A. Das Grundverhältnis des Allgemeinen und Einzelnen.

[420] Das Gewicht der Frage, welche die Ideenlehre ihm aufgab, hat ARISTOTELES wohl gefühlt. In den Aporieen bezeichnet er es als »die ernsteste aller Schwierigkeiten und deren Erwägung am nötigsten« sei (III 4, 999 a 24): Wenn es nichts gibt außer den Einzeldingen, diese aber unendlich sind, wie soll es davon Erkenntnis geben? Denn wir erkennen ein Objekt, sofern ihm etwas als Eines und identisch, oder, sofern es ihm allgemein zukommt. Daher scheint das Allgemeine neben dem Einzelnen existieren zu müssen; wogegen aber schon vorher (997 b 3) eine Reihe von Bedenken angedeutet war. Wenn nichts außer den Einzeldingen existieren sollte, so gibt es keine Objekte des reinen Verstandes, sondern nur das Sinnliche; so gäbe es aber keine Erkenntnis, wenn nicht etwa die Sinneswahrnehmung Erkenntnis heißen soll; desgleichen nichts Ewiges noch Unveränderliches, denn das Sinnliche ist vergänglich und veränderlich. Ohne ein Ewiges ist aber auch kein Werden begreiflich, denn das Werden setzt ein letztes Ungewordenes voraus.

Kap. 6, 1003 a 7: Sind die Prinzipien allgemein oder einzeln? Wenn allgemein, so sind es nicht Substanzen, denn nichts Allgemeines ist Substanz, sondern nur Qualität. Wenn dagegen einzeln, so sind sie nicht erkennbar; denn alle Erkenntnis ist allgemein. Es müßte dann wiederum fundamentalere Prinzipien geben, nämlich allgemeine, wenn es von jenen (als Einzeldingen) Erkenntnis geben soll.

Am schärfsten wird die Frage entwickelt und zugleich ihre Beantwortung versucht im zehnten Kapitel des 13. Buches. Setzt man die Elemente, gleichsam die Buchstaben des Seins als einzeln und nicht allgemein, so existieren überhaupt nur sie; etwa wie wenn die Laute der Sprache nur je in der Einzahl existierten (vgl. III 4, 999 b 24 u. ff.); sie wären jedoch nicht erkennbar, denn alle Erkenntnis ist allgemein, wie der[420] Beweis und die Definition zeigt. Sind aber die Prinzipien oder die aus diesen abgeleiteten Wesenheiten allgemein, so wird etwas, das nicht Substanz ist, früher sein als die Substanz, denn das Allgemeine ist nicht Substanz (1086 b 33).

Die Lösung ist diese: Es verhält sich mit den Prinzipien des Seins so wie wirklich mit den Lauten: es sind viele A, viele B, und so fort, und nichts außer diesen »das« A, »das« B »selbst«; also kann es insoweit sehr wohl auch unendlich viele gleiche Silben geben. Daß aber die Erkenntnis notwendig allgemein sei und deswegen auch die Prinzipien der Dinge allgemein sein müßten und nicht (wie ARISTOTELES also behauptet) Einzelsubstanzen, enthält zwar von allem Gesagten die meiste Schwierigkeit, aber es ist in der Tat nur in gewissem Sinne richtig, in gewissem Sinne nicht. Nämlich die Erkenntnis, ebenso wie das Erkennen, bedeutet zweierlei, die Potenz und die Aktualität Die Potenz der Erkenntnis ist allerdings, als Stoff, allgemein und unbestimmt und hat zum Gegenstand das Allgemeine und Unbestimmte, die aktuelle Erkenntnis dagegen ist bestimmt und hat zum Gegenstand das Bestimmte, sie ist ein Dieses und hat zum Gegenstand das Diese. Nur folgeweise, sekundär sieht z.B. das Gesicht Farbe überhaupt, weil diese und diese Farbe, die es jedesmal sieht, überhaupt Farbe ist. So ist in der Grammatik dies und dies A überhaupt ein A; und so durchweg. Wären die Prinzipien notwendig allgemein, so würde auch alles, was aus diesen folgt, allgemein sein, wie bei den (syllogistischen) Beweisen. Dann aber gäbe es gar kein Einzelnes und also keine Substanz. Aber die Erkenntnis ist (wie gesagt) nur in gewissem Sinne allgemein, in gewissem Sinne nicht.

