XXXVII.

[321] Während die anthroposophischen Erkenntnisse in die Gesellschaft so getragen wurden, wie sich das – zum Teile – aus den Privatdrucken ergibt, pflegten Marie von Sivers und ich in gemeinsamen Arbeiten namentlich das künstlerische Element, das ja vom Schicksal bestimmt war, ein Belebendes der anthroposophischen Bewegung zu werden.

Da war auf der einen Seite das Rezitatorische, mit seiner Hinorientierung auf die dramatische Kunst, das den Gegenstand der Arbeit bildete, die getan werden mußte, damit die anthroposophische Bewegung den rechten Inhalt bekäme.

Da war aber auf der andern Seite für mich die Möglichkeit, mich auf den Reisen, die im Dienste der Anthroposophie gemacht werden mußten, in die Entwickelung der Architektur, Plastik und Malerei zu vertiefen.

Ich habe an verschiedenen Stellen dieser Lebensbeschreibung von der Bedeutung gesprochen, die das Künstlerische für einen Menschen hat, der innerhalb der geistigen Welt erlebt.

Nun konnte ich aber die meisten Kunstwerke der Menschheitsentwickelung bis in die Zeit meines anthroposophischen Wirkens hinein nur in Nachbildungen studieren. An Originalen war mir nur zugänglich, was in Wien, Berlin und einigen Orten Deutschlands ist.

Als nun die Reisen für die Anthroposophie in Gemeinsamkeit mit Marie von Sivers gemacht wurden, traten mir die Schätze der Museen im weitesten europäischen Umkreise entgegen. Und so machte ich vom Beginne des Jahrhunderts ab, also in meinem fünften Lebensjahrzehnt, eine hohe Schule des Kunststudiums, und im Zusammenhange damit, eine Anschauung der geistigen Entwickelung der Menschheit durch. Überall war da Marie von Sivers mir zur Seite, die mit ihrem feinen und geschmackvollen Eingehen auf alles, was ich in der Kunst- und Kulturanschauung erleben durfte, selbst in schöner Weise alles, ergänzend, miterlebte. Sie verstand, wie diese Erlebnisse in all das flossen, was dann die Ideen der Anthroposophie beweglich machte. Denn es durchdrang, was an Kunst-Eindrücken meine Seele empfing, das, was ich in Vorträgen wirksam zu machen hatte.

Im praktischen Anschauen der großen Kunstwerke trat vor[322] unsere Seelen die Welt, aus der noch eine andere Seelenkonfiguration aus älteren Zeiten in die neuen herüberspricht. Wir konnten die Seelen versenken in die Geistigkeit der Kunst, die noch aus Cimabue spricht. Aber wir konnten uns auch durch das Anschauen in der Kunst in den gewaltigen Geisteskampf vertiefen, den Thomas von Aquino in der Hochblüte der Scholastik gegen den Arabismus führte.

Für mich war die Beobachtung der baukünstlerischen Entwickelung von besonderer Bedeutung. Im stillen Anblick der Stilgestaltung erwuchs in meiner Seele, was ich dann in die Formen des Goetheanums prägen durfte.

Das Stehen vor dem Abendmahl des Lionardo in Mailand, vor den Schöpfungen Raphaels und Michel Angelos in Rom und die im Anschlusse an diese Betrachtungen mit Marie von Sivers geführten Gespräche müssen, wie ich glaube, gerade dann gegenüber der Schicksalsfügung dankbar empfunden werden, wenn sie erst im reiferen Alter zum ersten Male vor die Seele treten.

Doch ich müßte ein Buch von einem nicht geringen Umfange schreiben, wenn ich auch nur kurz schildern wollte, was ich in der angedeuteten Art erlebte.

Man sieht ja, wenn die geistige Anschauung dahinter steht, so tief in die Geheimnisse der Menschheitsentwickelung hinein durch den Blick, der sich in die »Schule von Athen« oder in die »Disputa« betrachtend verliert.

