, als alle meine Ankläger, von dem Daseyn Gottes überzeugt, und ergebe mich daher Gotte und euch, mich nach Wahrheit zu richten, und über mich zu verhängen, was ihr so wohl für euch, als für mich für das Beste haltet.«

Die Richter waren höchst unzufrieden über dieses gesetzte und unerschütterte Wesen, und unterbrachen den Plato, der nach ihm hervortrat, und zu reden begonn. »Ob ich schon der jüngste bin, Athenienser! fieng Plato an, von denen, welche diesen Ort hinaufgestiegen –« Heruntergestiegen riefen sie ihm zu, und ließen ihn seine Rede nicht fortsetzen. Sokrates wurde durch die Mehrheit von drey und dreyßig Stimmen für schuldig erkannt.

Es war die Gewohnheit zu Athen, daß die Verurtheilten sich selbst eine gewisse Strafe, Geldbuße, Gefängniß oder Verbannung auflegen mußten, um dadurch die Billigkeit des Urtheils zu bekräftigen, oder vielmehr ihre Verbrechen einzugestehen. Sokrates sollte wählen; aber er wollte auf keinerley Weise gegen sich selbst so ungerecht seyn, sich für schuldig zu erkennen.

»Wenn ich frey sagen soll, was ich verdient zu haben glaube, so wisset, Athenienser! ich glaube, durch die Dienste, die ich der Republik geleistet, wohl werth zu seyn, daß man mich auf öffentliche Kosten im Prytaneum unterhalte.« Auf Zureden seiner Freunde verstand er sich gleichwohl zu einer kleinen Geldbuße, wollte aber nicht zugeben, daß sie unter sich eine größere Summe zusammen schießen sollten.

Die Richter berathschlageten sich, welche Strafe sie ihm zuerkennen sollten, und die Bosheit seiner Feinde brachte es dahin, daß er zum[31] Tode verurtheilt wurde: »Ihr seyd mit eurem Urtheil sehr voreilig gewesen, Athenienser! sprach Sokrates, und habt dadurch den Verleumdern dieser Stadt Stoff gegeben, euch vorzuwerfen, daß ihr den weisen Sokrates ums Leben gebracht; denn sie werden mich weise nennen, wenn ich es schon nicht bin, um euch destomehr tadeln zu können. Ihr hättet nicht lange warten dürfen, so wäre ich, ohne euer Zuthun, gestorben. Ihr sehet, wie nahe ich schon dem Tode bin5. Euch meyne ich hiermit, die ihr mir den Tod zuerkannt habet! Glaubet ihr etwa, Männer von Athen! daß es mir an Worten gefehlt, euch einzunehmen und zu überreden, wenn ich der Meynung gewesen wäre, man müßte alles thun und alles sprechen, um ein günstiges Urtheil zu erhalten? Gewißlich nicht! Wenn ich unterliege, so ist es nicht aus Mangel an Worten und Vorstellungen, sondern aus Mangel an Unverschämtheit und Niederträchtigkeit, euch solche Dinge hören zu lassen, die euch angenehm zu vernehmen, aber einem rechtschaffenen Manne unanständig sind zu sagen. Heulen, schreyen und andere solche kriechende Ueberredungsmittel, die ihr an andern gewohnt seyd, sind meiner höchst unwürdig. Ich hatte mir gleich Anfangs vorgenommen, lieber das Leben zu verlieren, als es auf eine unedle Weise zu retten. Denn ich halte dafür, daß weder ich noch ein andrer mehr berechtiget sey, vor Gericht alles zu thun, um dem Tode zu entfliehen, als im Kriege. Wie oft hat ein Mann nicht in einem Gefechte Gelegenheit sein Leben zu erretten, wenn er die Waffen von sich werfen und denjenigen, der ihm nachsetzt, um Gnade bitten will. Und so giebt es im menschlichen Leben viele Vorfälle, wo der Tod gar wohl vermieden werden kann, wenn man nur unverschämt genug ist, alles zu thun und zu sagen, was dazu erfodert wird. Dem Tode zu entfliehen, Männer von Athen! ist so schwer nicht, aber der Schande zu entkommen, ist weit schwerer: denn sie ist schneller, als der Tod. Daher kömmt es auch, daß ich langsamer, alter Mann von dem langsamsten ergriffen worden; da hingegen meine Ankläger, die ganz munter und lebhaft sind, von der sehr schnellen Schande eingeholt worden sind. Ich gehe zum Tode, zu welchem ihr mich verurtheilt habet, und sie zur Schmach und Unehre, zu welcher sie von der Wahrheit und Gerechtigkeit verdammt werden. Ich bin mit dem Urtheilsspruche zufrieden,[32] vermuthlich sie auch: mithin gehen die Sachen, recht wie sie sollten, und ich für mein Theil finde die Wege des Schicksals auch hierinn gerecht und verehrungswerth.«

