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[71] Dieser gewaltige Endkampf der beiden germanischen Ideen wird nun von einem ganz andren Faktor durchkreuzt: der Arbeiterfrage. Dort ist es ein innerlichster Gegensatz von Weltanschauungen, der zur Entscheidung drängt, um dem Sein des faustischen Menschen eine endgültige Einheitsform aufzuprägen; hier ist es ein materieller Notstand, der einen Wechsel der äußeren Lebensbedingungen fordert. Das eine ist gewissermaßen Metaphysik, das andere Nationalökonomie. Damit ist der Rangunterschied beider Erscheinungen festgestellt.[71]

Das Problem des »vierten Standes« taucht in jeder Kultur bei ihrem Übergang zur Zivilisation auf.1 Für uns beginnt es mit dem 19. Jahrhundert; Rousseau ist plötzlich veraltet. Der dritte Stand gehört zur Stadt, die sich ebenbürtig neben das Land stellt, der vierte zur Weltstadt, die das Land vernichtet. Er ist das seelisch entwurzelte Volk sehr später Zustände, das nomadenhaft als formlose und formfeindliche Masse durch diese steinernen Labyrinthe wogt, den Rest lebendigen Menschentums ringsum aufsaugt, heimatlos, erbittert und elend, voller Haß gegen die starken Stufungen alter Kultur, für die es abgestorben ist, eine Befreiung aus seinem unmöglichen Dasein ersehnend.

Die Zivilisation Westeuropas wird durch die Maschinenindustrie2 in allen Äußerungen und Formen ihres gesamten Daseins beherrscht. Der Industriearbeiter ist durchaus nicht der »vierte Stand«, aber er fühlt sich mit Recht als Repräsentant dieses Standes. Er ist ein Symbol. Er ist als Typus mit dieser Zivilisation entstanden und er fühlt den Mißstand seines Daseins am tiefsten. Wenn andre Sklaven des technischen Zeitalters sind, der Ingenieur so gut wie der Unternehmer, so ist er der Sklave.

Aber eine Lösung der Arbeiterfrage für den Arbeiter allein und durch ihn allein gibt es nicht. Der vierte Stand an sich ist eine bloße Tatsache, keine Idee. Einer Tatsache gegenüber gibt es nur materielle Kompromisse, nicht als Wirkung und Verwirklichung irgendwelcher Ideale, sondern als strategische Resultate eines langen Ringens um den Vorteil auf Kosten andrer, das endlich zu einer Art Stillstand führt, in dem man die Lage, wie sie sich nach allen Zufälligkeiten des Kampfes endlich eingestellt hat, resigniert hinnimmt, um in ihr ein kleines Glück der Gewöhnung zu finden, ein Chinesenglück, das Glück der römischen Kaiserzeit: panem et circenses. Heute ist das schwer begreiflich, weil wir auf dem Höhepunkt der großstädtischen Massenerregung stehen und der nahe Beobachter infolge des Lärms der Schlagworte die einseitigen[72] Aussichten des Klassenegoismus überschätzt, aber in ein, zwei Jahrhunderten wird alles vorüber sein, wenn nicht die Arbeiterbewegung in den Dienst einer allgemeinen Idee tritt. Was war von den Leidenschaften der Gracchenzeit unter Augustus noch übrig? Das Problem war nicht gelöst worden; es war zerfallen.