Und schreitet man mit der Beobachtung von Cimabue durch Giotto bis zu Raphael vor, so hat man das allmähliche Abdämmern einer älteren Geist-Anschauung der Menschheit zu der modernen, mehr naturalistischen vor sich. Was sich mir aus der geistigen Anschauung als das Gesetz der Menschheitsentwickelung ergeben hatte: es tritt, sich deutlich offenbarend, in dem Werden der Kunst der Seele entgegen.

Es gab ja immer die tiefste Befriedigung, wenn ich sehen konnte, wie durch dieses fortwährende Eintauchen in das Künstlerische die anthroposophische Bewegung neues Leben empfing. Man braucht, um mit den Ideen die Wesenhaftigkeiten des Geistigen zu umfassen und sie ideenhaft zu gestalten, Beweglichkeit der Ideen-Tätigkeit. Die Erfüllung der Seele mit dem Künstlerischen gibt sie.

Und es war ja durchaus nötig, die Gesellschaft vor dem Eindringen aller derjenigen inneren Unwahrheiten zu bewahren,[323] die mit der falschen Sentimentalität zusammenhängen. Eine geistige Bewegung ist ja diesem Eindringen immer ausgesetzt. Belebt man den mitteilenden Vortrag durch die beweglichen Ideen, die man selbst dem Leben in dem Künstlerischen verdankt, so wird die aus der Sentimentalität kommende innere Unwahrhaftigkeit, die in dem Zuhörenden steckt, hinweggebannt. – Das Künstlerische, das von Empfindung und Gefühl zwar getragen wird, das aber aufstrebt zur lichterfüllten Klarheit in der Gestaltung und Anschauung, kann das wirksamste Gegengewicht gegen die falsche Sentimentalität geben.

Und da empfinde ich es denn als ein besonders günstiges Geschick für die anthroposophische Bewegung, daß ich in Marie von Sivers eine Mitarbeiterin vom Schicksal zuerteilt bekam, die aus ihren tiefsten Anlagen heraus dieses künstlerisch-gefühlsgetragene, aber unsentimentale Element mit vollem Verständnis zu pflegen verstand.

Es war eine fortdauernde Gegenwirkung gegen dieses innerlich unwahre sentimentale Element notwendig. Denn in eine geistige Bewegung dringt es immer wieder ein. Man kann es nicht etwa einfach abweisen, oder ignorieren. Denn die Menschen, die sich zunächst diesem Elemente hingeben, sind in vielen Fällen in ihren tiefsten Seelenuntergründen doch Suchende. Aber es wird ihnen zunächst schwierig, zu dem mitgeteilten Inhalt aus der geistigen Welt ein festes Verhältnis zu gewinnen. Sie suchen in der Sentimentalität unbewußt eine Art Betäubung. Sie wollen ganz besondere Wahrheiten erfahren, esoterische. Sie entwickeln den Drang, sich mit diesen sektiererisch in Gruppen abzusondern.

Das Rechte zur alleinigen orientierenden Kraft der ganzen Gesellschaft zu machen, darauf kommt es an. So daß nach der einen, oder der andern Seite Abirrende immer wieder sehen können, wie diejenigen wirken, die die zentralen Träger der Bewegung sich nennen dürfen, weil sie deren Begründer sind. Positives Arbeiten für die Inhalte der Anthroposophie, nicht kämpfend gegen Auswüchse auftreten, das galt Marie von Sivers und mir als das Wesentliche. Selbstverständlich gab es Ausnahmefälle, in denen auch das Bekämpfen notwendig wurde.

Für mich ist zunächst die Zeit bis zu meinem Pariser Zyklus von Vorträgen etwas als Entwickelungsvorgänge in der Seele Geschlossenes. Ich hielt diese Vorträge 1906 während des theosophischen[324] Kongresses. Einzelne Teilnehmer des Kongresses hatten den Wunsch ausgesprochen, diese Vorträge neben den Veranstaltungen des Kongresses zu hören. Ich hatte damals in Paris die persönliche Bekanntschaft Edouard Schurés, zusammen mit Marie von Sivers gemacht, die schon längere Zeit mit ihm in Briefwechsel gestanden und die sich mit Übersetzung seiner Werke beschäftigt hatte. Er war unter den Zuhörern. So hatte ich auch die Freude, Mereschkowski und Minsky und andere russische Dichter öfters unter den Zuhörern zu haben.

