Die Konstruktion des chemischen Prozesses

[434] (Zusatz zum neunten Kapitel.)


Der chemische Prozeß ist überall nur im Zusammenhang mit den andern Formen des dynamischen Prozesses zu fassen. Denn wenn uns der magnetische die Linie oder erste Dimension bestimmt, der elektrische die zweite hinzubringt, so schließt der chemische das Dreieck, indem er die im elektrischen gesetzte Differenz durch ein Drittes eins macht, welches zugleich in sich selbst eins ist.

Nach diesen Gründen ist das ursprüngliche Schema des in seiner Reinheit vorgestellten chemischen Prozesses ein, in der einfachsten Konstruktion, aus zwei differenten, starren Körpern und dem dritten flüssigen zusammengesetztes Ganzes. Denn da jene in sich wechselseitige und relative Kohäsionsveränderungen setzen, auf solche Weise, daß der eine in derselben erhöht, der andere vermindert ist, und beide zusammen sich als eine Totalität und gleich dem Magneten verhalten, von dem jeder Pol außer sich nur seinen entgegengesetzten setzen kann, so wird in jenem Wechselverhältnis das Dritte, welches an sich gleichgültig ist, zugleich nach zwei Seiten potenziert oder polarisiert, jedoch, weil es als das Flüssige nur Indifferenzpunkt der relativen Kohäsion ist, auf solche Weise, daß im Moment der entstehenden Differenz auch die Identität beider Pole aufgehoben, und beide durch differente Materien dargestellt werden, welches dann in der gemeinen Ansicht als eine Zerlegung des Flüssigen erscheint.

Da nun überall alles, was Zerlegung und chemischer Prozeß heißen kann, auf eine Wechselwirkung von Flüssigem und Festem[434] zurückkommt, wobei beides seinen Zustand ändert, so ist offenbar, daß das von uns angenommene Verhältnis das einfachste ist, unter welchem überhaupt chemischer Prozeß stattfinden kann.

Hinlänglich bekannt ist und jetzt angenommen, daß von jenem allgemeinen Fall der, wo das dritte Glied ein tierisches Organ ist, bloß der besondere Fall ist, indem hier eigentlich zwei Prozesse zugleich stattfinden, der ganz allgemeine, gleichsam anorganische, in welchem das tierische Glied nur in der allgemeinen Eigenschaft eines Flüssigen eintritt, und der besondere, der sich in diesem als Kontraktion zeigt, und der zwar durch seine Bedingungen von dem ersten nicht verschieden, aber der Art der Wirkung nach durch die besondere organische Natur desselben bestimmt ist.

So wie nun alle Form des dynamischen Prozesses einzig dadurch bestimmt ist, daß Allgemeines, Besonderes, und das, worin beide eins sind, als verschieden und auseinandergesetzt sind, so kann dieses auch entweder unter der Form des Magnetismus geschehen, wo die drei Faktoren als drei Punkte in einer und derselben Linie liegen, oder unter der Form der Elektrizität, wo die zwei Körper die entgegengesetzten Faktoren, der Berührungspunkt beider die Indifferenz bezeichnet, oder endlich unter der des chemischen Prozesses, wo jeder derselben durch ein besonderes Produkt ausgedrückt ist.

Da also jene Triplizität des Allgemeinen, Besondern und der Indifferenz beider in der Identität ausgedrückt, Magnetismus, in der Differenz Elektrizität, in der Totalität chemischer Prozeß ist, so sind diese drei Formen nur Eine Form, und der chemische Prozeß selbst eine bloße Verschiebung der drei Punkte des Magnetismus in das Dreieck des chemischen Prozesses.

Es kann daher nicht befremden, in der vollkommeneren Form des chemischen Prozesses die Totalität aller Formen des dynamischen anzutreffen, so daß es möglich ist, den sogenannten Galvanismus in der Voltaischen Säule ganz als Magnetismus, ganz als Elektrizität und ganz als chemischen Prozeß aufzufassen. Dies hängt bloß davon ab, welchen Moment des Ganzen man fixieren will. Der Prozeß in diesem Ganzen ist nach den Bestimmungen[435] aufzufassen, die wir von der magnetischen Linie gegeben haben (Zeitschrift für spekul. Physik, Bd. II, Hft. 2, § 46 Zus.). Es ist durch das Ganze dasselbe gesetzt, nämlich die Indifferenz, die als dieselbe nach zwei Seiten polarisiert ist. Was von dem Ganzen gilt, gilt wieder von jedem Teil, so daß jedes Glied für sich positiv, negativ und indifferent ist. Das Ganze ist ins Unendliche teilbar, und alles innerhalb desselben bloß relativ bestimmbar, so daß dasselbe Glied, welches in der einen Beziehung indifferent, in der andern positiv oder negativ, oder dasselbe, welches in gewisser Beziehung negativ ist, in der andern positiv gedacht werden kann und umgekehrt.

