Nur in sehr bedingtem Sinne kann man von einer Philosophie des christlichen Mittelalters sprechen: sofern man nämlich unter Philosophieren rein vernunftgemäßes, von allen Autoritäten unabhängiges Denken versteht. Während die antike Philosophie gerade in der Losreißung von der nationalen Glaubenslehre (Mythologie) erwächst und groß wird, ruht die gesamte mittelalterliche Philosophie, wenn wir von der arabisch-jüdischen Episode (§ 63) absehen, auf dem Grunde des kirchlichen Dogmas. Immerhin hat sich innerhalb dieser Schranken so viel philosophischer Scharfsinn entfaltet, der in mancher Beziehung auch auf die Philosophie der Neuzeit eingewirkt hat, daß dieser Zeitabschnitt nicht einfach übergangen werden darf.
Die Urzeit des Christentums zwar hat mit philosophischer Forschung nichts zu tun. Es tritt vielmehr während derselben eine deutliche Abneigung gegen die Philosophie hervor, die von dieser ebenso kräftig erwidert wird. Aber sobald das Christentum sich über weitere Kreise ausbreitet, insbesondere auch die Gebildeten ergreift, wird ihm eine Auseinandersetzung mit der geistigen Welt des Hellenentums nicht nur zum Bedürfnis, sondern auch zur Notwendigkeit. Um die heidnischen Philosophen mit ihren eigenen Waffen zu überwinden, arbeiten die christlichen Schriftsteller mit den Begriffen und Formeln des griechischen Denkens und bilden so allmählich ein christliches Lehrgebäude, eine Dogmatik aus. Diese Zeit der ersten christlichen Jahrhunderte nennt man die Zeit der »Väter«, ihre Philosophie die Patristik.
Nachdem diese neue, christliche Philosophie in Augustin einen großartigen Ausdruck und relativen Abschluß[209] gefunden hat, sucht das spätere Mittelalter dieselbe nur noch feiner zu begründen und, im Anschluß an Aristoteles, im einzelnen schulmäßig auszugestalten und zu systematisieren (Scholastik). Die Philosophie ist durchaus zur Magd der Theologie geworden. Neben dieser schulmäßigen, logischen Bearbeitung der christlichen Heilslehre geht aber, anfangs leise, allmählich immer stärker werdend, eine dem Neuplatonismus verwandte, an das religiöse Fühlen und gefühlsmäßige Schauen sich wendende Spekulation einher, die in der deutschen Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht. Sie leitet dann auf dem religiösen Gebiet bereits zur neuen Zeit (Reformation) über, während zugleich auf dem intellektuellen die Rückkehr zu selbständigem, wissenschaftlichem Forschen und Erkennen (Renaissance) sich langsam vorbereitet.
Wie interessant diese ganze Entwicklung religionspsychologisch und kulturhistorisch auch ist, so muß unsere Geschichte der Philosophie sich doch, schon aus prinzipiellen Gründen, auf eine Übersicht des philosophisch Wichtigeren beschränken. Einzelheiten derselben darzustellen, ist Sache der Theologie und derjenigen »Philosophie«, die auch heute noch auf den Pfaden der Scholastik wandelt.