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[164] Von den vier großen Schulen, deren Entwicklung wir bisher verfolgten; Platonikern (Akademikern), Aristotelikern[164] (Peripatetikern), Stoikern und Epikureern, behauptete eine jede gleichmäßig, im Besitze der Wahrheit zu sein. Demgegenüber mußte naturgemäß, und noch vermehrt durch die Zerrüttung des politischen und sittlichen Lebens, der schon in der Sophistik so stark aufgetretene Zweifel an aller bisherigen Wahrheit, die Skepsis, aufs neue sich regen. Kann man auch der Natur der Sache nach von einer skeptischen »Schule« im eigentlichen Sinne nicht reden, so wurde doch schon vor Ende des 4. Jahrhunderts eine strengere Systematisierung der skeptischen Gedanken versucht; und dieser Versuch hatte Nachfolger. Wir unterscheiden folgende Richtungen: 1. die ältere Skepsis (Pyrrhon, Timon), 2. die Skeptiker der mittleren und neueren Akademie, 3. die jüngere Skepsis (Änesidem u.a.), die jedoch bereits in den nächsten Zeitraum fällt (§ 45).
Von Persönlichkeit und Lehre der ältesten Skeptiker ist uns wenig Sicheres überliefert. Pyrrhon aus Elis machte, zusammen mit seinem Lehrer, dem Demokriteer Anaxarch, den Zug Alexanders nach Asien mit und lebte später, berühmt wegen seiner »göttlichen Seelenruhe«, in seiner Vaterstadt, wo er um 275 in hohem Alter starb; wie es heißt, ohne Schriften zu hinterlassen. Ob er mit der Sophistenschule seiner Heimat (§ 18) zusammenhängt, ist ungewiß; sicherer erscheint der Einfluß Demokrits. Man kannte im späteren Altertum seine Lehre nur aus den Schriften seines Schülers Timon aus Phlius (325 bis 235), der, vielfach umhergetrieben, zuletzt in Athen lebte. Literarischen Ruf erwarb sich Timon besonders als Sillograph, d.h. Verfasser von Spottgedichten, die sich gegen die dogmatischen Philosophen richteten und neben Pyrrhon nur Xenophanes, Protagoras und Demokrit mit Anerkennung behandelten; einige Bruchstücke daraus sind erhalten. Daß er indessen auch ernstere Prosaschriften geschrieben hat, beweisen erhaltene Titel, z.B. peri aisthêseôs (vgl. Wachsmuth, De Timone Phliasio. Leipzig, 2. Aufl. 1885).
Auch für die Skeptiker ist das höchste Ziel ein ethisches: die Erlangung der unerschütterlichen Seelenruhe (Ataraxie), in deren weiteren Bezeichnungen sie an Demokrit erinnern. Sie wird erreicht durch den Zweifel; denn durch das Ansichhalten des Urteils befreit sich der Geist von verwirrenden und beunruhigenden Irrtümern. Dreierlei muß man sich nach Timon zu diesem Zwecke klar machen: 1. Wie sind die Dinge beschaffen? 2. Wie[165] haben wir uns zu ihnen zu verhalten? 3. Welchen Gewinn ziehen wir aus diesem Verhalten? – Auf die erste Frage antwortet er: Die Beschaffenheit der Dinge an sich ist uns völlig unbekannt. Die Wahrnehmung bezieht sich nur auf ihre Erscheinung, alle unsere Meinungen und Begriffe beruhen auf Satzung oder Gewöhnung. Jeder Behauptung läßt sich eine gleich kräftige Gegenbehauptung entgegenstellen. – Die Antwort auf die zweite Frage lautet daher: Wir dürfen nie etwas mit Sicherheit behaupten wollen, nie sagen: Es ist so, sondern höchstens: Es scheint mir so, müssen also mit unserem Urteil au uns halten. Wegen dieser als Kernbegriff ihres Systems (wenn man von einem solchen sprechen darf) auftretenden Lehre von dem Ansichhalten oder dem Zurückhalten des Urteils (epochê) wurden die Skeptiker auch »Ephektiker« genannt. Schwerlich war jedoch damit ein Verzicht auf alle Wissenschaft ausgesprochen; die Skeptiker werden im Gegenteil von Sextus Empirikus »viel erfahrener« als die anderen genannt, und Pyrrhon selbst von einem Gegner (Galen) als ein Mann bezeichnet, der, ohne viele Worte zu machen, durch die Tat zeigte, daß er ein ernstlicher Wahrheitssucher war, wie dies für seine Anhänger auch durch die Benennung zêtêtikoi d. i. »Sucher« angedeutet wird. – Den ethischen Gewinn endlich, den ein solches theoretisches Verhalten mit sich bringt, haben wir bereits oben in der ataraxia kennen gelernt. Sie folgt der epochê wie ihr Schatten.
Eine zweite skeptische Schule entstand erst gegen zwei Jahrhunderte später (s. u.). Dagegen fand die Skepsis in etwas veränderter, zum Teil gemilderter Form dadurch weite Verbreitung, daß sie über ein Jahrhundert lang in einer der vier großen Schulen, nämlich der akademischen, Kur Herrschaft gelangte.