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Bisher hatte man, wie neuere Untersuchungen (namentlich von H. Diels) wahrscheinlich gemacht haben, die Wissenschaft in engeren, festgeschlossenen Genossenschaften gepflegt. Um die Mitte des 5. Jahrhunderts tritt die Philosophie aus der Stille der Schule hinaus auf den geräuschvollen Markt des öffentlichen Lebens, das sich in vordem ungeahnter Fülle und Lebendigkeit in Hellas zu entfalten begann. Der gewaltige Aufschwung des nationalen und des bürgerlichen Lebens, der sich mit der siegreichen Abwehr der persischen Übermacht verbunden hatte, machte sich auf allen Gebieten bemerkbar. Die Erbin des zerstörten Milet ward Athen, die »Bildungsschule« von Hellas, wie Thukydides den großen Staatsmann dieser Epoche sagen läßt. Hier konzentrierten sich neben den politischen und wirtschaftlichen auch die wissenschaftlichen und künstlerischen Interessen der Zeit und riefen jene Blüte auf allen Zweigen des Geisteslebens hervor, die unter dem Namen des perikleischen Zeitalters noch auf unsere Herzen ihren unvergänglichen Zauber übt. In diesem Athen, wo zugleich die Volksherrschaft sich immer breiter und mächtiger entwickelte, ward der Bildungsdrang auch bei der Masse ein immer stärkerer. Wer politisches und soziales Ansehen gewinnen wollte,[60] bedurfte jetzt nicht mehr oder doch nicht mehr bloß adeliger Geburt, persönlicher Tapferkeit oder Lauterkeit des Charakters, sondern auch theoretischer Bildung und Redegewandtheit. Das Wort war es, das im Rat, in der Volksversammlung, an den Gerichtsstätten den Sieg erringen half. Diesem Drange kamen die Sophisten entgegen.
»Sophist« (sophistês) bedeutet ursprünglich jeden auf irgendeinem Gebiete hervorragenden Mann, den »Meister« einer Sache, besonders aber einen Meister im Wissen, ähnlich etwa wie unser heutiges »Gelehrter«. Nicht bloß Solon und Pythagoras heißen Sophisten, sondern bei Xenophon auch noch Sokrates und Antisthenes, ja bei Isokrates selbst Plato. Um die Mitte des 5. Jahrhunderts aber beginnt daneben der Name von denjenigen insbesondere gebraucht zu werden, welche von Stadt zu Stadt wandernd sich nicht mehr an auserlesene Kreise, sondern an alle wandten und (was dem griechischen Vollbürger auffiel) gegen Bezahlung als Lehrer der Redegewandtheit, der praktischen Lebensweisheit und der Staatskunst auftraten, indem sie vor allem die Jugend zum »richtigen Denken, Sprechen und Handeln in öffentlichen und Privatangelegenheiten« erziehen wollten. Der tadelnde Nebensinn, den wir heute unwillkürlich mit den Worten »Sophist«, »sophistisch«, »Sophismen« verbinden, rührt daher, daß wir die »Sophisten«, die übrigens in Wirklichkeit keine besondere Klasse oder Schule bildeten, ausschließlich aus der ungünstigen Beleuchtung ihrer philosophischen Gegner (Sokrates, Plato und Aristoteles) und den Karikaturen der Komödie (Aristophanes) kennen, und kann namentlich nicht für die ältere Generation derselben gelten, die, wie Protagoras, bei der Mehrzahl der Gebildeten sich hohen Ansehens erfreuten. Später allerdings richtete sich das Streben mancher Sophisten mehr auf äußeren Ruhm und Gewinn als auf gediegene Lehre, mehr auf dialektische Kunstgriffe und rhetorische Disputierkunst oder schablonenhaften Drill als auf ernste Erforschung der Dinge. Bis zum Anfang vorigen Jahrhunderts herrschte die einseitig ungünstige Auffassung der Sophistik; seitdem haben namentlich Hegel und Grote (letzterer wohl sie überschätzend) einer gerechteren Würdigung die Bahn gebrochen, vermöge deren man die Sophisten jetzt in ihrer geschichtlichen Notwendigkeit und ihrer Kulturmission begreift: als Aufklärer und als Verbreiter und Popularisierer der wissenschaftlichen Kenntnisse ihrer Zeit.[61]
Sehen wir von Demokrit ab, dessen Wirksamkeit übrigens mit der der wichtigsten Sophisten gleichzeitig, wenn nicht später fällt, so waren die bisherigen Philosophen im wesentlichen Naturphilosophen, Hauptgegenstand ihres Denkens der Kosmos geblieben; erst Anfänge von Erkenntnistheorie, Psychologie und Ethik hatten wir bei ihnen bemerken können. Der Beruf der Sophisten, Kenntnisse im allgemeinen zu verbreiten, insbesondere aber ihre Schüler »zum Handeln und Reden, zur Leitung des Haus wie des Gemeinwesens geschickt« zu machen, veränderte diese Sachlage durchaus. Sie grübelten nicht mehr in abgezogener Betrachtung den ewigen Rätseln des Seins und Werdens, des Entstehens und des Untergangs der Welten nach, sie unterwarfen nicht mehr den Kosmos, sei es allgemein-philosophischer, sei es mathematisch-naturwissenschaftlicher Erforschung. Ihr Studium war vielmehr der Mensch mit seinem Wahrnehmen und Denken, seinem Wollen und Begehren, seiner privaten und öffentlichen Betätigung. Die Beschäftigung mit sprachlichen, logischen, erkenntnistheoretischen, ethischen Problemen verdrängt fast alles andere, wie schon die erhaltenen Büchertitel – von den Schriften selbst ist fast nichts auf uns gekommen – beweisen. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Forschung dagegen beginnt sich um dieselbe Zeit, zunächst der Sache, später auch den Personen nach, von der gemeinsamen Mutter Philosophie abzulösen. Die mathematische Einzelforschung der jüngeren Pythagoreer, die astronomische des Hiketas u. a., vor allem die medizinische des berühmten Hippokrates (460-377) gehört hierher11.
