[384] Ein Irrtum, der sich so lange Zeit behaupten konnte wie der des ARISTOTELES über den Sinn der Ideenlehre, obgleich das einfache Mittel seiner Berichtigung, die unbefangene Lesung der platonischen Texte, jedem, dem es um die Sache zu tun war, zu Gebote stand, ein solcher Irrtum muß tiefere Gründe haben als die bloße Autorität eines noch so mächtigen Geistes. Denn[384] er wurde und wird von vielen geteilt, denen ARISTOTELES sonst nicht eine Autorität bedeutet, von der keine Berufung gilt. Der tiefere Grund ist die ewige Unfähigkeit des Dogmatismus, sich in den Gesichtspunkt der kritischen Philosophie überhaupt zu versetzen. Das ist die Ursache des Mißverstehens, vielmehr des völligen Nichtverstehens, nicht bei ARISTOTELES allein, sondern, wie es scheint, selbst bei manchen von denen, die in der Akademie die Lehre von den Ideen vertreten und ihrer Meinung nach fortgebildet und verbessert haben. Derselbe Grund hat dann durch die Jahrtausende fortgewirkt und auch die Auslegung der platonischen Schriften derart beherrscht, daß man in diesen, wenn auch mit manchen Vorbehalten im Einzelnen, doch im Ganzen immer noch die aristotelische Grundmeinung bestätigt zu finden glaubt.

Es sei darum nochmals versucht, den radikalen Gegensatz der philosophischen Denkrichtung, den wir mit den Worten Dogmatismus und Kritizismus kurz bezeichnen, zu unmißverständlicher Klarheit zu bringen. An den Namen wolle man sich nicht stoßen. Man könnte sie ganz preisgeben; man könnte sie ersetzen durch die der abstraktiven und genetischen Auffassung der Erkenntnis, oder welche andre, deutlichere Benennung noch gefunden werden mag. Der Gegensatz, auf den es ankommt, wird in der Tat nicht nach seiner ganzen Tiefe zum Ausdruck gebracht, wenn man ihn bloß damit bezeichnet, daß die eine Ansicht das Sein von der Erkenntnis, die andre die Erkenntnis vom Sein ableite. Dagegen könnte eingewandt werden, wer von der Erkenntnis ausgehe, meine doch das Sein der Erkenntnis, suche also nur von einem Sein aus, nämlich dem subjektiven der Erkenntnis, das andre, nämlich das objektive der Dinge, zu verstehen; oder umgekehrt: das Sein, aus dem man das Erkennen verstehen will, solle natürlich zugleich den Inhalt einer Erkenntnis bilden; insofern dürfe der, der das Sein zu Grunde legt, mit nicht minderem Recht als sein Widersacher behaupten, von Erkenntnis auszugehn, und nur von einer Erkenntnis aus, als der beherrschenden, etwa der des »Seienden als seiend«, alle übrige, als abhängige, zu erklären. Alle Erkenntnis will doch Erkenntnis vom Gegenstand sein und hat vom ersten Anfang an den Gegenstand im Sinn; also ist Erkenntnis nie ohne das Sein. Umgekehrt, das Sein ist, sofern überhaupt mit Sinn davon geredet sein soll, notwendig gedacht, und zwar, der Annahme nach, zutreffend gedacht, also erkannt. So schiene der[385] ganze Gegensatz sich zu verflüchtigen, wenn nicht etwas Bestimmteres darunter gemeint wäre, als in den bloßen Wörtern Sein und Erkenntnis zum Ausdruck kommt.

Was dies sei, mag auf folgendem Wege klar werden. Erkenntnis und Gegenstand sind allerdings zu einander korrelativ, nämlich sie verhalten sich wie Weg und Ziel. Wer den Weg geht, muß das Ziel vor Augen haben. Den Begriff des Gegenstands, der erkannt werden soll, als des x der Gleichung der Erkenntnis, setzt also freilich voraus, wer von Erkenntnis überhaupt mit klarem Sinn spricht. Aber der Kritizismus betont, daß es nur ein x, laß der Gegenstand stets Problem, nie Datum sei; ein Problem, dessen ganzer Sinn allein bestimmt sei in Beziehung auf die bekannten Größen der Gleichung, nämlich unsre fundamentalen Begriffe, die nur die Grundfunktionen der Erkenntnisselbst, die Gesetze des Verfahrens, in dem Erkenntnis besteht, zum Inhalt haben. Diese könnten weit eher der Erkenntnis »gegeben« heißen, sofern sie es sind, die überhaupt nur eine Erkenntnis möglich machen. Der Gegenstand aber ist nicht gegeben, sondern vielmehr aufgegeben; aller Begriff vom Gegenstand, der unsrer Erkenntnis gelten soll, muß erst sich aufbauen aus den Grundfaktoren der Erkenntnisselbst, bis zurück zu den schlechthin fundamentalen. Also deckt sich die kritische Ansicht mit der genetischen.

