§ 8. Das Problem der Wissenschaft.

  • [71] Literatur: P. NATORP, Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems bei den Alten (Berlin 1884).

Die Sophisten waren Lehrer der politischen Beredsamkeit: sie mußten in erster Instanz darüber unterrichten, wie man gut spricht. Und indem sie die Rhetorik aus einer traditionellen Kunst zu einer Wissenschaft umgestalteten, wendeten sie sich zunächst sprachlichen Untersuchungen zu und wurden die Schöpfer der Grammatik und Syntax. Sie stellten Untersuchungen über die Satzteile, über den Wortgebrauch, über Synonymik und Etymologie an: Prodikos, Hippias und Protagoras zeichneten sich in dieser Hinsicht aus; über den Ertrag ihrer Einsichten sind wir nur unvollständig unterrichtet.

1. Noch ungünstiger steht es mit unserer Kenntnis ihrer logischen Errungenschaften, die bis auf wenige Andeutungen verloren sind. Denn daß[71] Lehrer der Rhetorik auch über den Gedankengang der Rede gehandelt haben, versteht sich von selbst. Dieser Gedankengang aber besteht im Beweisen und Widerlegen. Es war also unvermeidlich, daß die Sophisten eine Theorie des Beweisens und Widerlegens entwarfen, und für Protagoras ist es auch190 ausdrücklich bezeugt. Leider aber fehlen alle näheren Nachrichten darüber, wie weit die Sophisten damit gekommen sind und ob sie schon die abstrakte Herausschälung der logischen Formen aus den inhaltlichen Bestimmungen des Denkens versucht haben. Charakteristisch ist, daß die wenigen Nachrichten, die wir über die Logik der Sophisten haben, sich fast ausnahmslos auf ihre Betonung des Satzes vom Widerspruche beziehen: dem advokatischen Wesen lag das Widerlegen näher als das Beweisen. Protagoras hat über »Widerlegungsgründe« eine besondere Schrift, vielleicht seine bedeutendste191, hinterlassen, und er hat das Gesetz des kontradiktorischen Gegensatzes wenigstens soweit formuliert, daß er sagte, es gebe für jeden Gegenstand zwei einander widerstreitende Sätze. Damit beschrieb er in der Tat das Verfahren, das Zenon praktisch angewendet hatte und das auch in der Lehrpraxis der Sophisten eine sehr große Rolle spielte, ja den breitesten Raum einnahm.

Denn zu den Hauptkünsten dieser Aufklärer gehörte es, die Menschen an ihren bisher geltenden Vorstellungen irre zu machen, sie durch geschickte Fragen in Widersprüche zu verwickeln und die so verwirrten womöglich durch Konsequenz oder Konsequenzmacherei zu absurden Antworten so weit zu zwingen, daß sie sich selbst und anderen lächerlich wurden. Daß es dabei logisch nicht immer allzu reinlich, sondern recht gründlich so zuging, wie man es heut »sophistisch« nennt, daß diese Leute sich keine sprachliche Zweideutigkeit, keine Unbehilflichkeit des populären Ausdrucks entgehen ließen, um daraus den Strick der Absurdität zu drehen, das geht aus den Beispielen hervor, welche Platon192 und Aristoteles193 uns erhalten haben. Es sind oft nur sprachliche, grammatische und etymologische, seltener eigentlich logische, vielfach aber recht grobe und frostige Witze, die dabei herauskommen: charakteristisch sind auch hier die Vexierfragen, bei denen sowohl die bejahende als auch die verneinende Antwort nach den Gewohnheiten und Voraussetzungen der in der Rede üblichen Wortbedeutung unsinnige, bezw. vom Antwortenden nicht beabsichtigte Folgerungen zuläßt194.

