3. Laches.

[18] Der Eingang der Schrift versetzt uns völlig wieder in den Gedankenkreis des Protagoras. Zwei Söhne berühmter athenischer Staatsmänner treten auf, beklagen sich über Vernachlässigung ihrer Erziehung seitens ihrer Väter (vgl. Prot. 319 E); sie möchten umsomehr das an ihnen Versäumte an ihren Söhnen gutmachen. SOKRATES, zur Beratung zugezogen, benutzt den Anlaß, seine beständige Frage nach dem Sachkundigen für die[18] Behandlung der Seele, nach der Bedeutung der rechten Erziehung wiederum anzuregen. Er bekennt, wie bisher stets, sich selbst dazu unfähig, die Sophisten aber und wer sonst sich darauf zu verstehen vorgab, werden mit schneidender Ironie abgefertigt. Ganz im Einklang mit dem Schluß des Protagoras wird dann die Frage der Tugendlehre zurückgeführt auf die radikalere, was Tugend ist. Auch das andere Hauptmotiv des vorigen Dialogs, die Einheit der Tugend, taucht wieder auf. Zwar könnte sie vergessen scheinen, wenn die Erörterung, die nach der Einleitung sich auf den Begriff und die Lehrbarkeit der Tugend überhaupt lenken müßte, dann, weil das für jetzt eine zu große Aufgabe sei, auf die Tapferkeit als einen »Teil« der Tugend eingeschränkt wird. Allein das Ergebnis der Untersuchung hebt diese Einschränkung von selbst wieder auf, indem eben diese angenommene Teilung der Tugend sich als unhaltbar erweist. Tapferkeit nämlich soll sein: Erkenntnis, was zu fürchten sei und was nicht (so wurde sie auch im Protagoras definiert), mithin des künftigen Guten und Schlimmen (auch dies schon angedeutet Prot. 358 D). Aber die Erkenntnis des künftigen Guten und Schlimmen kann nicht getrennt werden von der Erkenntnis des Guten und Schlimmen überhaupt; diese aber ist vielmehr identisch mit der ganzen, einen und unteilbaren Tugend, womit die Voraussetzung der Tapferkeit als eines Teiles der Tugend hinfällig wird. Die Einheit der Tugend auf Grund der Erkenntnis und zwar des Guten wird also festgehalten, und nicht bloß festgehalten, sondern tiefer begründet: weil das Gute und seine Erkenntnis Eins und unteilbar ist, nicht etwa je ein Andres für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so ist es auch die Tugend, die ja einzig in dieser Erkenntnis besteht.

Insoweit baut sich der Laches ganz aus den Motiven des Protagoras auf. Dagegen geht er in einem wichtigen Punkte über diesen, wenngleich in wesentlich ungeänderter Richtung, hinaus; mehr, er berichtigt ihn oder klärt wenigstens auf, was dort dunkel geblieben war, ja ernstlich mißverstanden werden konnte. Auf Grund der Voraussetzung nämlich, die gar nicht sokratisch, sondern dem Gegner als das geheime, nicht offen eingestandene Prinzip seiner ganzen Denkart erst listig abgelockt war: daß das Gute zuletzt nichts andres als die Lust sei, war dort abgeleitet worden, daß selbst so die Tugend (und gerade an der Tapferkeit wurde der Beweis geführt) identisch sein würde mit einer Erkenntnis, nämlich der richtigen empirischen,[19] aber auf die Meßkunst gestützten Berechnung der Lust- und Unlustfolgen der Handlung. Eben dies wird jetzt richtig gestellt: nicht die glückliche Vorausberechnung der zeitlichen, empirischen Folgen unserer Handlungen ist die Erkenntnis, in der die Tugend besteht, sondern die Erkenntnis des einen, für alle Zeiten identischen, vom Zeitunterschied unabhängigen, unwandelbar Guten. Diese zugleich den Begriff der Erkenntnis überhaupt betreffende Klarstellung ist zwar ganz im Sinne dessen, was der Protagoras sogar mitten in jener Erörterung andeutete: daß Erkenntnis aufs unwandelbar Wahre gehe, um in ihm der Seele Ruhe zu verschaffen. Aber die Erörterung wurde dennoch dort nicht zu dem dadurch eigentlich vorgeschriebenen Ziele geführt, und konnte nicht dahin geführt werden, weil sie vielmehr den Gegner aus seinen eigenen Voraussetzungen überführen sollte. Im Laches fällt dieser wenigstens scheinbare Widerspruch weg, indem jene Einsicht das von Anfang an erstrebte und schließlich bestimmt erreichte positive Ziel der Erörterung bildet. Daß aber dadurch der Protagoras nicht bloß tatsächlich, sondern mit bewußter Absicht berichtigt ist, bestätigt, abgesehen von der ausdrücklichen Richtigstellung einer einzelnen die Tapferkeit betreffenden These (Lach. 192 D – 193 D, Prot. 349E – 350C), auch der Umstand, daß dieselbe allgemeine Berichtigung oder Klarstellung sich nochmals und in wiederum vertiefter Ausführung im Charmides findet; ein Beweis zugleich, wie wichtig PLATO dieser Punkt erschienen ist Begreiflich, denn in dieser Einsicht lag wiederum ein Keim der Idee.