Nachdem er hierauf den Richtern, die ihn verurtheilt, freymüthig, aber ohne Galle, einige Wahrheiten gesagt, wendete er sich zu denjenigen, die für seine Lossprechung gestimmet hatten, und unterhielt sie mit einer Art von Betrachtung über Leben, Tod und Unsterblichkeit, die damals ziemlich der Fassungskraft des gemeinen Volks angemessen gewesen seyn mag. Als er aber mit seinen Schülern und vertrauten Freunden allein war, ließ er sich über eben diese Materie mit mehrerer Gründlichkeit heraus: daher wir unsre Leser, die in folgenden Gesprächen, mit den reifern Gedanken dieses Weltweisen unterhalten werden sollen, mit jener exoterischen Philosophie billig verschonen.

Man führte ihn ins Gefängniß, das, wie Seneka sagt, durch die Gegenwart dieses Mannes seine Schmach verlor, indem das kein Kerker seyn kann, wo ein Sokrates ist. Unterwegs begegneten ihm einige von seinen Schülern, die über dasjenige was ihm widerfahren, ganz untröstlich waren. »Warum weinet ihr? fragte sie der Weise. Hat mich die Natur nicht gleich bey meiner Geburt zum Tode verurtheilt? Wenn mich der Tod einem wahren und ersprießlichen Gute entrissen, so hätte ich, und diejenigen die mich lieben, Ursache, mein Schicksal zu bedauren. Da ich aber hienieden nichts, als Jammer und Elend zurücklasse: so sollten mir meine Freunde zu meiner Reise vielmehr Glück wünschen.«

Apollodorus, der als ein sehr gutherziger Mensch, aber etwas schwacher Kopf beschrieben wird, konnte sich gar nicht zufrieden geben, daß sein Lehrer und Freund so unschuldig sterben müßte. Guter Apollodorus! sprach Sokrates lächelnd, indem er ihm die Hand auf den Kopf legte, würdest du es lieber sehen, wenn ich schuldig sterben müßte? –