Diese Kunst des Wortstreits, die Eristik, hatte bei den viel redenden und an Silbenstecherei gewöhnten Athenern großen Erfolg: neben den von Platon gezeichneten Brüdern Euthydemos und Dionysodoros haben sie hauptsächlich die Megariker betrieben, deren Schulhaupt Euklid sich mit der Theorie des Widerlegens beschäftigte195. Seine Anhänger Eubulides und Alexinos wurden durch eine Reihe solcher Fangschlüsse, die großes Aufsehen machten und eine ganze Literatur hervorriefen, berühmt196, Unter diesen befanden sich zwei, der »Haufen« und der »Kahlkopf«197, deren Grundgedanke bereits auf[72] Zenon zurückgeführt wird und bei diesem sich den Argumentationen einfügt, durch welche gezeigt werden sollte, daß die Zusammensetzung der Größen aus kleinsten Teilen unmöglich sei. Aehnlich haben auch Zenons Beweise gegen die Bewegung durch einen andern Megariker, Diodoros Kronos, noch Vermehrung, wenn auch nicht Vertiefung oder Verstärkung gefunden198. Unermüdlich in der Auffindung solcher Aporien, Schwierigkeiten und Widersprüche, erfand derselbe Diodor auch den berühmten Beweis (kyrieuôn), welcher den Begriff der Möglichkeit zersetzen sollte: möglich ist nur das Wirkliche, denn ein Mögliches, das nicht wirklich wird, erweist sich eben dadurch als unmöglich.199.

Auch in anderer Weise zeigen die dem Eleatismus näher stehenden Sophisten eine extreme Anwendung des Satzes vom Widerspruch und eine entsprechende Uebertreibung des Prinzips der Identität. Schon Gorgias scheint seine Lehre, daß alle Behauptungen falsch seien, auch dadurch gestützt zu haben, daß es unrichtig sei, von etwas irgend etwas anderes als eben dies selbe auszusagen: und die Kyniker sowie Stilpon, der Megariker, haben diesen Gedanken zu dem ihrigen gemacht. Danach bleiben nur so rein identische Urteile, wie gut ist gut, Mensch ist Mensch u.s.f. übrig200. Damit ist konsequenterweise auch das Urteilen und Reden ebenso unmöglich gemacht, wie nach eleatischem Prinzip Vielheit und Bewegung. So wie in der Metaphysik des Parmenides, die übrigens auch gelegentlich sowohl bei den Megarikern wie bei den Kynikern spukt (vgl. unten Nr. 5), der Mangel an Beziehungsbegriffen keine Verknüpfung der Einheit mit der Vielheit gestattet und zur Leugnung der Vielheit geführt hatte, so ließ hier der Mangel logischer Beziehungsbegriffe die Aussage einer Mannigfaltigkeit von Prädikaten über das Subjekt unmöglich erscheinen.

2. Dies alles sind nun schon Wendungen, in denen die skeptische Richtung zum Ausdruck kommt, welche die Untersuchungen der Sophisten über die Erkenntnistätigkeit genommen haben. Wenn aus solchen Gründen die logische Unmöglichkeit aller synthetischen Satzbildung behauptet wurde, so zeigte sich, daß mit dem abstrakten Prinzip der Identität, wie es die Seinslehre der Eleaten formuliert hatte, das Erkennen selbst unvereinbar war: in den Zenonischen Dichotomien hatte sich die Lehre des Parmenides selbst unrettbar verstrickt. Zum offensten Ausdruck kam dies in der Schrift des Gorgias201, die Sein, Erkenntnis und Mitteilung der Erkenntnis für unmöglich erklärte. Es ist nichts: denn sowohl das Sein, welches weder als ewig noch als vergänglich, weder als einfach noch als vielfach gedacht werden kann, als auch das Nichtsein sind in sich widerspruchsvolle Begriffe. Wäre aber etwas, so wäre es nicht erkennbar: denn das Gedachte ist immer etwas anderes als das Sein, sonst könnten sie nicht unterschieden werden. Wäre endlich Erkenntnis, so könnte sie nicht gelehrt werden: denn jeder hat nur seine eigenen Vorstellungen, und es gibt bei der Verschiedenheit zwischen den Gedanken und den für ihre Mitteilung zu verwendenden Zeichen keine Gewähr gegenseitiger Verständigung.

