§ 16. Aristipp und die Cyrenaiker.

1. Aristipp von Cyrene.

[78] Aristipp, dessen Lebenszeit zwischen 435 und 355 fällt, stammte aus dem schön gelegenen, reichen und genußliebenden Cyrene an der nordafrikanischen Küste. Er war, ehe er zu Sokrates kam, bereits mit der Lehre des Protagoras bekannt geworden und soll auch schon vor Sokrates' Tod als Lehrer aufgetreten sein. Nach demselben führte er, wie die meisten Sophisten, ein Wanderleben, das ihn unter anderem an den Hof des älteren und des jüngeren Dionys zu Syrakus führte. Die Anekdoten, die von seinem dortigen Zusammentreffen mit Plato berichten, stellen ihn im Gegensatz zu dem strengen Idealisten als geistreichen, aber servilen Lebemann dar. Neben der Beweglichkeit und sinnlichen Reizbarkeit, war seiner Persönlichkeit jedoch zugleich als Hauptzug eine heitere Gelassenheit eigen, die ihn zu einem Virtuosen der Lebenskunst und der Kunst der Menschenbehandlung machte, wie ihn Wieland in seinem gleichnamigen Roman anmutig, wenn auch durchaus romanhaft, geschildert hat. Der Schule, die er später in seiner Vaterstadt gründete, der cyrenaischen, gehörte seine Tochter Arete an, die erste weibliche Erscheinung, die uns in der Geschichte der Philosophie begegnet. Sie führte dann wieder ihren Sohn, den jüngeren Aristipp, in die Lehre des Großvaters ein, die nach einer alten Überlieferung erst durch diesen (den »von der Mutter belehrten«, mêtrodidaktos) ihre systematische Ausbildung empfangen und weitere Verbreitung erfahren haben soll.

Wie Sokrates, hielt auch Aristipp mathematische und physikalische Studien für unnütz, weil sie nicht nach dem fragten, was nützlich und schädlich sei. Aber nicht bloß die Physik, auch die Logik tritt bei ihm und seiner Schule durchaus hinter die Ethik zurück. Maßstab und Ausgangspunkt der letzteren bildet für ihn nicht mehr die sokratische Begriffsbestimmung, sondern die Rücksicht auf das eigene Wohlbefinden, nach dem, wie die Erfahrung lehrt, schon die Kinder und die Tiere instinktmäßig[78] streben, die Lust– und Unlustgefühle des Einzelnen. Daher wurden die Cyrenaiker auch Hedoniker (hêdonê = Lust) genannt. Es ist des Protagoras metron, auf das ethische Gebiet übertragen, daher Aristipp mehr als dessen wie als des Sokrates Fortbildner zu betrachten, wie er denn auch von Aristoteles als »Sophist« bezeichnet wird. Und zwar scheint er noch kein allgemeines höchstes Gut, die Glückseligkeit (eudamonia), wie später Epikur, aufgestellt, sondern in der Tat die Lust des Augenblicks als das Maßgebende betrachtet zu haben. Nur die Gegenwart ist unser; um das Vergangene soll man sich nicht kümmern, noch um die Zukunft sorgen. Auch von den Pflichten und Sorgen des öffentlichen. Lebens halte man sich fern; der einzelne und sein Wohlergehen sind vielmehr Zweck und Ziel der Welt. »Tugend ist Genußfähigkeit«, so faßt ein moderner Schriftsteller (Windelband) des Cyrenaikers Lehre zusammen. Freilich soll man die Lust wählen, die den dauerhaftesten, intensivsten und am wenigsten durch folgende Unlust gestörten Genuß verspricht, und dazu bedarf man – nun zeigt sich doch ein sokratisches Moment – der Einsicht oder Besinnung (phronêsis). Die letztere ist jedoch nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck der Lust.

Bei so energisch ausgesprochenem Grundprinzip ist es wissenschaftlich unerheblich, ob Aristipps persönlicher Charakter mehr oder weniger edel gewesen ist, ob er die Lust etwas feiner oder gröber definiert hat. Unbedingt zuverlässige Nachrichten über seine Lehre sind uns ohnehin nicht erhalten. Daß ein geistreicher Mann wie er, der des Sokrates Umgang genossen und ihn hochgestellt hat, sein höchstes Ziel nicht in grober Sinnenlust sehen konnte, ist selbstverständlich. Skrupelloses, freies Genießen dessen, was das Leben bietet, aber zugleich Herrschaft über den Genuß erschien ihm das Erstrebenswerteste. Als ihm sein Umgang mit der Hetäre Lais vorgeworfen wurde, soll er geantwortet haben: 'Echô, ouk echomai (Ich besitze sie, nicht sie mich). Und Horaz, eine verwandte Natur, schreibt ihm das Wort zu: Mihi res, non me rebus subiungere conor. Die cyrenaische Weltanschauung ist eine heitere Lebensweisheit, die allen Dingen die beste Seite abzugewinnen weiß, nicht das Unmögliche begehrt und sich im frohen Genießen des Daseins nicht stören läßt. Eine gewisse unausgeglichene Differenz zwischen Lust[79] und Einsicht blieb bei alledem bestehen. Sie war es vermutlich, die Aristipps Nachfolger zu gewissen Modifikationen seiner Lehre veranlaßte.