Noch ein weiteres Moment kommt hinzu. In den großen metaphysischen Systemen, die wir in rascher Folge hintereinander emporsprießen sahen, hatte sich die schöpferische Kraft des griechischen Philosophierens glänzend bewährt, aber gewissermaßen auch erschöpft. Dabei war in Heraklit und den Eleaten ein schier unlösbarer Widerstreit der Anschauungen zutage getreten, der manchen zum Zweifel an der Möglichkeit begrifflichen Erkennens überhaupt führen mochte und auch durch die[62] Vermittlungsversuche der Empedokles und Anaxagoras nicht endgültig beseitigt werden konnte. Die Zuverlässigkeit der Sinnenerkenntnis insbesondere war durch die ganz verschiedenartige Stellungnahme gerade der hervorragendsten Denker: eines Parmenides, Heraklit, Empedokles, Demokrit gründlich erschüttert worden. »In unergründlicher Tiefe ruht die Wahrheit,« schrieb Demokrit, und das, was bisher am festesten schien, hatte Zenon durch seine scharfsinnigen Beweise als leeren Schein erklärt. Kein Wunder, wenn weniger tiefe Geister sich durch solche Erwägungen zum Zweifel oder wohl gar zum Verzicht auf alle objektive Erkenntnis drängen ließen. Die bisherigen Philosophen waren von der Annahme eines Allgemeingültigen ausgegangen. Selbst Heraklits ewiger Fluß der Dinge hatte doch das Bestehen einer Weltvernunft vorausgesetzt. Jetzt erhebt sich – das ist die grundlegende Bedeutung der Sophisten in der Geschichte der Philosophie – zum erstenmal die Frage: Gibt es überhaupt allgemeingültige Wahrheiten? Und zwar dehnten sie die Frage von dem theoretischen auch auf das ethische Gebiet aus. Infolge der reißend schnellen Entwicklung, die das politische und soziale, geistige und materielle Leben Griechenlands, in erster Linie natürlich wieder Athens, im fünften Jahrhundert genommen hatte, war eine Umwandlung aller sittlichen Anschauungen, eine Abwendung von den althergebrachten Sitten und religiösen Gebräuchen, ein Schwanken von Recht und Gesetz eingetreten, das nur noch des 27 jährigen Bruderkrieges zwischen dem attischen und dem peloponnesischen Bunde bedurfte, um zu einer Zerrüttung aller Verhältnisse zu führen.
Dieser Lage der Dinge geben die Sophisten auf philosophischem Gebiete Ausdruck. Sie führen den Grundsatz der Subjektivität, der freien Willkür des suveränen Individuums in die Philosophie ein, auf dem Felde des Erkennens wie des Wollens. Mit den Übeln, die eine schrankenlose Anwendung dieses Grundsatzes auf beiden Gebieten zeitigen konnte und zum Teil wirklich zeitigte, war jedoch auch ein ungeheurer Fortschritt verbunden: die Anerkennung des Individuellen. Sollte ihm die rechte Fruchtbarkeit auch erst durch Sokrates' Begründung der Begriffsphilosophie gegeben werden, so kommt doch den Sophisten das Verdienst zu, diesen neuen Gedanken einer neuen Zeit zuerst literarischen Ausdruck verliehen zu haben. Wir beginnen deshalb auch, im[63] Gegensatz zu manchen anderen Darstellern, mit Ihnen eine neue Periode und wenden uns nun ihren wichtigsten Vertretern zu.
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