Ihr steht die Ansicht gegenüber, daß der Gegenstand, wesentlich und ursprünglich durch Sinneswahrnehmung, dann durch weitere Prozesse, die aber von der Sinneswahrnehmung ausgehen und zu ihr zurückkehren, der Erkenntnis gegeben sein müsse, wenn sich über ihn überhaupt etwas mit wahrhaft objektiver Geltung solle ausmachen lassen. Die ganze Arbeit der Erkenntnis besteht dann nur darin, dies Gegebene sich zur Deutlichkeit zu bringen durch Zergliederung, durch Zerlegung in die in und mit dem Gegenstand gegebenen, nicht aber von der Erkenntnis mitgebrachten oder gar geschaffenen Komponenten. Der Gegenstand also und seine Erkenntnis decken sich, dem Inhalt nach, nur daß seine Bestandteile im ursprünglich Gegebenen in ungeschiedener Verflechtung, in der gereiften Erkenntnis deutlich auseinandergestellt und einzeln zum Bewußtsein gebracht sind. Gegenstand und Erkenntnis verhalten sich wie Konkretes und Abstraktes, so zwar, daß das Konkrete vorangeht und die Aufgabe der Erkenntnis ihr Ziel dann erreicht hat, wenn durch die Abstraktionsarbeit, in der sie wesentlich[386] besteht, die ganze Konkretion des gegebenen Gegenstandes bewältigt, der Stoff gleichsam aufgearbeitet, das heißt, alles im Gegenstand implizit Gegebene in bestimmter deutlicher Heraushebung auch ins Bewußtsein gehoben ist. Also deckt sich die dogmatische Ansicht von der Erkenntnis mit der abstraktiven.

Allein selbst so noch könnte der Unterschied ein bloß verbaler, oder es könnten beide Auffassungen wenigstens nur gleich mögliche und gleich berechtigte Ansichten einer und derselben Sachlage zu sein scheinen. Auch für die kritische Ansicht ist doch der Gegenstand gegeben im Sinne der gestellten Aufgabe; auch die dogmatische andrerseits behauptet nicht, daß gar keine Aufgabe mehr an ihm zu lösen sei. Sogar werden ihre Vertreter gewiß zugeben, daß die Abstraktion nur das Mittel, die Determination, welche die abstrakten Komponenten zur nunmehr begriffenen Konkretion des Gegenstandes wieder zusammenbringt, das eigentliche Ziel der Erkenntnis ist, da sie ja erst die Erkenntnis mit dem Gegenstand wirklich zur Deckung bringt. Ist also, wird man fragen, nicht auch sein Verfahren im Grunde genetisch? Und wiederum, kann der Kritizist zu den Faktoren des Gegenstands, den allgemeinen Funktionsbegriffen der Erkenntnis, anders als durch Abstraktion gelangen? Eingeständlich nicht. Also wo ist der radikale Unterschied?

Er kann nur darin liegen: Der Dogmatist nennt den Gegenstand gegeben, weil er ihn als Produkt aus endlichen, also erschöpfbaren Faktoren ansieht. Wir mögen zwar noch nicht alle Faktoren, die in das Produkt eingegangen sind, kennen, aber sie müssen durch genügend tiefdringende Analyse vollzählig herausgebracht werden können. Denn das Produkt haben wir, also haben wir auch die Faktoren, die es zusammensetzen; es kommt nur darauf an, dies, was wir haben, auch in den vollen Besitz des Bewußtseins zu bringen. Der Kritizist dagegen betrachtet die Aufgabe, den Gegenstand aus seinen Komponenten aufzubauen, als eine unendliche. Die vollständige Determination des Gegenstands ist zwar gefordert, erst sein vollständig determinierter Begriff wäre seine erschöpfende Erkenntnis. Aber die Aufgabe, die durch das x, den Gegenstand, der Erkenntnis gestellt ist, ist für sie keiner abschließenden Lösung fähig; die Auflösung der Gleichung führt gleichsam auf eine Rechnung ins Unendliche; was immer unsre Erkenntnis als Bestimmungen des Gegenstands = x aufstellen mag, sind daher stets nur Näherungswerte.[387]

