XXXVIII.

[326] In dem folgenden wird die Darstellung meines Lebensganges von einer Geschichte der anthroposophischen Bewegung schwer zu trennen sein. Und dennoch, ich möchte nur so viel aus der Geschichte der Gesellschaft bringen, als für die Darstellung meines Lebensganges notwendig ist. – Dies wird schon bei der Namensnennung der tätigen Mitglieder in Betracht kommen. Ich komme mit der Schilderung eben zu nahe an die Gegenwart heran, als daß nicht Namensnennungen allzu leicht auf Mißverständnisse stoßen könnten. Bei allem guten Willen wird mancher, der einen andern genannt findet und sich nicht, eine bittere Empfindung haben. – Ich werde im wesentlichen mit Namen nur diejenigen Persönlichkeiten, die außerhalb ihrer Wirksamkeit in der Gesellschaft im geistigen Leben Zusammenhänge haben, nennen; dagegen nicht diejenigen, die solche Zusammenhänge nicht in die Gesellschaft mitgebracht haben.

In Berlin und München waren gewissermaßen die zwei entgegengesetzten Pole der anthroposophischen Wirksamkeit zu entfalten. Es kamen ja an die Anthroposophie Persönlichkeiten heran, die weder in der naturwissenschaftlichen Weltanschauung noch in den traditionellen Bekenntnissen dasjenige an geistigem Inhalt fanden, was ihre Seelen suchen mußten. In Berlin konnte ein Zweig der Gesellschaft und eine Zuhörerschaft für die öffentlichen Vorträge nur aus den Kreisen derjenigen Persönlichkeiten entstehen, die auch alles ablehnten, was an Weltanschauungen im Gegensatze zu den traditionellen Bekenntnissen sich gebildet hatte. Denn die Anhänger solcher auf Rationalismus, Intellektualismus usw. begründeten Weltanschauungen fanden in dem, was Anthroposophie zu geben hatte, Phantastik, Aberglaube, usw. Eine Zuhörer- und Mitgliederschaft erstand, welche die Anthroposophie aufnahm, ohne mit Gefühl oder Ideen nach anderem als nach dieser gerichtet zu sein. Was man ihr von anderer Seite gegeben hatte, das befriedigte sie nicht. Dieser Seelenstimmung mußte Rechnung getragen werden. Und indem das geschah, vergrößerte sich immer mehr die Mitglieder- wie auch die Zuhörerzahl bei öffentlichen Vorträgen. Es entstand ein anthroposophisches Leben, das gewissermaßen in sich geschlossen war und wenig nach dem blickte, was sonst an Versuchen[327] sich bildete, in die geistige Welt Blicke zu tun. Die Hoffnungen lagen in der Entfaltung der anthroposophischen Mitteilungen. Man erwartete, im Wissen von der geistigen Welt immer weiter zu kommen.

Anders war das in München. Da wirkte in die anthroposophische Arbeit von vornherein das künstlerische Element. Und in dieses ließ sich eine Weltanschauung wie die Anthroposophie in ganz anderer Art aufnehmen als in den Rationalismus und Intellektualismus. Das künstlerische Bild ist spiritueller als der rationalistische Begriff. Es ist auch lebendig und tötet das Geistige in der Seele nicht, wie es der Intellektualismus tut. Die tonangebenden Persönlichkeiten für die Bildung einer Mitglieder- und Zuhörerschaft waren in München solche, bei denen das künstlerische Empfinden in der angedeuteten Art wirkte.

Das brachte nun auch mit sich, daß in Berlin ein einheitlicher Zweig der Gesellschaft von vornherein sich gestaltete. Die Interessen derjenigen, die Anthroposophie suchten, waren gleichartig. In München gestalteten die künstlerischen Empfindungen in einzelnen Kreisen individuelle Bedürfnisse, und ich trug in solchen Kreisen vor. Zu einer Art Mittelpunkt dieser Kreise bildete sich derjenige allmählich aus, der sich um die Gräfin Pauline v. Kalckreuth und Frl. Sophie Stinde, die während des Krieges Verstorbene, gruppierte. Dieser Kreis veranstaltete auch meine öffentlichen Vorträge in München. Das immer tiefer gehende Verständnis dieses Kreises erzeugte in ihm ein schönstes Entgegenkommen für dasjenige, was ich zu sagen hatte. Und so entfaltete sich die Anthroposophie innerhalb dieses Kreises in einer Art, die aus der Sache heraus als eine sehr erfreuliche bezeichnet werden konnte. Ludwig Deinhard, der ältere Theosoph, der Freund Hübbe-Schleidens, stellte sich sehr bald sympathisch in diesen Kreis hinein. Und das war sehr wertvoll.

Der Mittelpunkt eines andern Kreises war Frau von Schewitsch. Sie war eine interessante Persönlichkeit, und deshalb wohl war es auch, daß gerade bei ihr auch ein Kreis sich zusammenfand, der weniger auf Vertiefung ging wie der eben geschilderte, sondern mehr auf das Kennenlernen der Anthroposophie als einer Geistesströmung unter den andern der damaligen Gegenwart.

In dieser Zeit hatte ja auch Frau von Schewitsch ihr Buch: »Wie ich mein Selbst fand« erscheinen lassen. Es war ein eigenartiges[328] starkes Bekenntnis zur Theosophie. Auch das trug dazu bei, daß diese Frau der interessante Mittelpunkt des geschilderten Kreises werden konnte.