Hier setzt nun Marx ein. Er hat durch eine glänzende, mehr verblüffende als richtige Konstruktion versucht, die Tatsache zum Rang einer Idee zu erheben. Über den mächtigen Gegensatz von Wikingertum und Ordensgeist spannt er eine dünne, aber festgefügte Theorie und schafft damit ein volkstümliches Bild der Geschichte, das in der Tat die Anschauungen der Gegenwart in weitgehendem Maße beherrscht. Er stammte aus der preußischen Atmosphäre und siedelte sich in der englischen an, der Seele beider Völker aber ist er gleichmäßig fremd geblieben. Als Mensch des naturwissenschaftlichen 19. Jahrhunderts war er ein guter Materialist und ein schlechter Psychologe. Und so hat er schließlich nicht die großen Realitäten mit dem Gehalt einer Idee erfüllt, sondern die Ideen zu Begriffen, zu Interessen herabgedrückt. Statt des englischen Blutes, das er nicht in sich fühlte, erblickte er nur englische Dinge und Begriffe, und von Hegel, der ein gutes Stück preußischen Staatsdenkens repräsentierte, war ihm nur die Methode zugänglich gewesen. Und so übertrug er durch eine wahrhaft groteske Kombination den Instinktgegensatz der beiden germanischen Rassen auf den materiellen Gegensatz zweier Schichten. Er schrieb dem »Proletariat«, dem vierten Stande, den preußischen Gedanken des Sozialismus, und der »Bourgeoisie«, dem dritten Stande, den englischen des Kapitalismus zu. Aus diesem System erst ergab sich die feste Bedeutung der vier Begriffe, wie sie heute jedermann geläufig ist. Durch diese in ihrer Einfachheit unwiderstehlichen Schlagworte ist es ihm gelungen, die Arbeiterschaft fast aller Länder zu einer Klasse mit ausgeprägtem Klassenbewußtsein zu konsolidieren. In seiner Sprache redet, in seinen Begriffen denkt heute der[73] vierte Stand. Proletariat war nicht mehr ein Name, sondern eine Aufgabe. Die Zukunft wurde von nun an durch ein Stück Literatur betrachtet. In der Oberflächlichkeit des Systems liegt seine Stärke. Obwohl es nach wie vor einen spanisch-kirchlichen, einen englisch-kapitalistischen und einen preußisch-autoritativen Sozialismus, und proletarische Bewegungen von anarchischem, kapitalistischem und echt sozialistischem Charakter gibt, so weiß man es doch nicht. Der Glaube an die Einheit des Ziels ist stärker als die Wirklichkeit und er haftet wie immer im Abendland an einem Buche, an dessen absoluter Wahrheit zu zweifeln ein Verbrechen ist. Das gedruckte Wort erst verbürgt dem faustischen Geiste die Wirkung in alle Fernen von Raum und Zeit. In der englischen Revolution war es die Bibel, in der französischen Rousseaus Contrat social, in der deutschen das kommunistische Manifest. Aus der Umdeutung des Gegensatzes von Rassen in den von Klassen und alter germanischer Instinkte in sehr junge Bedürfnisse großstädtischer Bevölkerungen ergibt sich nun der entscheidende Begriff des Klassenkampfes. Die horizontale Richtung der historischen Kräfte wird zur vertikalen: das ist der Sinn der materialistischen Geschichtsauffassung. Das naturwissenschaftliche Denken dieser Zeit fordert den Gegensatz von Kraft und Stoff: die Stoffe politischer Kräfte heißen Völker, die Stoffe wirtschaftlicher Kräfte heißen Klassen. Der Marxismus vertauscht den Rang der beiden Kräfte und damit auch den der beiden Stoffe. Damit erhält das Wort Klasse aber eine durchaus neue Bedeutung.

Mit der ganzen psychologischen Verständnislosigkeit eines naturwissenschaftlich geschulten Kopfes von 1850 weiß Marx mit dem Unterschied von Stand und Klasse nichts anzufangen.3 Ein Stand ist ein ethischer Begriff, Ausdruck einer Idee. Die Privilegierten von 1789 standen dem Bürgertum als Stand gegenüber, der ein Formideal, die grandeur, die courtoisie, die innere und äußere Vornehmheit verkörperte, gleichviel was der Verfall davon übriggelassen hatte. Das Bürgertum bestritt die ethische Überlegenheit der alten vornehmen[74] Sitte, und erst daraus folgte die Ablehnung der sozialen Vorrechte. Der englisch geschulte Verstand der Pariser setzte ihr ein andres Ideal entgegen und der französische Instinkt schuf daraus das Prinzip der Gleichheit im ethischen Sinne. Das war die neue Bedeutung des Ausdrucks »menschliche Gesellschaft«, nämlich Gleichheit und allgemeine Verbindlichkeit des sittlichen Ideals, das auf Vernunft und Natur und nicht auf Blut und Tradition beruhte.

Klasse ist demgegenüber aber ein rein wirtschaftlicher Begriff und von ihm aus wird der ethisch-politische Begriff des Bürgertums von 1789 in den wirtschaftlichen von 1850 umgekehrt. Das Standesideal ist zum Klasseninteresse geworden. Nur in England waren die Klassen schon längst nach dem Reichtum abgestuft. Die Mittelklasse umfaßte die, welche von ihrer Arbeit lebten, ohne arm zu sein. Die Oberklasse war reich, ohne zu arbeiten. Die Unterklasse arbeitete und war arm. In Preußen aber war es die Stellung, ein Mehr oder Weniger von Befehl und Gehorsam, das die Klassen schied. Hier gab es neben dem Bauernstand eine Beamtenklasse, also überhaupt keine wirtschaftliche, sondern eine Einheit der Funktion. Zum Wesen des modernen Frankreich dagegen gehört das Nichtvorhandensein wirklicher Klassen. Die Nation ist eine ungeordnete Masse, aus der sich Reiche und Arme abheben, aber ohne eine Klasse zu bilden. Die ganze Nation ist eine Klasse, nicht von der Strenge germanischer Schichtungen, aber doch eine einzige.