Schon BONITZ hat hierzu richtig angemerkt, daß das Allheilmittel für die Schäden des aristotelischen Systems, die Unterscheidung von Potenz und Akt, jedenfalls hier versagt, da nach den sonstigen, völlig eindeutigen und einhelligen Erklärungen des Philosophen die wirkliche und nicht bloß die mögliche Erkenntnis auf dem Allgemeinen beruht. Es bleibt also dabei, daß die Erkenntnis und ihr Gegenstand bei ARISTOTELES auseinanderklaffen: die Erkenntnis ist wesentlich allgemein und nicht einzeln, der Gegenstand einzeln und nicht allgemein. Seine volle Unfähigkeit aber, den Idealismus zu begreifen, verrät das Argument: Es könne nicht etwas, das nicht Substanz ist, früher (fundamentaler) sein als die Substanz. Das Gesetz des Logischen ist früher als das (konkrete) Sein, ist »über«[421] dem Sein nach PLATO. Das ist das ABC des Idealismus. Hat davon ARISTOTELES nie etwas gehört? Es muß an seinem Ohr vorbeigegangen sein, weil es seinem Gedanken unfaßlich war. Eine andre Erklärung gibt es nicht.

Sehr deutlich legt er im dritten Kapitel desselben Buches seine Meinung dar. Die Allgemeinheiten z.B. der Mathematik gehen nicht im Sein, sondern bloß im Denken (logô) den Sinnendingen voraus. Sie müssen nicht außer (neben) den Dingen sein, sondern gelten von den Dingen selbst, aber nur sofern sie das und das sind (1077 b 17 – 22; vgl. Anal. post. I 11, 77 a 5, und öfter). So kann man von den Bewegungen der Körper reden ohne Rücksicht auf ihre sonstigen Eigenschaften, so von den beweglichen Körpern mit Absehung von ihrer Bewegung, so schließlich von denselben, bloß sofern sie Flächen, Linien, Punkte sind. Man kann darum doch unbedenklich sagen, daß die mathematischen Objekte sind; und so hat die Mathematik nicht das Sinnliche als sinnlich zum Gegenstand, und doch darum nicht andre, von den sinnlichen getrennte Dinge. Je fundamentaler nun und (begrifflich) einfacher die Objekte sind, um so exakter die Erkenntnis. So ist die reine Arithmetik strenger als die Geometrie, diese strenger als die reine Bewegungslehre, innerhalb dieser wieder die Lehre von der einfachsten, nämlich der gleichförmigen Bewegung. Die Wissenschaft mag also getrost ihr jedesmaliges Objekt getrennt setzen (themenos, 1078 a 17) und so ihre Folgerungen ableiten; sie wird damit keinen Fehler begehen, so wenig wie, wenn man in der Zeichnung eine Linie als 1 Fuß lang setzt, die nicht 1 Fuß lang ist. So verfährt tatsächlich die Mathematik. Also hat die Mathematik freilich recht, und sie handelt von Objekten, die wirklich sind. Die mathematischen Objekte sind in der Tat; aber nur potenziell.

Diese Betrachtung hat zunächst viel Einleuchtendes. Nur, wie wird PLATO dadurch getroffen? Hat er die reinen Begriffe, die logischen, die mathematischen, überhaupt die wissenschaftlichen Grundbegriffe in dem Sinne »getrennt«, isoliert hingestellt, daß er sich die Möglichkeit abgeschnitten hätte, sie im Begriffe des konkret Existierenden wiederum zu verbinden? Hat er gar, weil die wirkliche, gegebene Existenz ihm also entging, aus den reinen Begriffen Existenzen für sich gemacht, im Grunde gleicher Art wie die sinnlichen, denen sie doch als schlechthin andre gegenüberstehen sollten? Das nämlich ist, wie wir noch zur Genüge erfahren werden, der einzige Sinn (wenn es ein Sinn wäre), den ARISTOTELES der Ideenlehre hat abgewinnen können.[422]