So bestimmt aber als sich in dem Voltaischen Ganzen das Schema des Magnetismus wiederholt, so bestimmt kann der Prozeß desselben als Elektrizität aufgefaßt werden, wie von Volta geschieht, und zwar so, daß diese Elektrizität von dem chemischen Prozeß unabhängig und nicht durch ihn vermittelt ist, indem sie vielmehr die Vermittlerin desselben und die Form ist, durch welche jener notwendig hindurchgeht.

Faßt man den Prozeß in einem spätern Moment auf, und will man zugleich ihn in seiner Totalität aussprechen, so muß man ihn als chemischen Prozeß bezeichnen, indem nach unsrer Ansicht dadurch der elektrische keineswegs ausgeschlossen, vielmehr ausdrücklich gesetzt wird. Ich bemerke hier, daß meine Behauptung, der sogenannte Galvanismus sei der chemische Prozeß selbst, von einigen gänzlich mißverstanden wurde, indem sie dies so deuteten, als ob ich die Elektrizität in demselben als eine durch den chemischen Prozeß als solchen hervorgebracht ansähe, welches ganz gegen den Typus meiner Konstruktion läuft, welche die Elektrizität dem chemischen Prozesse voransetzt, sowie es auch von der Erfahrung auffallend widersprochen wird. Denn die Oxydation ist so wenig das Bedingende der Elektrizität, daß die Erscheinungen der letzteren vielmehr in einem gewissen umgekehrten Verhältnis mit ihr stehen, wie es notwendig ist, wenn der elektrische Prozeß dem chemischen vorangeht und in ihm sich verliert.

Wollte man aber, wie von einigen geschehen, fragen, wozu[436] das Wasser in dem Voltaischen Ganzen zu den Elektrizitätserscheinungen erforderlich sei, da nach meiner Ansicht die Elektrizität durch die Berührung starrer, differenter Körper an und für sich schon hinlänglich vermittelt sei, und auch durch wiederholte Addition dieses Verhältnisses zu sich selbst gesteigert werden müßte: so antworte ich, daß zwei starre, differente Körper sich für sich selbst unmittelbar durch Berührung ins Gleichgewicht setzen, das nur wieder durch Aufhebung der Berührung gestört werden könnte, daß dasselbe zwischen einer Reihe differenter, aus bloß surren Körpern bestehender Glieder geschehen würde, und daß, um den Prozeß lebendig und in fortwährender Tätigkeit zu erhalten, ein stets veränderliches Mittelglied, dergleichen das Wasser, und sogar, um dieses in dem Zustand fortdauernder Veränderlichkeit zu erhalten, der freie Zutritt der Sauerstoffluft erforderlich sei.

Wir wenden uns nach diesen Erklärungen zu der Betrachtung des Hergangs beim chemischen Prozeß, als solchen, zurück.

Was wir von der Möglichkeit der Reduktion des chemischen Dreiecks auf die magnetische Linie gesagt haben, überzeugt uns schon hinlänglich, daß, was in dem chemischen Prozeß verwandelt wird, nicht die Substanz der Materie an sich selbst, sondern die bloßen Potenzen der Form oder Kohäsion sind, daß es also im Sinne des Empirismus ebensowenig eine wahre chemische Zusammensetzung als eine wahre Zersetzung gibt. Alle Zusammensetzung besteht in einem wechselseitigen Aufheben von entgegengesetzten Potenzen durcheinander, so daß die vollkommenste die gänzliche Depotenzierung ist. Alle Zerlegung dagegen, als Darstellung einer und derselben Substanz unter differenten Formen, ist Potenzierung nach verschiedenen Richtungen.

Alle Materie ist daher an sich einfach, denn jede mögliche Entzweiung in ihr ist immer nur durch das Hinzukommen eines andern gesetzt. Die Säure z.B. als ein Körper, der durch die Potenz des negativen Faktors der relativen Kohäsion bestimmt ist, ist insofern einfach und bloß der hinzukommende Körper, das Metall, setzt in ihr die Entzweiung des Festen und Flüssigen, so daß jenes, indem es sich aus seiner Expansion herzustellen sucht, den hinzukommenden Körper in seiner Kohäsion vermindert[437] und bestimmt aus der absoluten in relative überzugehen. Mit dem geringeren Grad der Oxydation ist überhaupt ein Zerfallen der ersteren, mit dem folgenden ein gänzliches Auflösen derselben, sowie mit dem höchsten Grad, der aber nur durch Verbrennung erreicht wird, der höchste Grad der relativen Kohäsion gesetzt.

Von dem Verbrennungsprozeß ist schon oben (Zusatz zum 1. Kapitel 1. Buchs) die Rede gewesen.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 434-438.
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