Dieser Nihilismus machte wohl kaum den Anspruch, ernst genommen[73] zu werden. Schon der Titel des Buches peri physeôs ê peri tou mê ontos sieht wie eine groteske Farce aus. Der formgewandte Rhetor, der alle ernste Wissenschaft verachtete und nur seine Redekunst betrieb202, machte sich den Spaß, im Stil von Zenons kontradiktorischer Zwickmühle die ganze Arbeit der Philosophie als nichtig zu ironisieren. Aber eben, daß er dies tat und daß dies Anklang fand, beweist, wie gerade unter den Männern, welche sich mit der Belehrung des Volkes beschäftigten, in den Kreisen der wissenschaftlichen Bildung selbst, der Glaube an die Wissenschaft zu eben der Zeit verloren ging, wo die Masse in ihr das Heil suchte. Diese Verzweiflung aber an der Wahrheit ist um so begreiflicher, je mehr die ernsthaft wissenschaftliche Untersuchung, die Protagoras führte, zu demselben Resultate gelangte.

3. Den Kernpunkt der Lehre des Protagoras bildet sein Bestreben, die menschlichen Vorstellungen psychogenetisch zu erklären. Für den praktischen Bedarf der Tugendlehre und namentlich der rhetorischen Ausbildung war die Einsicht in den Ursprung und die Entwicklung der Vorstellungen durchaus erforderlich; dafür aber genügten die aus allgemeinen begrifflichen Voraussetzungen konstruierten Behauptungen, welche die Metaphysiker darüber gelegentlich geäußert hatten, keineswegs; dagegen boten sich von selbst die physiologisch-psychologischen Beobachtungen dar, die man in den jüngeren, mehr naturwissenschaftlichen Kreisen gemacht hatte. Da nun für Protagoras jene Wertbestimmungen zunächst fortfielen, von denen aus Denken und Wahrnehmung einander gegenübergestellt worden waren, so blieb für ihn nur die Ansicht von der psychologischen Identität des Denkens mit dem Wahrnehmen übrig, zu welcher sich ja auch Jene Metaphysiker, sobald sie das Vorstellen aus dem Weltlauf erklären wollten, durchweg bekannt hatten (vgl. § 6, 3). Infolgedessen erklärte er, daß das ganze Seelenleben nur aus den Wahrnehmungen bestehe203. Dieser Sensualismus erläuterte sich sodann durch die ganze Menge der Tatsachen, welche die physiologische Psychologie in Verbindung mit den Lehren der wissenschaftlich forschenden Aerzte gesammelt hatte, und durch die zahlreichen Theorien, die insbesondere über den Prozeß der Sinnestätigkeit aufgestellt worden waren.

Allen diesen aber war die Vorstellungsweise gemeinsam, daß wie jeder Vorgang des Geschehens in der Welt, so auch die Wahrnehmung in letzter Instanz auf Bewegung beruhe. Darin waren sogar mit den Atomisten, aus deren Schule vermutlich Protagoras als Abderit hervorging, Anaxagoras und Empedokles einig, und diese Einmütigkeit erstreckte sich noch weiter, dahin nämlich; daß man allerseits bei der Wahrnehmung nicht nur einen Bewegungszustand des wahrzunehmenden Dinges, sondern auch einen solchen des wahrnehmenden Organs annahm. Mochte man über das metaphysische Wesen dessen was sich da bewegte, denken wie man wollte, – das schien zweifellos anerkannt, daß Jede Wahrnehmung diese Doppelbewegung voraussetzte. Und auch mit der Lehre war schon Empedokles vorangegangen, daß die innere, organische Bewegung der äußeren entgegenkomme204.[74]

Auf dieser Grundlage205 baut sich die Erkenntnislehre des Protagoras auf. Ist nämlich die Wahrnehmung das Produkt dieser beiden aufeinander gerichteten Bewegungen, so ist sie offenbar etwas anderes als das wahrnehmende Subjekt, aber auch etwas anderes als das die Wahrnehmung hervorrufende Objekt. Durch beide bedingt, ist sie doch von beiden verschieden. Diese weittragende Einsicht bezeichnet man als die Lehre von der Subjektivität der Sinneswahrnehmung.