Der Fehler wäre schon schwer genug, wenn nur das Erste mit Recht behauptet würde: daß PLATO nicht darüber hinausgekommen sei, die Grundbegriffe in ihrer Reinheit herauszuheben, daß er nicht auch den Weg gezeigt habe, sie zur Erkenntnis des Gegebenen, Konkreten wieder in Verbindung zu setzen. Ein solcher Schein kann entstehen, solange, wie es in den ältesten Schriften PLATOS vorwiegend geschah, die Idee allein aus der Prädikation hergeleitet wurde, ohne daß auf das Subjekt, auf welches die Prädikate zu beziehen, und auf den Sinn und Grund dieser Beziehung die Frage ausdrücklich gerichtet wurde. Nun aber hat PLATO schon im letzten Teil des Phaedo, ganz besonders aber im Parmenides und im Philebus die Subjektsbeziehung gleichfalls in aller Schärfe erwogen und bis zu großer Tiefe ergründet; er hat das x der Erfahrung und die Beziehung der reinen Setzungen des Denkens auf dieses als unerläßliche Bedingung der Erkenntnisgeltung der Ideen anerkannt und mit starker Betonung in den Vordergrund gerückt. Daraus war die ganze neue Wendung, welche die Ideenlehre vom Parmenides ab nahm, zu begreifen: die Verflechtung der Begriffe im Sophisten, die Prinzipien des Unbestimmten und seiner Bestimmung im Philebus, der Raum als Prinzip des »Diesen« im Timaeus. Wie findet sich ARISTOTELES mit dem allen ab? Wie will er seinen Irrtum auch dem Timaeus gegenüber, den er genau kennt und oft berücksichtigt, überhaupt aufrechterhalten? – Er versteht den Raum als »Mittleres«, das heißt als ein drittes, wiederum selbständiges Ding zwischen den Sinnendingen und den ebenfalls dinglichen Ideen. Das sieht nun doch, gegenüber der platonischen Ableitung und Erklärung dieses Prinzips, schon einem absichtlichen nicht verstehen Wollen gleich. Aber es begreift sich dennoch, ohne eine Schuld des Willens, daraus, daß ARISTOTELES, wie hypnotisiert, überall Substanzen sieht, wo von Gegenständen einer Erkenntnis, und wäre es eine traumhafte, ja eine Bastarderkenntnis, wie die des Raumes nach dem Timaeus, die Rede ist.

Da er doch selbst genau genug weiß, daß es eine bloß begriffliche Sonderung gibt, weshalb traut er sie so gar nicht dem PLATO zu? Weil allerdings PLATO nicht von den Dingen als dem Erstgegebenen ausging, um aus ihnen durch Abstraktion die Begriffe, bis zu den Grundbegriffen hinauf, zu schöpfen, sondern sich das Problem ihm vielmehr umgekehrt stellte: wie aus reinen Denkbestimmungen das Einzelne, Konkrete,[423] nämlich hypothetisch, zu konstruieren sei. Die genetische Methode ist es, die ARISTOTELES nicht begreift Sie ist ihm so fremd, so unfaßlich, daß er sich, wie oft bemerkt, in ihren Gesichtspunkt nicht auch nur vorübergehend zu versetzen weiß.

Jetzt versteht sich schon leicht die allgemeine Beschreibung, welche ARISTOTELES von der Herkunft und Bedeutung der Ideenlehre gibt (XIII 4, I 6). SOKRATES entdeckte das Allgemeine, nämlich die Definition, und er beging noch nicht den Fehler, es vom Sinnlichen getrennt zu setzen (1078 b 30, 987 b 4). PLATO vollzog diese Trennung, und so wurde daraus die Idee. Er setzte ohne weiteres Ideen von allem allgemein Ausgesagten. – XIII 9, 1086 a 32: Nach PLATO sind die Ideen zugleich Allgemeines und Einzeldinge. Denn, da das Sinnliche im Fluß sei, meinte er, müsse das Allgemeine (als beharrend, vgl. 987 b 3, 1078 b 16) etwas Andres neben dem Sinnlichen sein. Nun ist allerdings ohne das Allgemeine keine Erkenntnis möglich, seine Lostrennung aber vom Einzelnen, Sinnlichen ist der Grund aller Schwierigkeiten, in welche sich die Ideenlehre verwickelte. Indem also PLATO (aus dem angegebenen Grunde) meinte, es müsse andre, getrennte Substanzen neben den sinnlichen geben, wußte er keine andern, sondern »stellte« einfach die allgemeinen Prädikate als selbständige Wesenheiten »heraus«. So war das Ergebnis, daß die allgemeinen und die Einzelwesen so ziemlich dasselbe wurden.