2. Die jüngeren Cyrenaiker.

Nicht Aristipp selbst, sondern erst seine Nachfolger scheinen sich mit der theoretischen bezw. psychologischen Ausbildung seiner Lehre befaßt zu haben. Leider sind uns nur dürftige und einseitige Berichte darüber erhalten. Nach Sextus Empirikus (200 n. Chr.) bezogen sich die Untersuchungen »derer von Cyrene« vorzugsweise auf fünf Probleme: 1. Was zu begehren und zu fliehen sei, 2. die Leidenschaften, 3. die Handlungen, 4. die äußeren Ursachen, 5. die Bürgschaften der Wahrheit (Beweisgründe). 4 und 5 scheinen eine Art Physik und Logik als Ergänzung zu der voraufgegangenen Ethik (1-3) enthalten zu haben. Mit Gewißheit kennen wir nur unsere eigenen Empfindungen (pathê), aber nicht deren Ursachen, noch auch, was die anderen empfinden. Jede Empfindung ist eine Art Bewegung, die Lust eine sanfte, die Unlust eine stürmische; der Ruhezustand entspricht der vollendeten Lust- und Schmerzlosigkeit.

Wir haben nun noch besondere Wendungen des cyrenaischen Grundgedankens zu verfolgen. Theodoros, ein Schüler des jüngeren Aristipp, verfeinerte die Lustlehre, indem er als das zu erstrebende Ziel (telos) nicht den Augenblicksgenuß, sondern eine durch die Einsicht vermittelte dauernde Gemütsstimmung, die Heiterkeit oder Freude (kara), aufstellte. Dazu stimmt schlecht der Bericht, daß er in einem rücksichtslosen Naturalismus unter Umständen auch Diebstahl, Ehebruch und Tempelraub für erlaubt erklärt habe. Der ihm beigelegte Beiname »der Atheist« (atheos) bezieht sich wohl auf seine offene Bestreitung der Volksreligion.

Auch Annikeris suchte die cyrenaische Lehre zu veredeln, indem er den Hauptwert auf die feineren Lustempfindungen der Dankbarkeit, Freundschaft und Liebe legte. Zur Einsicht müsse Gewöhnung hinzutreten. Er leitet bereits zum Epikureismus (§ 39) über.

Hegesias dagegen zog aus den Salzender hedonischen Schule die umgekehrte Schlußfolgerung. Da die gepriesene Glückseligkeit doch nur sehr selten erreichbar sei, solle man sich mit der Freiheit von Sorgen und Schmerzen begnügen und sich mit möglichster Gleichgültigkeit[80] gegen alle Launen des Schicksals wappnen. Sei auch dieser Zustand nicht zu erreichen, so solle man das alsdann wertlose Leben lieber wegwerfen. So schlägt die Lustlehre hier in ihren Konsequenzen ganz naturgemäß in den Pessimismus um. Hegesias, »der zum Tod Überredende« (peisithanatos), soll durch seine Vorträge in Alexandrien so viele Zuhörer zum Selbstmorde veranlaßt haben, daß sie verboten wurden.

Eine gewisse Verwandtschaft mit diesen gegen Ende des 4. Jahrhunderts wirkenden Cyrenaikern wie anderseits freilich, ja vielleicht noch mehr, mit der Sophistik zeigt der etwas jüngere, um 300 am Hofe des Kassander lebende Euemeros. Er suchte nachzuweisen, daß die Götter und Heroen der Mythologie nur ausgezeichnete Menschen gewesen seien, denen man nach ihrem Tode göttliche Ehren erwiesen habe. In diesen Zeiten der Auflösung des alten Glaubens fand solch aufklärerischer Rationalismus vielen Anklang; er wurde u. a. durch den Dichter Ennius nach Rom verpflanzt (Mommsen, Röm. Gesch. I, 878).

So haben bereits die Cyrenaiker des Altertums in verschiedenen, zum Teil an ganz moderne Erscheinungen erinnernden Wendungen des Gedankens so ziemlich alle möglichen hedonistischen Standpunkte erschöpft. Eine ganz entgegengesetzte Richtung vertraten:

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 78-81.
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