Sonst ist der Hauptunterschied gegenüber dem Protagoras dieser: Dort war die Entgegenstellung der Sokratik gegen die in der Sophistik verkörperte Zeitmeinung und der Erweis der Überlegenheit jener über diese das Hauptabsehen; die inneren Schwierigkeiten, welche die Sokratik selbst drücken, wurden zwar am Schluß zugleich herausgestellt, aber nicht eigentlich zum Gegenstand der Erörterung gemacht, geschweige zum Austrag gebracht. Der Laches geht zum erstenmal diesen Schwierigkeiten direkt zu Leibe – man beachte, wie NIKIAS ganz als Sokratiker auftritt, um dann, durch SOKRATES selbst, in einem wesentlichen Punkte berichtigt zu werden – und tut einen ersten Schritt zu ihrer Überwindung. Zwar überwiegt noch das Bewußtsein der Schwierigkeit, so daß das Gespräch mit diesen sokratisch gesinnten, zur Selbstprüfung willigen,[20] aufrichtig wahrheitsliebenden Männern ebenso im Eingeständnis des Nichtwissens, in der »Aporie« endet wie dort der Kampf gegen die halsstarrig Besserwissenden, die Sophisten. Wieder ist es belehrend, sogleich den Charmides daneben zu halten, wo es noch stärker auffällt, wie geradezu der oberste Grundbegriff der Sokratik, der Begriff der Selbsterkenntnis, oder des Wissens, ob und was man weiß und nicht weiß, mit größter Freiheit untersucht, ja scheinbar ganz zerpflückt und zunichte gemacht wird. Es scheint, PLATO war nicht gewillt, sich in die abgelernten Formeln der Sokratik gefangen zu geben; er wollte dem SOKRATES so unsokratisch nicht folgen, wie andre es vielleicht getan haben. Aber gerade in der von nun an rasch vorschreitenden Loslösung von den Formeln der Sokratik hat PLATO ihren tiefsten Gehalt erst entdeckt, und dann unermeßlich weiter vertieft.

Also die kritische Umbildung der Sokratik ist das deutliche Ziel schon im Laches, und es wird noch deutlicher in seinem Zwillingsbruder, dem Charmides. So mußte man es ja erwarten, nachdem im Protagoras einmal der innere Widerstreit offen herausgestellt war zwischen den beiden Grundmotiven der Sokratik: dem Nichtwissen von der Tugend und also Nichtlehrenkönnen einerseits, ihrer Einheit mit der Erkenntnis andrerseits, die vielmehr die Lehrbarkeit fordert. Die Lösung gibt der Meno, welcher durch den die Ideenlehre in ihrer ursprünglichsten Gestalt mythisch verkleidenden Satz vom Wissen als Wiedererinnerung das Problem der Lehrbarkeit, das die ersten Dialoge ganz beherrscht, endgültig beantwortet und damit antiquiert. Die Reihenfolge der Schriften: Apologie (nebst Krito), Protagoras, Laches, Charmides, Meno, dürfte dadurch gesichert sein, womit zugleich für die Zeitbestimmung, unter der Voraussetzung wenigstens, daß an der Datierung des Meno auf 395/4 festzuhalten sei, die sichere Grundlage gegeben ist.

Im übrigen ist es auch im Laches vorzüglich das Methodologische, was unsre Aufmerksamkeit fordert. Auf die Begriffsbestimmung wird fort und fort gedrungen. Es ärgert den braven Soldaten LACHES, daß er, gefragt was Tapferkeit sei, es zwar ganz bestimmt im Sinn zu haben meint, aber es so gar nicht in Worte zu fassen und zu sagen weiß, was es eigentlich sei (194 B), was gleich darauf mit dem technischen Ausdruck »definieren« (eigentlich abgrenzen, 194 C) bezeichnet wird. Es[21] wird instruktiv am Beispiel erläutert, wie es darauf ankommt zu finden, was das Gefragte, etwa die Geschwindigkeit, in allen Fällen dasselbe ist, was als identische Grundbeschaffenheit durch alle Fälle durchgeht (191-192).