Woraufhin nimmt eigentlich ARISTOTELES an, daß PLATOS Ideen Einzelsubstanzen sein sollten? – Sie müssen es sein, glaubt er, weil ein ursprünglich Seiendes eben nur Substanz, und Substanzen nur Einzelwesen sein können. »Wenn sie es auch nicht gehörig zergliedern« (deutlich auseinanderlegen, diarthrousin), »so ist es doch das, was sie wollen, und sie müssen notwendigerweise es so meinen, daß jede Idee eine einzelne Substanz und nicht bloß etwas sei, das von einem Andern prädiziert wird« (1002 b 26). Das heißt: in das aristotelische Begriffssystem will ihre Behauptung sich nur so einfügen. Aber das ist am Ende der Fehler dieses Systems.

Uns stellt sich das Verhältnis des PLATO zu SOKRATES anders dar. SOKRATES fand die Methode der Definition, aber er wandte sie nur auf wenige Hauptbegriffe besonders des sittlichen Gebiets an. Er hatte sich, soviel wir wissen, nicht die Aufgabe gestellt, den Gegenstand überhaupt, in jedem Gebiete der Erkenntnis, und zuerst in der theoretischen, aus reinen Denkbestimmungen aufzubauen; eine Verallgemeinerung und zugleich[424] Vertiefung der Problemstellung, die auch PLATO nicht mit einem Schlage erreicht hat, mit der aber erst die Ideenlehre fertig wurde. Der berichtigte Sinn der »Trennung« der reinen Begriffe aber ist die unbedingte Voranstellung des Logischen, als in welchem alles Sein der Gegenstände erst zu begründen sei. Das ist es, was ARISTOTELES nie begriffen hat. Und weil es ihm unfaßlich ist, daß »etwas, das nicht Substanz ist, früher sein sollte als die Substanz«, so wußte er sich PLATOS Meinung nur so zurechtzulegen – daß es eine Zurechtlegung ist, gesteht er ja in den soeben angeführten Worten offen ein –: daß die Ideen eine andre Klasse von Dingen sein sollten, neben den Sinnendingen und doch im Grunde mit diesen gleicher Art.

Das ist daher regelmässig sein erster Einwurf: die Ideenlehre bedeute nur eine unnütze Verdoppelung des Seins. So III 2, 997 b 7: Die Ideen sind eigentlich dasselbe wie die Sinnendinge, nur daß sie ewig sein sollen, diese vergänglich. Sie tragen ja auch dieselben Namen: Mensch, Pferd, Gesundheit und so fort, nur daß man das Wörtchen »selbst« dazu setzt; gerade wie manche Leute Götter zwar annehmen, aber ganz menschengleich. Wie diese sich unter den Göttern nur ewige Menschen denken, so dachte sich PLATO unter den Ideen nur ewige Sinnendinge. Mit gleichem Recht müßte man auch Linien an sich setzen, einen Himmel an sich, Sonne, Mond und Sterne und so fort. Diese müßten nur unveränderlich sein. Aber wie entsprechen sie dann dem, wovon sie die Ideen sein sollen? Sie veränderlich zu setzen, geht erst recht nicht an. Auch die Objekte der Optik, der Harmonik, kurz aller Wissenschaften müßten an sich gesetzt werden. (Dasselbe vernahmen wir schon VII 16, s. o. S. 419). – Ferner I 9, 990 b 1 ff. (mit der Parallele XIII 4, 1078 b 34): Man hat nur die Dinge verdoppelt. Man forschte nach den Gründen der gegebenen Einzeldinge, und führte nur andre Einzeldinge in gleicher Zahl ein. Nämlich für Alles waren folgerecht Ideen anzunehmen, nicht für die Substanzen allein, sondern auch für die Akzidentien, da es doch auch bei diesen eine Einheit des Mannigfaltigen gibt; desgleichen für das Unveränderliche so gut wie für das Veränderliche (vgl. l. 22 – 27). Oder vielmehr, es werden nur die Ideen existieren, und der Dinge genau so viel sein wie der Ideen, deren jede ja eine numerische Einheit darstellen soll (III 4, 999 b 32 ff.).