Doch tritt diese bei Protagoras in einer eigentümlichen Verschränkung auf. Da er nämlich offenbar so wenig wie irgend einer der früheren Denker ein Bewußtsein ohne einen entsprechend existierenden Bewußtseinsinhalt annehmen mochte, so lehrte er, daß bei jener Doppelbewegung auch ein Zwiefaches entstünde: das Wahrnehmen (aisthêsis) im Menschen und der Wahrnehmungsinhalt (to aisthêton) an dem Dinge. Daher ist die Wahrnehmung zwar das völlig adäquate Wissen von dem Wahrgenommenen, aber gar kein Wissen von dem Dinge. Jede Wahrnehmung ist also insofern wahr, als in dem Augenblicke, wo sie entsteht, auch der in ihr vorgestellte Inhalt an dem Dinge als aisthêton entsteht; aber keine Wahrnehmung erkennt das Ding selbst. Der Mensch erkennt folglich die Dinge nicht wie sie sind, sondern so wie sie im Momente der Wahrnehmung für ihn, aber auch nur für ihn sind: und sie sind in diesem Momente in Bezug auf ihn so, wie er sie vorstellt. Das ist der Sinn des protagoreischen Relativismus, nach welchem die Dinge für jeden Einzelnen so sind, wie sie ihm erscheinen, und dies drückte er in dem berühmten Satze aus: daß aller Dinge Maß der Mensch sei.

Danach ist also Jede Meinung, die aus der Wahrnehmung erwächst, wahr, aber im gewissen Sinne eben deshalb auch falsch. Sie gilt nur für den Wahrnehmenden selbst und auch für ihn nur in dem Momente ihrer Entstehung; es geht ihr jede Allgemeingültigkeit ab. Und da nach der Ansicht des Protagoras es kein anderes Vorstellen, also auch kein anderes Wissen gibt als die Wahrnehmung, so gibt es für die menschliche Erkenntnis überhaupt nichts Allgemeingültiges. Diese Ansicht ist Phänomenalismus, insofern als sie in diesem ganz bestimmten Sinne eine auf das Individuum und auf den Moment beschränkte Erkenntnis der Erscheinung lehrt; sie ist Skeptizismus, insofern sie jedes darüber hinausgehende Wissen ablehnt.

Wie weit Protagoras selbst praktische Konsequenzen aus diesem Satze, daß für jeden seine Meinung wahr sei, gezogen hat, wissen wir nicht. Jüngere Sophisten folgerten, danach sei Irrtum nicht möglich, allem komme alles und wieder auch nichts zu, besonders aber: es sei kein wirklicher Widerspruch möglich; denn da jeder von seinem Wahrnehmungsinhalt rede, so hätten niemals verschiedene Aussagen denselben Gegenstand. Jedenfalls verzichtete Protagoras auf jede positive Behauptung über das Seiende; er sprach nicht von dem Wirklichen, was sich bewegt, sondern nur von der Bewegung und von den Erscheinungen, welche sie für die Wahrnehmung hervorbringe.[75]