Deshalb nimmt der Kritizismus seinen Standpunkt grundsätzlich im Wege (der Erkenntnis) und nicht im Ziele (dem Gegenstand), oder sagt, daß von der Erkenntnis aus das Sein, nämlich das Sein der Erkenntnis, nicht vom Sein aus, als hätten wir es, die Erkenntnis verständlich zu machen sei. Der Dogmatismus hingegen nimmt für selbstverständlich, daß das x der Gleichung der Erkenntnis vollständig ausrechenbar, wenn auch bisher nicht ausgerechnet sei, also kann er vom Gegenstand reden, als hätten wir ihn, und kann sagen, daß die Erkenntnis, als der Weg, sich nach ihm, als dem Ziele, das zwar noch nicht erreicht, aber doch gleichsam in Sehweite sei, »zu richten« habe. Das bedeutet es ihm, daß der Gegenstand an sich ist, was er ist, nicht bloß von Gnaden der Erkenntnis.

Indem aber nun dies ihm als unbedingte Vorannahme allem voraus feststeht, vermag er schließlich sich in die Meinung des Kritizismus überhaupt nicht zu versetzen. Er wird jeder seiner Aufstellungen über die Erkenntnis doch wieder eine dogmatische Seinsbedeutung unterschieben, und nun versuchen, diese von seiner Voraussetzung eines gegebenen Seins aus – als könne diese gar nicht angezweifelt werden, müsse vielmehr der Meinung des Kritizismus selbst, obwohl uneingestanden, zu Grunde liegen – zu entwurzeln. Dagegen wird es für den Kritizismus leicht sein, das gegebene Sein des Dogmatismus als eine natürliche Illusion zu deuten, ohne daß er genötigt wäre, etwas von seiner eignen Ansicht als tatsächliche, doch nicht anerkannte Voraussetzung dem Gegner unterzuschieben.

Man schließe also in den Begriff der genetischen Ansicht von der Erkenntnis das Merkmal ein, daß der Gegenstand für unsre Erkenntnis stets im Werden, niemals ein geschlossenes Sein ist, in den Begriff der abstraktiven Ansicht das diesem entgegengesetzte Merkmal, daß das gegebene Sein durch Abstraktion an sich erschöpfbar gedacht wird, so wird der Sinn des Gegensatzes, den wir in gangbaren historischen Terminis als den des Kritizismus und des Dogmatismus benannten, nicht leicht mehr verfehlt werden können.

Daß nun PLATOS Ansicht die genetische ist, hat in seiner Deutung der Erkenntnis als Bestimmung eines Unbestimmten, ins Unendliche Bestimmbaren, als Begrenzung eines in sich Grenzenlosen, aber fortschreitender Begrenzung ohne Schranken Fähigen, einen Ausdruck von kaum zu überbietender Bestimmtheit gefunden. Aber ebenso entschieden und ohne Schwankung[388] behauptet ARISTOTELES durchweg die abstraktive Ansicht. Nur von ihr aus, als einer Voraussetzung, an der zu rütteln etwas für ihn ganz Undenkbares ist, beurteilt er PLATO. So aber muß er ihn, man darf geradezu sagen, in jeder einzelnen Aufstellung mißverstehen. Daher kann er gar nicht anders, als sich an ihm ärgern, und durch alle seine Schriften, besonders durch die verschlungenen Gänge seiner Fundamentalphilosophie hindurch ihn verfolgen in einem harten, mitunter höhnenden Ton, bis nahe an die Grenzen des einfachen Schimpfens, der gegen seine sonst angestrebte vornehme Objektivität auffallend absticht, und nur einigermaßen verständlich wird aus dem hoffnungslos vergeblichen Abmühen, einer Gedankenrichtung, für die ihm nun einmal das Organ abgeht, doch irgendwie einen für ihn faßlichen Sinn abzugewinnen.