Was übrigens im Gefängnisse und in den letzten Stunden des sterbenden Sokrates vorgegangen, wird der Leser in folgenden Gesprächen erfahren. Nur ist noch eine Unterredung mit dem Krito nicht aus der Acht zu lassen, aus welcher Plato ein besonderes Gespräch gemacht hat. Einige Tage vor der Hinrichtung des Sokrates, kam Krito vor Anbruch des Tages zu ihm ins Gefängniß, fand ihn in süßem Schlafe, und setzte sich leise neben sein Bett, um ihn[33] nicht zu stören. Als Sokrates erwachte, fragte er ihn, »warum so früh heute, Freund Krito?« Dieser meldete ihm, er hätte Nachricht, daß den nächsten Tag das Todesurtheil vollzogen werden sollte. »Wenn es der Wille Gottes ist«, antwortete Sokrates, mit seiner gewöhnlichen Gelassenheit, »so sey es! Indessen glaube ich nicht, daß es morgen vor sich gehen werde. Ich hatte, so eben als du zu mir kamst, einen angenehmen Traum. Mir erschien ein Frauenzimmer von ungemeiner Schönheit, in einem langen weißen Gewande, rief mich beym Namen und sprach: In drey Tagen wirst du in dein fruchtbares Phthia anlangen.« Eine feine Anspielung! wodurch er zu verstehen gab, daß er sich nach jenem Leben, wie beym Homer der erzürnte Achilles sich aus dem Lager weg, und nach Phthia, seinem Vaterlande, sehnete. Krito aber, der ganz andre Absichten hatte, entdeckte seinem Freunde, daß er die Wache bestochen, und alles Nöthige vorgekehrt hätte, ihn bey nächtlicher Weile aus dem Gefängnisse zu entführen; und daß es nunmehr nur auf ihn ankäme, ob er einem schimpflichen Tode entkommen wollte. Er suchte ihn auch durch die wichtigsten Vorstellungen zu überführen, daß dieses seine Pflicht und Schuldigkeit sey. Da er seine Liebe für sein Vaterland kannte: so stellte er ihm vor, wie er verbunden wäre zu verhüten, daß die Athenienser nicht unschuldiges Blut vergössen; er führte überdem an, daß ers um seiner Freunde willen thun müßte, die, außer dem Schmerz über seinen Verlust, auch der schmählichen Nachrede würden ausgesetzt bleiben, daß sie seine Befreyung vernachläßiget. Endlich unterließ er auch nicht, ihm ein bewegliches Bild von dem Unglück seiner hülflosen Kinder vorzuhalten, die alsdann seines väterlichen Unterrichts, Beyspiels und Schutzes beraubt seyn würden. Hierauf antwortete Sokrates. »Mein lieber Krito! deine freundschaftliche Vorsorge ist löblich, und daher mit Dank anzunehmen, wenn sie sich mit der gesunden Vernunft verträgt. Ist sie aber derselben zuwider, so haben wir uns um so viel mehr dafür zu hüten. Wir sollten daher erst in Ueberlegung nehmen, ob dein Vorschlag gerecht und mit der Vernunft übereinstimmig sey, oder nicht. Ich habe mich allzeit gewöhnt, mich zu nichts bereden zu lassen, als was ich, nach reiflicher Ueberlegung, für das Beste gehalten, und ich sehe keinen Grund, warum ich von meinen bisherigen Lebensregeln anjetzo abwiche, ob ich gleich in der Verfassung bin, in welcher du mich siehest: sie erscheinen mir[34] noch immer in eben dem Lichte, und daher kann ich nicht anders, als sie immer noch werth schätzen und verehren.« Nachdem er seine falschen Bewegungsgründe widerlegt, und ihm gezeigt, was ein vernünftiger Mann den Gesetzen und dem Vaterlande schuldig sey, fährt er fort: »Wenn ich jetzt im Begriffe wäre, davon zu laufen, und die Republik samt ihren Gesetzen erschienen, um mich zu fragen: Sprich, Sokrates! was bist du Willens zu thun? Bedenkst du nicht, daß dieses uns, den Gesetzen und dem gesamten Staate, so viel an dir liegt, den Untergang bereiten heißt! Oder glaubest du, daß ein Staat Bestand habe, und nicht nothwendig zerrüttet werden müsse, in welchem die Gerichtsurtheile keine Kraft haben, und von jeder Privatperson vereitelt werden können? Was kann ich hierauf antworten, mein Werther? – Etwa, daß mir Unrecht geschehen, und ich das Urtheil nicht verdiene, das wider mich gesprochen worden? Soll ich dieses antworten? – Krit. Beym Jupiter! ja, o Sokrates! – Sokr. Wenn aber die Gesetze erwiederten: Wie, Sokrates, hast du dich gegen uns nicht anheischig gemacht, alle Rechtssprüche der Republik zu genehmigen? – Ich würde über diesen An trag stutzen; allein sie würden fortfahren: Laß dich dieses nicht befremden, Sokrates! sondern antworte nur; du bist ja sonst ein Freund von