In dieser Hinsicht hat nun, sei es Protagoras selbst, sei es die von ihm abhängige Sophistik, die Versuche begonnen, auf die Verschiedenheiten der Bewegung die Verschiedenheiten der Wahrnehmung und damit auch der Erscheinung zurückzuführen. Es war vermutlich auch die Form, hauptsächlich aber die Geschwindigkeit der Bewegung, welche dabei in Betracht gezogen wurde206. Interessant ist ferner, daß unter den Begriff der Wahrnehmung nicht nur die Empfindungen und Anschauungen, sondern auch die sinnlichen Gefühle und Begierden subsumiert wurden, – merkwürdig besonders deshalb, weil auch diesen Zuständen ein aisthêton, eine momentane Qualifikation des die Wahrnehmung erzeugenden Dinges entsprechen sollte. Die Prädikate der Annehmlichkeit und Begehrungswürdigkeit erfahren auf diese Weise dieselbe erkenntnistheoretische Wertung, wie die Prädikate der sinnlichen Vereigenschaftung. Was jemandem angenehm, nützlich, wünschenswert erscheint, ist für ihn angenehm, nützlich und wünschenswert. Das individuelle Befinden ist auch hierin das Maß der Dinge, und eine andere, allgemeingültige Bestimmung des Werts der Dinge gibt es nicht. In dieser Richtung hat sich der aristippische Hedonismus aus der protagoreischen Lehre entwickelt; wir kennen, lehrt er, nicht die Dinge, sondern nur ihren Wert für uns und die Zustände (pathê), in die sie uns versetzen. Diese aber sind Ruhe und Gleichgültigkeit, heftige Bewegung und Schmerz, oder sanfte Bewegung und Lust. Und unter ihnen ist nur die letztere erstrebenswert (vgl. oben § 7, 9).

  • Literatur: E. LAAS, Idealismus und Positivismus I (Berlin 1880).
    W. HALBFASS, Die Berichte des Platon und Aristoteles über Protagoras (Straßburg 1882).
    SATTIG, Der protagoreische Sensualismus (Zeitschritt für Philosophie, Bd. 801-89).

4. So mündeten alle Gedankengänge der Sophisten bei dem Verzicht auf die Wahrheit: Sokrates aber brauchte Wahrheit, und deshalb glaubte er, daß sie zu erreichen sei, wenn man sie redlich suche. Tugend ist Wissen, und da es Tugend geben muß, so muß es auch Wissen geben. Hier tritt zum erstenmal in der Geschichte mit voller Klarheit das sittliche Bewußtsein als erkenntnistheoretisches Postulat auf. Weil Sittlichkeit nicht ohne Erkenntnis möglich ist, so muß es Erkenntnis geben: und wenn das Wissen nicht da ist, so muß es gesucht werden, so muß es erstrebt werden, wie der Liebende nach dem Besitz des Geliebten trachtet. Wissenschaft ist die sehnende, ringende Liebe zum Wissen: philosophia (vgl. Platon, Symp. 203 e).

Aus dieser Ueberzeugung entwickeln sich alle Eigentümlichkeiten der sokratischen Wissenschaftslehre207, in erster Linie die Grenzen, innerhalb deren er das Wissen für notwendig und deshalb für möglich hielt. Es ist nur eine Kenntnis der menschlichen Lebensverhältnisse (ta anthrôpeia), welche für das sittliche Leben notwendig ist: nur für diese ist ein Wissen nötig, und nur für diese reicht auch die Erkenntniskraft des Menschen aus. Die naturphilosophischen und metaphysischen Hypothesen haben mit der sittlichen Aufgabe des[76] Menschen nichts zu tun, und sie werden von Sokrates um so weniger in Betracht gezogen, als er die Ansicht der Sophisten teilte, daß es unmöglich sei, darüber eine sichere Erkenntnis zu gewinnen. Wissenschaft ist nur als praktische Einsicht, als Erkenntnis des sittlichen Lebens möglich.

Diese Ansicht haben die sophistischen Nachfolger des Sokrates unter dem Einflusse seines eudämonistischen Prinzips noch schroffer zugespitzt. Den Kynikern wie den Kyrenaikern hatte die Wissenschaft nur so weit Wert, als sie dem Menschen die rechte Einsicht gewährt, die dazu dient, glücklich zu werden. Bei Antisthenes und Diogenes wurde das Wissen nicht an sich, sondern als Mittel zur Beherrschung der Begierden und zur Erkenntnis der natürlichen Bedürfnisse des Menschen geschätzt; die Kyrenaiker sagten, die Ursachen der Wahrnehmung (ta pepoiêkota ta pathê) seien für uns ebenso gleichgültig wie unerkennbar; das zur Glückseligkeit führende Wissen habe es nur mit unseren Zuständen, die wir sicher erkennen, zu tun. Gleichgültigkeit gegen Metaphysik und Naturwissenschaft ist bei Sokrates, wie bei den Sophisten die Folge ihrer Beschäftigung mit dem inneren Wesen des Menschen.