Für mich – und auch für viele Kreisteilnehmer – war Helene von Schewitsch ein bedeutsames Stück Geschichte. Sie war ja die Dame, wegen der Ferdinand Lassalle gegen einen Rumänen im Duell sein frühzeitiges Ende gefunden hat. Sie hat dann später eine Schauspielerlaufbahn durchgemacht und war in Amerika mit H.P. Blavatsky und Olcott befreundet worden. Sie war eine Weltdame, deren Interessen in der Zeit, in der meine Vorträge bei ihr stattfanden, stark vergeistigt auftraten. Die starken Erlebnisse, die sie gehabt hat, gaben ihrem Auftreten und dem, was sie vorbrachte, ein außerordentliches Gewicht. Durch sie hindurch, möchte ich sagen, konnte ich auf das Wirken Lassalles und dessen Epoche sehen, durch sie auf manches Charakteristische im Leben H.P. Blavatskys. Was sie sagte, war subjektiv gefärbt, von der Phantasie vielfach willkürlich geformt; aber wenn man das in Rechnung zog, so konnte man das Wahre durch manche Verhüllung doch sehen, und man hatte die Offenbarung einer doch ungewöhnlichen Persönlichkeit vor sich.

Andere Münchner Kreise waren in andrer Art gestaltet. Ich gedenke oft einer Persönlichkeit, die mir in mehreren dieser Kreise entgegentrat, eines außerhalb des engeren Verbandes der Kirche stehenden katholischen Geistlichen, Müller. Er war ein feiner Kenner Jean Pauls. Er gab eine recht anregende Zeitschrift »Renaissance« heraus, in der er einen freien Katholizismus verteidigte. Er nahm von Anthroposophie so viel, als ihn bei seinen Anschauungen interessieren konnte, war aber immer wieder skeptisch. Er machte Einwendungen, aber in einer so liebenswürdigen und zugleich elementarischen Art, daß durch ihn oftmals ein schöner Humor in die Diskussionen kam, die sich an die Vorträge anschlossen.

Ich will mit den Charakteristiken, die ich von Berlin und München als den entgegengesetzten Polen des anthroposophischen Wirkens gebe, nichts über den Wert des einen oder andern Poles sagen; es traten da eben Verschiedenheiten bei Menschen auf, die man im Arbeiten zu berücksichtigen hatte, die in ihrer Art gleichwertig sind – wenigstens hat es keine Bedeutung, sie vom Gesichtspunkte des Wertes aus zu beurteilen.

Die Art des Münchner Wirkens führte dazu, daß der Theosophische[329] Kongreß, der 1907 von der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft veranstaltet werden sollte, in München stattfand. Diese Kongresse, die vorher in London, Amsterdam, Paris abgehalten wurden, enthielten Veranstaltungen, die theosophische Probleme in Vorträgen oder Diskussionen behandelten. Sie waren den gelehrten Kongressen nachgebildet. Auch die administrativen Fragen der Theosophischen Gesellschaft wurden behandelt.

An alledem wurde in München manches modifiziert. Den großen Konzertsaal, der für die Tagung dienen sollte, ließen wir – die Veranstalter – mit einer Innendekoration versehen, die in Form und Farbe künstlerisch die Stimmung wiedergeben sollte, die im Inhalt des mündlich Verhandelten herrschte. Künstlerische Umgebung und spirituelle Betätigung im Raume sollten eine harmonische Einheit sein. Ich legte dabei den allergrößten Wert darauf, die abstrakte, unkünstlerische Symbolik zu vermeiden und die künstlerische Empfindung sprechen zu lassen.

In das Programm des Kongresses wurde eine künstlerische Darbietung eingefügt. Marie von Sivers hatte Schurés Rekonstruktion des eleusinischen Dramas schon vor langer Zeit übersetzt. Ich richtete es sprachlich für eine Aufführung ein. Dieses Drama fügten wir dem Programm ein. Eine Anknüpfung an das alte Mysterienwesen, wenn auch in noch so schwacher Form, war damit gegeben – aber, was die Hauptsache war, der Kongreß hatte Künstlerisches in sich. Künstlerisches, das auf den Willen hinwies, das spirituelle Leben fortan nicht ohne das Künstlerische in der Gesellschaft zu lassen. Marie von Sivers, welche die Rolle der Demeter übernommen hatte, wies in ihrer Darstellung schon deutlich auf die Nuancen hin, die das Dramatische in der Gesellschaft erlangen sollte. – Außerdem waren wir in einem Zeitpunkt, in dem die deklamatorische und rezitatorische Kunst durch Marie von Sivers in dem Herausarbeiten aus der inneren Kraft des Wortes an dem entscheidenden Punkte angekommen war, von dem aus auf diesem Gebiete fruchtbar weitergegangen werden konnte.

Ein großer Teil der alten Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft aus England, Frankreich, namentlich aus Holland waren innerlich unzufrieden mit den Erneuerungen, die ihnen mit dem Münchner Kongreß gebracht worden sind. – Was gut gewesen wäre, zu verstehen, was aber damals von den wenigsten[330] ins Auge gefaßt wurde, war, daß mit der anthroposophischen Strömung etwas von einer ganz andern inneren Haltung gegeben war, als sie die bisherige Theosophische Gesellschaft hatte. In dieser inneren Haltung lag der wahre Grund, warum die anthroposophische Gesellschaft nicht als ein Teil der theosophischen weiterbestehen konnte. Die meisten legten aber den Hauptwert auf die Absurditäten, die im Laufe der Zeit in der Theosophischen Gesellschaft sich herausgebildet haben und die zu endlosen Zänkereien geführt haben.


Hier bricht die Lebensbeschreibung jäh ab. Am 30. März 1925 verschied Rudolf Steiner.[331]

Quelle:
Steiner, Rudolf: Mein Lebensgang. Stuttgart 1975, S. 326-332.
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