Diese bestimmte, systematische Gegenüberstellung der Einheit des Begriffs gegen die Mannigfaltigkeit der Fälle, die eben durch jene Einheit zur Allheit zusammengeschlossen werden, steht ja im engsten Zusammenhang mit dem, was als wesentlichste Errungenschaft zum Schluß herauskommt: der Einheit der, eben im Begriff zu begründenden Erkenntnis auch gegenüber der zeitlichen Mannigfaltigkeit, worin schon als ihr eigentliches Objekt das Unwandelbare, Ewige (aei on) vorgeahnt ist. Tapferkeit sollte sein die Erkenntnis dessen, was zu fürchten sei und was nicht, d.h. des künftigen Guten und Schlimmen. Nun aber, zeigt SOKRATES, ist allgemein die Erkenntnis einer Sache nicht eine andre für Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges, sondern eine und dieselbe (198 D); z.B. die Erkenntnis, was gesund sei, ist nicht verschieden für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern eine einzige, die Heilkunde; so die Ackerbaukunde, die Kriegskunde und so fort, ist in Bezug auf alle Zeiten eine und dieselbe. Folglich muß auch die Erkenntnis des künftigen Guten und Schlimmen identisch sein mit der Erkenntnis des Guten und Schlimmen überhaupt. Diese aber ist nicht mehr eine besondere Tugend, Tapferkeit, sondern ist die Tugend überhaupt; nicht ein Teil der Tugend, sondern die ganze (199 E). So ist also, statt der gesuchten Definition einer besonderen Tugend, eine grundwesentliche Bestimmung des allgemeinen Begriffs der Tugend gewonnen. Ob dabei der Tapferkeit vielleicht doch noch irgend eine selbständige Bedeutung verbleibt, ob sie nicht wenigstens eine bestimmte Seite an der in sich einheitlichen, unzerstückten Tugend vertritt, wird hier kaum gefragt; denn ungleich wichtiger war es für jetzt, festzustellen, daß die Erkenntnis, in der die Tugend überhaupt besteht, nicht die empirische Kenntnis dessen ist, was einmal war, gegenwärtig ist oder künftig sein wird, insbesondere nicht die Kenntnis der von unsern Handlungen zu erwartenden Lust- und Unlustfolgen; sondern daß ihr Objekt ein »Immerseiendes«, für alle Zeiten Eines und Identisches: das ewige Gute ist. Im späteren Ausdruck wäre dies zu nennen: die »Idee« des Guten, jenes seine wechselnde, schwankende, vielgestaltige »Erscheinung«, die als solche überhaupt keiner gewissen Erkenntnis[22] fähig ist. In späterer Zeit gilt als einer der charakteristischen Unterschiede von Idee und Erscheinung der der Beziehung auf das zeitlose Sein einerseits, das zeitliche Werden andrerseits; so wird aber schon hier das empirische Gebiet bezeichnet als das Gebiet dessen, was »ward, wird und werden wird« (198 D). Und immer stellt PLATO seinen neuen Erkenntnisbegriff dem gegenüber, den er als herrschend vorfand, der, wie es scheint, durch PROTAGORAS vornehmlich seine Ausprägung erhalten hatte: dem Begriff der »Empirie«, die nach der Analogie früherer Wahrnehmungen das künftig zu Erwartende vorauszusagen versteht. Wohl schon der Sophist selbst hatte dafür den bei PLATO regelmäßig in diesem Zusammenhang auftretenden Vergleich des Sehers gebraucht, der aus »Wahrzeichen« das Kommende vorauszusagen versteht, nicht auf Grund rationaler Erkenntnis, sondern nach bloßer Beobachtung dessen, was regelmäßig geschah2. Diese Entgegensetzung wirkt schon im Dialog Protagoras mit3, sie tritt aber zum ersten Mal hier im Laches ganz deutlich hervor (das Bild vom Seher 195 E, 198 D u. ff.), dann gleich wieder im Charmides (173 B – E), später nochmals, mit direkter Spitze gegen PROTAGORAS, im Theaetet (178 C-179 B), und endlich, in sehr bedeutungsvollem Zusammenhang, im Staat (516 C), wo die Ideenerkenntnis der Empirie gegenübergestellt wird unter dem Bilde der direkten Anschauung des Tageslichts und der, genau nach diesem Begriff empirischen Berechnung des Vorbeiwandelns der Schatten an der Innenwand der dunklen Höhle, in die wir hienieden, in der Erscheinungswelt, gebannt sind. Diese Vergleichungen machen es besonders deutlich, ein wie großer Schritt zur »Idee« mit jener an sich einfachen Einsicht vollbracht war: daß Erkenntnis zu ihrem eigentlichen Objekt nicht das zeitlich Unterschiedliche, sondern das »für alle Zeiten Eine und Identische«, d.h. das überzeitliche Gesetz hat.

2

S. m. Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum S. 147-154.

3

S. ebenda S. 150.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 18-23.
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