5. Es wird für alle Zeiten eine merkwürdige Tatsache bleiben, daß ein Mann, der sich den Gesichtskreis der wissenschaftlichen Untersuchung so verengte wie Sokrates, doch innerhalb desselben das Wesen der Wissenschaft selbst in so klarer und für alle Zukunft maßgebender Weise bestimmte. Er verdankt dies wesentlich seinem instinktiven und überzeugungsvollen Gegensatz gegen den Relativismus der Sophisten. Sie lehrten, daß es nur Meinungen (doxai) gebe, die für den einzelnen mit psychogenetischer Notwendigkeit gelten; er aber suchte ein Wissen, das für alle in gleicher Weise maßgebend sein sollte. Dem Wechsel und der Mannigfaltigkeit der individuellen Vorstellungen gegenüber verlangte er nach dem Bleibenden und Einheitlichen, das alle anerkennen sollen. Er suchte die logische Physis, und er fand sie im Begriff. Auch hier wurzelte die Ansicht in der Forderung, die Theorie im Postulat.

Auch die alten Denker hatten ein Gefühl davon gehabt, daß das vernünftige Denken, dem sie ihre Erkenntnis verdankten, etwas wesentlich anderes sei als das alltägliche sinnliche Weltauffassen und hergebrachte Meinen; aber sie hatten diesen Wertunterschied weder psychologisch noch logisch ausführen können. Sokrates ist dies gelungen, weil er auch hier die Sache durch die Leistung bestimmte, welche er von ihr erwartete. Die Vorstellung, die mehr als Meinung sein, die als Wissen für alle gelten soll, muß dasjenige sein, was in allen den besonderen Vorstellungen, die den einzelnen in einzelnen Verhältnissen sich aufgedrungen haben, gemeinsam ist: die subjektive Allgemeingültigkeit ist nur für das objektive Allgemeine zu erwarten. Wenn es daher Wissen geben soll, so ist es nur in demjenigen zu finden, worin alle einzelnen Vorstellungen übereinkommen. Dies sachlich Allgemeine, welches die subjektive Gemeinsamkeit des Vorstellens ermöglicht, ist der Begriff (logos), und Wissenschaft ist somit begriffliches Denken. Die allgemeine Geltung, die für das Wissen in Anspruch genommen wird, ist nur dadurch möglich, daß der wissenschaftliche Begriff das Gemeinsame heraushebt, welches in allen einzelnen Wahrnehmungen und Meinungen enthalten ist.

Daher ist das Ziel aller wissenschaftlichen Arbeit die Begriffsbestimmung,[77] die Definition. Der Zweck der Untersuchung ist, festzustellen ti hekaston ein, was jedes Ding ist; nur so kann man den wechselnde Meinungen gegenüber zu bleibenden Vorstellungsge bilden kommen.

Vorbereitet war diese Lehre einigermaßen durch die Untersuchungen der Sophisten über die Wortbedeutung, über Synonymik und etymologische Verhältnisse. In letzterer Hinsicht gingen die Hypothesen der Sophisten bei den Anfängen der Sprachphilosophie (vgl. Platons Kratylos) auf die Frage hinaus, ob eine natürliche oder nur eine konventionelle Beziehung zwischen den Wörtern und ihre Bedeutungen obwalte (physei ê thesei). Erfolgreich scheint in der Fixierung der Wortbedeutungen besonders Prodikos gewesen zu sein, den Sokrates lobend erwähnt.