Es genügt darauf, wie auf eine große Reihe der aristotelischen Argumente, die kurze Antwort: Dasselbe würde sich[425] mit ebenso viel Grund einwenden lassen gegen die Gesetze, überhaupt die Sätze der Wissenschaft. Die Wissenschaft besteht aus einer Summe von Sätzen, welche wahr sein, das heißt das Sein ausdrücken wollen, also es nur noch einmal setzen, bloß nicht als veränderlich, sondern fest. Sie stellen also eine unnütze Verdoppelung der existierenden Dinge dar, oder sollen gar diese vertreten; der existierenden Dinge wären dann genau so viel als die Wissenschaft Sätze hat, und so fort.

Daß die Ideen mit der Wissenschaft etwas zu tun haben, hat ja nun auch ARISTOTELES nicht völlig wegbringen können. Er weiß, daß der entscheidende Beweis der Ideenlehre eben der aus den Erfordernissen der Wissenschaft (epistêmê) war. Die Ideen müssen sein, weil sie den Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis bezeichnen, und die Erkenntnis doch zum Gegenstand das Sein hat. Dagegen genügt ihm aber der Einwand (990 b 11): Dann müßte es Ideen von Allem geben, wovon es Wissenschaft gibt. – Warum denn nicht? Übrigens würde es genügen, die Ideen den Grunderkenntnissen entsprechend zu setzen, z.B. in der Mathematik den reinen Grunddefinitionen. Aber ARISTOTELES weiß sich als »Gegenstand« der Wissenschaft einmal nur die gegebenen Dinge (sinnlichen Einzelsubstanzen) zu denken.

Nah verwandt ist die weitere Betrachtung: die Idee soll die Einheit des Mannigfaltigen darstellen (l. 13, 14), oder das, was im Gedanken festgehalten wird, auch wenn es den Sinnen vergeht, – Was hat er dawider? – Dann gäbe es Ideen auch von den Verneinungen, vom Vergänglichen, vom Relativen, von welchem allen man doch keine Ideen annehme. – Aber so gewiß es von diesem allen wissenschaftliche Sätze gibt, so gewiß verträgt das Prinzip der Idee die Erweiterung auf dies alles, die denn auch bei PLATO zur Genüge angedeutet ist Nur hat wiederum die Einschränkung auf die Fundamentalsätze auch guten Sinn. – Endlich: es müßte auch von den Ideen wiederum Ideen geben, denn das scheint das Argument vom »dritten Menschen« l. 17 in diesem Zusammenhang besagen zu wollen. – Darauf ist schon geantwortet worden, und die Antwort gehört ganz auch an diese Stelle: Gewiß werden engere Gesetze sich umfassenderen unterordnen; es werden auch wohl Gesetze, die für fundamental galten, einer tiefer dringenden Erkenntnis sich als noch abgeleitet herausstellen; ohne Gefahr übrigens, daß das ins Unendliche ginge (vgl. oben S. 412).[426]