Ein klein wenig Stilgefühl, sollte man denken, hätte hinreichen müssen, um diesen Charakter der aristotelischen Polemik gegen PLATO zu erkennen und auf einen derartigen Grund dieser Polemik zu schließen, auch bevor man ihn bestimmt bezeichnen und nachweisen konnte. Aber freilich, wer in dem gleichen Dogmatismus befangen war, konnte gegen PLATO nicht viel anders gestimmt sein, oder mußte, wenn er selbst der Frage als einer seit Jahrtausenden entschiedenen mit mehr Gelassenheit gegenüberstand, doch diese Stimmung begreiflich finden bei dem, der unmittelbar die zerstörenden Wirkungen des platonischen Idealismus vor Augen sah, und alles aufbieten mußte, ihnen zu steuern. Er konnte sogar noch eine gewisse Bewunderung für den Mann empfinden, der, bei einem so tiefen sachlichen Gegensatz, bis auf einige, allerdings peinliche Stellen doch noch den Ton der Freundschaft (Eth. Nic. I 4) und persönlichen Dankbarkeit gegen den alten Lehrer und den »apodeiktischen Ernst« (Metaph. XII 8, 1073 a 22) in der Kritik seiner Lehre zu wahren bemüht war.

Das ist weniger zu verwundern als das Andre: daß man bei dem allen fortfahren konnte, ARISTOTELES als den berufenen Nachfolger PLATOS, den natürlichen Erben und mächtigen Fortbildner seiner Philosophie darzustellen. Dagegen, glaube ich, würden beide Philosophen gleich entschiedene Verwahrung eingelegt haben. Kann man denn übersehen, daß ARISTOTELES, was er in fundamentalphilosophischer Hinsicht mit PLATO noch gemein haben will, nämlich die Forderung des Begriffs, die Erhebung der Form über den Stoff, vielmehr als die Entdeckung des SOKRATES ansieht, die PLATO nur verdorben habe? Daß er diesem durchaus[389] nichts (in fundamentalphilosophischer Hinsicht) verdanken will als die, leider entstellende, Überlieferung der sokratischen Richtung auf die Begriffsforschung? Ganz stehend ist doch dies seine Behauptung: SOKRATES hat den Begriff entdeckt, und er hat noch nicht den Fehler begangen ihn vom Sinnlichen, Gegebenen zu »trennen«; PLATOS Idee aber unterscheidet sich vom sokratischen Begriff eben durch diese falsche Trennung, die wieder rückgängig zu machen, und so die Leistung des SOKRATES erst nach ihrem wahren Sinne wiederherzustellen und zu vollenden, er als seine Aufgabe ansieht. Die Ideenlehre also, sofern verschieden, von der Begriffslehre des SOKRATES, war nichts als ein Fehlweg, und wenn gar kein PLATO existiert hätte, wenn es ARISTOTELES vergönnt gewesen wäre aus einer ungetrübteren Quelle die Kenntnis der sokratischen Leistung zu schöpfen, so wäre erst der Gang der Geschichte der Philosophie geradlinig gewesen. Mir ist keine Stelle in ARISTOTELES bekannt, die eine andre Würdigung der zentralen Lehre PLATOS auch nur durchscheinen ließe. Und man darf nicht diesen am Tage liegenden Sachverhalt verschleiern, um nicht die allerdings bedauerliche Tatsache verzeichnen zu müssen, das es einem Philosophen, der seine geistige Macht auf Jahrtausende erstreckt, begegnen mußte, von seinem historisch noch einflußreicheren, also nach gewöhnlicher Schätzung größeren Schüler in seiner fundamentalen Lehre gänzlich verkehrt aufgefaßt und beurteilt zu werden.

Die zulängliche Begründung und genaue Durchführung dieser historischen Ansicht fordert ein weiteres Ausholen. Man muß zurückgehen bis zu den im engeren, aristotelischen Sinne logischen d.i. beweistheoretischen Grundlagen der Philosophie des Stagiriten, und man darf auch ihre psychologische Seite nicht außer Acht lassen. Dann erst wird das Feld zu betreten sein, auf dem der große Streit zum Austrag kommen muß, das Feld der Fundamentalphilosophie oder, wie die Späteren sie getauft haben, der Metaphysik.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 384-390.
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