Bei den späteren Sophisten hat sich das sokratische Verlangen nach festen Begriffen sogleich mit der eleatischen Metaphysik und ihrem Postulat der Identität des Seins mit sich selbst verquickt. Euklid nannte die Tugend oder das Gute das einzige Sein, das, von den Menschen nur mit verschiedenen Namen bezeichnet, in sich unveränderlich dasselbe bleibe. Antisthenes erklärte zwar den »Begriff« dahin, er sei es, welcher das zeitlose Sein des Dinges bestimme208; aber er faßte diese allen Beziehungen überhobene Identität des Seienden mit sich selbst so schroff, daß er jedes wahrhaft Seiende nur durch sich selbst bestimmbar dachte. Die Prädikation ist unmöglich, es gibt nur analytische Urteile (vgl. oben Nr. 1). Danach ist nur das Zusammengesetzte begrifflich bestimmbar, das Einfache ist nicht zu definieren209. Voll dem letzteren gibt es also keine begriffliche Einsicht, es kann nur in sinnlicher Gegenwärtigkeit aufgewiesen werden. So kamen die Kyniker aus der sokratischen Begriffslehre zu einem Sensualismus, der als Einfaches Ursprüngliches nur das mit Händen zu Greifende, mit Augen zu Sehende anerkannte und dies ist der Grund ihrer Opposition gegen Platon und ihres von diesem lebhaft bekämpften Materialismus.


6. Aufsuchung der Begriffe war somit für Sokrates das Wesen der Wissenschaft, und dies bestimmte zunächst die äußere Gestalt seines Philosophierens. Der Begriff sollte das sein, was für alle gilt: er mußte also in gemeinsamem Denken gefunden werden. Sokrates ist weder ein einsamer Grübler, noch ein Lehrer, der ex cathedra doziert, sondern ein wahrheitsdurstiger Mann, der sich ebenso belehren will wie die andern. Seine Philosophie ist dialogisch, sie entwickelt sich im Gespräch, das er mit jedem, der ihm Rede stehen wollte, zu beginnen bereit war210. Zu den sittlichen Begriffen, die er allein suchte, war ja der Zugang von jedem beliebigen Gegenstand alltäglichster Beschäftigung leicht zu finden. In dem Austausch der Gedan ken sollte sich das Gemeinsame herausstellen, der dialogismos; war der Weg zum logos. Aber diese Unterhaltung stieß auf mannigfaltige Schwierigkeiten: auf die Trägheit der gewohnheitsmäßigen Vorstellungsweise, auf die eitle Neuerungssucht und Paradoxie der Sophisten, auf den Hochmut des Scheinwissens und des gedankenlosen Nachredens. Hier sprang Sokrates ein, indem er selbst als der Lernbegierige sich einführte, durch geschickte Fragen die Ansichten herauslockte, mit unerbittlicher Konsequenz ihre Mängel aufdeckte und schließlich dem bildungsstolzen Athener zu Gemüte führte, daß die Einsicht in die eigene Unwissenheit der Anfang alles Wissens sei. Wer dann noch bei ihm aushielt, mit dem begann er ernsthaft in gemeinsamem Denken zur Begriffsbestimmung überzugehen, und indem er die Führung des Gesprächs übernahm, brachte er den Redegenossen Schritt für Schritt zu klarerer, widerspruchsloserer Entfaltung seiner eigenen Gedanken, und ließ ihn das, was in ihm als unfertig Geahntes schlummerte, zu festem Ausdruck bringen. Er nannte dies seine geistige Entbindungskunst und jene Vorbereitung dazu seine Ironie.[78]

7. Die mäeutische Methode hat aber noch einen andern sachlichen Sinn: in der Unterredung kommt die vernünftige Gemeinsamkeit zu Tage, der sich alle Teile trotz ihrer auseinandergehenden Meinungen unterwerfen. Der Begriff soll ja nicht gemacht, er soll gefunden werden: er ist schon da, er muß nur aus den Hüllen der individuellen Erfahrungen und Meinungen, in denen er steckt, entbunden werden. Darum ist das Verfahren der sokratischen Begriffsbildung epagogisch oder induktorisch: es führt durch die Vergleichung der besonderen Ansichten und sinnlichen Einzelvorstellungen zu dem begrifflich Allgemeinen; es entscheidet jede Einzelfrage, indem es durch Heranziehung analoger Fälle, durch Aufsuchung verwandter Verhältnisse zu einer allgemeinen begrifflichen Bestimmung vorzudringen sucht, die sich dann auf das vorgelegte Sonderproblem entscheidend anwenden läßt, und es bringt diese Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine als das Grundverhältnis der wissenschaftlichen Erkenntnis zur Durchführung.