Fragen und Antworten; sag an, was mißfällt dir an uns und an der Republik, daß du uns zu Grunde richten willst? Mißfallen dir etwa die Gesetze der Ehe, durch welche dein Vater deine Mutter geheyrathet, und dich zur Welt gebracht; mißfallen dir diese? – Keinesweges! würde ich antworten. So mißbilligest du etwa unsre Weise die Kinder zu erziehen und zu unterrichten? Ist die Einrichtung nicht löblich, die wir zu diesem Behufe gemacht, und die deinen Vater veranlaßt hat, dich in der Musik und Gymnastik unterrichten zu lassen? – Sehr löblich! müßte ich antworten. – Du gestehest also, daß du uns deine Geburt, deine Auferziehung und deine Unterweisung zu verdanken hast, und folglich können wir dich so wohl, als jeden von deinen Vorfahren, als unsern Sohn und Untergebenen betrachten. Ist dem aber also, so fragen wir: kömmt dir mit uns ein gleiches Recht zu? und bist du befugt, uns alles, was wir dir thun, mit gleicher Münze zu bezahlen? Du wirst dir kein gleiches Recht mit deinem Vater anmaßen, kein gleiches Recht mit deinem Gebieter, wenn du einen hast: sie alles, was du von ihnen leidest, wieder empfinden zu lassen, dich mit Worten oder[35] Thaten wider sie zu vergehen, wenn sie dir etwas zu nahe treten; und mit dem Vaterlande, und mit den Gesetzen willst du gleiches Recht haben? Gegen uns willst du dich für befugt halten, so bald wir etwas wider dich beschlossen, dich wider uns aufzulehnen? den Gesetzen, dem Vaterlande, so viel bey dir steht, den Untergang anzurichten? und du glaubst rechtschaffen zu handeln? du, der du dich im Ernste der Tugend befleißigen willst? Steht es so um deine Weisheit, daß du nicht einmal einsiehest, daß Vater und Mutter und Vorfahren lange nicht so ehrwürdig, nicht so hoch zu schätzen, nicht so heilig sind, bey den Göttern sowohl, als bey allen Menschen, die bey Verstande sind, in keinem solchen Ansehen stehen, als das Vaterland?« Sie fahren in diesem Tone fort, und setzen endlich hinzu: »Bedenke, Sokrates! ob du nicht unbillig gegen uns verfährst? Wir haben dich gezeugt, erzogen und unterrichtet; wir haben dich, und jeden atheniensischen Bürger, so viel bey uns gestanden, aller Wolthaten theilhaftig gemacht, die das gesellschaftliche Leben gewähren kann; und gleichwohl haben wir dir, und jedwedem, der sich zu Athen niedergelassen, die Erlaubniß gegeben, wenn ihm unsre Staatsverfassung, nach einer hinlänglichen Prüfung, nicht ansteht, mit den Seinigen davon zu gehen, und sich, wohin er will, zu begeben. Die Thore von Athen stehen einem jeden offen, dem es in der Stadt nicht gefällt, und er kann das Seinige ungehindert mitnehmen. Wer aber gesehen, wie es bey uns zugehet, und wie wir Recht und Gerechtigkeit handhaben, und dennoch bey uns geblieben, der ist stillschweigend einen Vertrag eingegangen, sich alles gefallen zu lassen, was wir ihm befehlen; und wenn er ungehorsam ist, so begehet er eine dreyfache Ungerechtigkeit. Er ist ungehorsam gegen seine Eltern, ungehorsam gegen seine Zucht und Lehrmeisterer, und er übertritt den Vertrag, den er mit uns eingegangen ist. Liebster Freund Krito! diese Reden glaube ich zu hören, wie die Korybanten sich einbilden, den Ton der Flöten zu hören, und die Stimme klinget so stark in meinen Ohren, daß ich nichts anders darüber vernehmen kann.« Krito gieng weg, überzeugt, aber unwillig, daß die Vernunft seinen Vorschlag gemißbilliget hatte.[36]

4

Mit dem Xenophon ward er auf folgende Weise bekannt. Er begegnete ihm in einem engen Durchgange. Der schöne und bescheidene Anstand des iungen Menschen gefiel ihm so wohl, daß er ihm den Stock vorhielt, und ihn nicht weiter gehn lassen wollte. Jüngling! sprach er, weißt du, wo die Bedürfnisse des Lebens zu bekommen sind? – O ja! antwortete Xenophon. – Weißt du aber auch, wo Tugend und Rechtschaffenheit zu erhalten ist? – Der junge Mensch stutzte und sah ihn an. – So folge mir, fuhr Sokrates fort, ich will es dir zeigen. Er folgte ihm, war sein treuster Schüler, und man weiß, wie viel er ihm zu verdanken gehabt.

5

Er war damals 70 Jahr alt.

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 3.1, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt], S. 11-37.
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