Es wurde von mir in diesem Vortragszyklus das gegeben, was ich an den für das Menschenwesen leitenden spirituellen Erkenntnissen als in mir »reif« empfand.

Dieses »Reif-Empfinden« der Erkenntnisse ist etwas Wesentliches im Erforschen der geistigen Welt. Um dieses Empfinden zu haben, muß man eine Anschauung erlebt haben, wie sie zunächst in der Seele herauftaucht. Man empfindet sie zuerst noch als unleuchtend, als unscharf in den Konturen. Man muß sie wieder in die Tiefen der Seele hinuntersinken lassen zur »Reifung«. Das Bewußtsein ist noch nicht weit genug, den geistigen Inhalt der Anschauung zu erfassen. Die Seele in ihren geistigen Tiefen muß mit diesem Inhalt in der geistigen Welt ungestört durch das Bewußtsein zusammensein.

In der äußeren Naturwissenschaft behauptet man eine Erkenntnis nicht früher, als bis man alle nötigen Experimente und Sinnesbeobachtungen abgeschlossen hat, und bis die in Betracht kommenden Rechnungen einwandfrei sind. – In der Geisteswissenschaft ist keineswegs weniger methodische Gewissenhaftigkeit und Erkenntnis-Disziplin notwendig. Man geht nur etwas andere Wege. Man muß das Bewußtsein in seinem Verhältnis zu der erkennenden Wahrheit prüfen. Man muß in Geduld, Ausdauer und innerer Gewissenhaftigkeit »warten« können, bis das Bewußtsein diese Prüfung besteht. Es muß sich in seinem Ideenvermögen auf einem gewissen Gebiete stark genug gemacht haben, um die Anschauung, um die es sich handelt, in das Begriffsvermögen hereinzunehmen.

Im Pariser Zyklus von Vorträgen habe ich eine Anschauung vorgebracht, die eine lange »Reifung« in meiner Seele hat durchmachen müssen. Nachdem ich auseinandergesetzt hatte, wie sich die Glieder der Menschenwesenheit: physischer Leib, Ätherleib – als Vermittler der Lebenserscheinungen –, Astralleib – als[325] Vermittler der Empfindungs- und Willenserscheinungen – und der »Ich-Träger« im allgemeinen zu einander verhalten, teilte ich die Tatsache mit, daß der Ätherleib des Mannes weiblich; der Ätherleib der Frau männlich ist. Damit war innerhalb der Anthroposophie ein Licht geworfen auf eine Grundfrage des Daseins, die gerade damals viel behandelt worden ist. Man erinnere sich nur an das Buch des unglücklichen Weininger: »Geschlecht und Charakter« und an die damalige Dichtung.

Aber die Frage war in die Tiefen der Menschenwesenheit geführt. Mit seinem physischen Leib ist der Mensch ganz anders in die Kräfte des Kosmos eingefügt als mit seinem Ätherleib. Durch den physischen Leib steht der Mensch in den Kräften der Erde; durch den Ätherleib in den Kräften des außerirdischen Kosmos. Männlich und Weiblich wird an die Weltgeheimnisse herangeführt.

Für mich war diese Erkenntnis etwas, das zu den erschütterndsten inneren Seelen-Erlebnissen gehörte. Denn ich empfand immer von neuem, wie man sich geduldig-wartend einer geistigen Anschauung nähern muß, und wie man dann, wenn man die »Reife des Bewußtseins« erlebt, mit den Ideen zugreifen muß, um die Anschauung in den Bereich der menschlichen Erkenntnis hereinzuversetzen.

Quelle:
Steiner, Rudolf: Mein Lebensgang. Stuttgart 1975, S. 321-326.
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