Freilich ist das induktorische Verfahren, wie es Sokrates (bei Xenophon und Platon) anwendet, noch von kindlicher Einfachheit und Unfertigkeit. Es fehlt ihm noch die Vorsicht des Verallgemeinerns und die methodische Behutsamkeit der Begriffsbildung. Das Bedürfnis nach dem Allgemeinen ist so lebhaft, daß es sich sogleich an schnell zusammengerafftem Material befriedigt, und die Ueberzeugung von der bestimmenden Geltung des Begriffs ist so stark, daß danach sofort die vorgelegte einzelne Frage entschieden wird. So groß aber die Lücken in den Beweisführungen des Sokrates sein mögen, so wenig wird dadurch ihre historische Bedeutsamkeit verringert. Seine Lehre von der Induktion hat keinen methodologischen, sondern logischen und erkenntnistheoretischen Wert. Sie fixiert in einer für alle Zukunft maßgebenden Weise, daß es die Aufgabe der Wissenschaft ist, aus der Vergleichung der Tatsachen zur Feststellung allgemeiner Begriffe hinzustreben.

8. Wenn Sokrates so das Wesen der Wissenschaft als das begriffliche Denken bestimmte, so setzte er auch die Grenzen ihrer Anwendung fest: jene Aufgabe ist seiner Meinung nach nur auf dem Gebiet des praktischen Lebens zu erfüllen. Wissenschaft ist ihrer Form nach Begriffsbildung und ihrem Gegenstande nach Ethik.

Indessen bestehen doch nun die ganze Masse der Vorstellungen über die Natur und alle die sich daran knüpfenden Fragen und Probleme, und wenn diese auch zum größten Teil für das sittliche Leben gleichgültig sind, so lassen sie sich doch nicht ganz abweisen: nachdem aber Sokrates darauf verzichtet hat, über solche Fragen zu begrifflicher Einsicht zu gelangen, bleibt ihm um so mehr die Möglichkeit, sich über das Weltall eine Vorstellung zu bilden, die seinen wissenschaftlich begründeten, sittlichen Bedürfnissen genügt.

So kommt es, daß Sokrates zwar jede Naturwissenschaft ablehnt, dabei aber sich zu einer teleologischen Naturbetrachtung bekennt, welche die Weisheit der Welteinrichtung, die Zweckmäßigkeit der Dinge bewundert211 und[79] welche da, wo das Verständnis aufhört, gläubig der Vorsehung vertraut. Mit diesem Glauben hat sich Sokrates möglichst nahe an den religiösen Vorstellungen seines Volkes gehalten und auch von der Vielheit der Götter gesprochen, obwohl er dem ethischen Monotheismus, der sich in seiner Zeit vorbereitete, gewiß auch zuneigte. Aber er trat in solchen Dingen nicht als Reformator auf, er lehrte sittliche Bildung, und wenn er seinen Glauben auseinandersetzte, so ließ er den der andern unangetastet.

Aus diesem Glauben stammte aber auch die Ueberzeugung, mit der er sogar den Rationalismus seiner Ethik einschränkte: das Vertrauen auf das daimonion. Je mehr er auf Klarheit der Begriffe und auf vollkommene Erkenntnis der sittlichen Verhältnisse drang, und je mehr er dabei wahr gegen sich selbst war, um so weniger konnte er sich verbergen, daß der Mensch in seiner Beschränktheit damit nicht auskommt, daß es Zustände gibt, in denen die Erkenntnis zur sicheren Entscheidung nicht ausreicht und wo das Gefühl in seine Rechte tritt. Hier nun glaubte Sokrates in sich das Dämonion zu hören, eine beratende, meist warnende Stimme. Er meinte, daß die Götter auf diese Weise den, der ihnen sonst diente, in schwierigen Lagen, wo seine Erkenntnis aufhörte, vom Schlechten abmahnten.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 71-80.
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