Marx denkt also rein englisch. Sein Zweiklassensystem ist aus der Lage eines Händlervolkes gezogen, das seine Landwirtschaft eben dem Handel aufopferte und das nie eine staatliche Beamtenschaft mit ausgeprägtem – preußischen – Standesbewußtsein besessen hatte. Es gibt hier nur noch »Bourgeois« und »Proletarier«, Subjekte und Objekte des Geschäfts, Räuber und Beraubte, ganz wikingermäßig. Auf den Bereich des preußischen Staatsgedankens angewendet, sind diese Begriffe Unsinn. Marx wäre nicht fähig gewesen, den aus dem Prinzip »Alle für alle« folgenden Gedanken, daß jeder einzelne ohne Unterschied der Stellung[75] Diener des Ganzen, des Staates ist, von der Tatsache der englischen Industriesklaverei zu unterscheiden. Er nahm das bloße Außenbild des Preußentums: Organisation, Disziplin, Gemeinsamkeit, etwas, das von einer Einzelklasse ganz unabhängig ist, eine technische Form, den Sozialismus, um ihn als Ziel und Waffe der Arbeiterschaft in einer englisch geordneten society zu überreichen, damit sie, wiederum ganz wikingermäßig, die Rollen der Räuber und Beraubten umtauschen könne – Expropriation der Expropriateure – noch dazu mit einem sehr egoistischen Programm der Beuteteilung nach dem Siege.

Eine Verlegenheit ist immer noch die genaue Definition der beiden Klassen. Bürgertum bedeutet innerhalb des marxistischen Gedankenkreises etwas ganz andres als in dem Rousseaus. Es ist ein großer Unterschied, ob man es im Gegensatz zu den Privilegierten der Feudalzeit oder vom Standpunkt der städtischen Arbeitermassen aus gebraucht. Zu den drei Ständen von 1789 gibt es dem Sinne nach keinen vierten mehr, zu dem vierten von heute keinen ersten und zweiten. Sieyès hatte die Geistlichkeit auf 80000, den Adel auf 120000, den dritten Stand auf 25 Millionen Köpfe berechnet. Demnach sei der letzte das Volk. Bourgeoisie bedeutet »alle«. Auch der französische Bauer ist Bourgeois.

Der vierte Stand aber ist eine Minderheit und nicht einmal scharf abtrennbar, denn je nach der Bezeichnung – Handarbeiter, Industriearbeiter, Proletarier, Masse – liegen die Grenzen anders. Er wird manchmal so definiert und noch öfters so empfunden, daß er sich von Bourgeoisie recht wenig unterscheidet – es sind wieder »alle« mit Ausnahme der Unternehmer.

Der dritte Stand war ganz eigentlich eine Negation.4 Er will sagen, daß es keine Stände mehr geben soll. Der vierte Stand aber hebt diese Gleichheit wieder auf. Er stellt eine einzelne Berufsklasse als maßgebend in das soziale Leben; er greift über 1789 zurück und präsentiert sich wieder als ein privilegierter Stand. Das liegt in dem Begriff Diktatur des Proletariats,[76] Herrschaft einer Klasse, die ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit durchaus nicht gewiß ist. Damit ist das Klassenziel in eine Karikatur des alten Standesideals zurückverwandelt. Es ist nur Literatur, nicht Blut und Erziehung, was aus diesen Konstruktionen spricht, aber die Lächerlichkeiten der deutschen Revolution, die Arbeiterräte als neues Oberhaus, die Erhebung des Arbeiters zum englischen Gentleman durch den Streik bei fortlaufender Lohnzahlung haben, wie zur Zeit Cromwells und Robespierres, gezeigt, daß aus Literatur vorübergehend groteske Wirklichkeit werden kann.

1

Unt. d. Abdl. II, S. 121 ff., 442 f.

2

Unt. d. Abdl. II, S. 625 ff.

3

Unt. d. Abdl. II, S. 407 ff.

4

Unt. d. Abdl. II, S. 438 ff.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 71-77.
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