Nach der Natur der Sache dagegen und auch nach der eignen Ansicht der Verteidiger der Ideenlehre würde es Ideen nur von Substanzen geben, meint ARISTOTELES (990 b 27), da doch sie selbst Substanzen sein sollen. Es müssen doch die Ideen und die Dinge, deren Ideen sie sind, sich irgendwie entsprechen, es muß doch derselbe Begriff, wenn er auf die Ideen und auf die Sinnendinge angewandt wird, seinen identischen Sinn behalten; zum Beispiel, wenn man eine Zweiheit in den Sinnendingen, im Mathematischen und endlich als Idee setzt, sollte dem gleichen Namen etwa gar kein gemeinsamer Begriff unterliegen? – Soll davon (wie es scheint, denn die Absicht ist nicht ganz deutlich,) die Anwendung gemacht werden auf das den Ideen einerseits, den Sinnendingen andrerseits zugeschriebene Sein, so wäre zu antworten, daß das Sein allerdings nicht auf beiden Seiten schlechthin dasselbe bedeutet. Wenn aber nur eine strenge Korrelation zwischen beiden Bedeutungen besteht, so genügt das, um den Gebrauch des gleichen Worts (dessen Vieldeutigkeit ARISTOTELES so gut kennt) zu rechtfertigen. Oder sonst soll man sich an das Wort nicht klammern, sondern einen weniger vieldeutigen Ausdruck suchen, aber den Gedanken nicht wegwerfen. Gewiß besagt das Stattfinden des Gesetzes nicht völlig dasselbe wie das Stattfinden des Einzelfalles. Das Gesetz findet statt, indem das, was es allgemein d.i. als in allen Fällen Eins und dasselbe aussagt, allzeit und überall, wo die im Gesetz angegebenen Bedingungen erfüllt sind, stattfindet. Das Gesetz ist nicht da und dann, nicht Ding noch Qualität noch Geschehen noch Beharren in der Existenz und so fort. Das Sein oder Stattfinden besagt aber doch in beiden Fällen: Geltung eines Satzes, dort eines allgemeinen Grundsatzes, hier eines einzelnen Existenzsatzes. Der einzige etwa begründete Vorwurf gegen PLATO würde hier sein, daß er die besonderen Bedingungen der Gültigkeit eines Existenzsatzes nicht zulänglich bestimmt habe. Daß übrigens PLATO auf dem Wege auch dazu war, hat sich uns vielfach herausgestellt.

Auf das allgemeine Verhältnis der Idee zur Erkenntnis bezieht sich noch das Argument (I 9, 992 b 18 ff.): Wie konnte man sich überhaupt zur Aufgabe stellen, die Elemente von Allem, ohne Unterschied, zu erkennen? Allenfalls hätte man fragen dürfen nach den Elementen der Substanz. Sollte von Grund aus Alles abgeleitet werden, so müßte nichts voraus gegeben sein (l. 25). Aber es gibt überhaupt keine Erkenntnis[427] anders als durch voraus Gegebenes. Sollte sie angeboren sein (symphytos) Aber das wäre seltsam, daß wir im Besitz der höchsten Erkenntnisse wären, ohne es selber zu wissen (vgl. oben S. 395 f). Übrigens ist es nicht so einfach (muß sich PLATO sagen lassen!) sich der wahren Elemente zu versichern; wie es auch in der Lautlehre seine Schwierigkeit hat, die einfachen Laute festzustellen. Wenn wir von allem die Elemente hätten, müßten wir auch die Objekte der Wahrnehmung ohne Wahrnehmung erkennen können.

Auch diese Zweifel können den, der die Methodenbedeutung der Idee begriffen hat, keinen Augenblick beunruhigen. Gewiß ist es so leicht nicht, sich der wahren Grundbegriffe in Vollständigkeit zu versichern. Eben darum ist dies Aufgabe einer eignen Wissenschaft, der Dialektik. Allumfassend in dem Sinne, wie überhaupt Prinzipien oder wissenschaftliche Methoden es sind, beansprucht diese allerdings zu sein. Daß aber in dem x der Erfahrung stets ein Restproblem bleibt, wird nicht geleugnet, also auch nicht behauptet, daß wir das Objekt der Wahrnehmung ohne Wahrnehmung (erschöpfend) erkennen könnten. Behauptet aber wird, daß das Objekt, soweit es erkannt wird, nicht durch Wahrnehmung erkannt wird, sondern (auch in der Wahrnehmung) durch gedankliche Konstruktion.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 420-428.
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