§ 9. Die Neubegründung der Metaphysik durch Erkenntnistheorie und Ethik.

[85] Die großen Systematiker der griechischen Wissenschaft haben an der Sophistik eine schnelle, aber gerechte Kritik geübt; sie haben sogleich gesehen, daß unter ihren Lehren nur eine einzige den Wert dauernder Geltung und wissenschaftliche Fruchtbarkeit besaß – die Wahrnehmungstheorie des Protagoras.

1. Diese ist daher der Ausgangspunkt für Demokrit und für Platon geworden; und zwar haben beide sie angenommen, um darüber hinauszugehen und die Folgerungen anzugreifen, welche der Sophist daraus gezogen hatte. Beide gehen zu, daß die Wahrnehmung, wie sie selbst nur ein Produkt des Geschehens ist, auch nur die Erkenntnis von etwas sein kann, was mit ihr zusammen ebenfalls als vorübergehendes Produkt desselben Geschehens entsteht und vergeht. Die Wahrnehmung gibt also nur Meinung (doxa), sie lehrt, was nach menschlicher Ansicht (nomô heißt es mit echt sophistischer Ausdrucksweise[85] bei Demokrit) erscheint, nicht das was wahrhaft ist (eteê bei Demokrit, ontôs bei Platon).

Für Protagoras, dem die Wahrnehmung die einzige Erkenntnisquelle war, gab es infolgedessen keine Erkenntnis des Seienden. Daß er den weiteren Schritt getan hätte, das Sein überhaupt zu leugnen und die Wahrnehmungsgegenstände für das einzig Wirkliche zu erklären, hinter dem man kein Sein zu suchen hätte, diese »positivistische« Folgerung ist bei ihm nicht nachzuweisen: der »Nihilismus« (»es gibt kein Sein«) wird ausdrücklich nur von Gorgias überliefert (vgl. jedoch oben § 8, 2).

Wenn nun doch wieder den Meinungen, sei es aus welchem Grunde immer, eine allgemeingültige Erkenntnis (gnêsiê gnômê bei Demokrit, epistêmê bei Platon) gegenübergestellt werden sollte, so mußte der Sensualismus des Protagoras verlassen und wieder die Stellung der alten Metaphysiker eingenommen werden, welche das Denken (dianoia) als höhere und bessere Erkenntnis von der Wahrnehmung unterschieden (vgl. § 6). So gehen denn Demokrit und Platon parallel über Protagoras hinaus, indem sie die Relativität der Wahrnehmung anerkennen und die Erkenntnis des wahrhaft Seienden wieder vom Denken erwarten. Beide sind ausgesprochene Rationalisten214.

2. Doch unterscheidet sich dieser neue metaphysische Rationalismus von dem älteren der kosmologischen Periode nicht nur durch die breitere psychologische Grundlage, die er der protagoreischen Analyse der Wahrnehmung verdankte, sondern infolgedessen auch durch eine andere erkenntnistheoretische Wertung der Wahrnehmung selbst. Die früheren Metaphysiker hatten die Wahrnehmungsinhalte, wo diese in ihre begriffliche Weltvorstellung nicht paßten, einfach als Trug und Schein verworfen, ohne sich viel darum zu kümmern, woher solch ein Schein kommen sollte. Jetzt war dieser Schein (durch Protagoras) erklärt, aber so, daß für den Wahrnehmungsinhalt unter Preisgebung seiner Allgemeingültigkeit wenigstens der Wert einer vorübergehenden und relativen Wirklichkeit in Anspruch genommen wurde.

Dies führte im Zusammenhange mit der Richtung der wissenschaftlichen Erkenntnis auf das bleibende, »wahre« Sein zu einer Spaltung im Begriffe der Realität, und damit war das Grundbedürfnis des erklärenden Denkens, das unwillkürlich schon den Anfängen der Wissenschaft zu Grunde gelegen hatte, zum klaren, ausdrücklichen Bewußtsein gekommen. Den beiden Erkenntnisarten – so lehrten Demokrit und Platon – entsprechen zwei verschiedene Arten der Wirklichkeit: der Wahrnehmung eine wechselnde, relative, vorübergehende, dem Denken eine in sich gleiche, absolute, bleibende Wirklichkeit. Für die erstere scheint Demokrit den Ausdruck »Erscheinungen«, ta phainomena eingeführt zu haben, Platon bezeichnet sie als die Welt des Werdens, genesis; die andere nennt Demokrit ta eteê onta, Platon to ontôs on oder ousia. Auf diese Weise wird für die Wahrnehmung und Meinung eine analoge Richtigkeit, wie für das rationale Denken gewonnen: die Wahrnehmung erkennt die veränderliche Wirklichkeit ebenso wie das Denken die bleibende Wirklichkeit.[86] Den beiden Erkenntnisweisen entsprechen zwei Gebiete der Wirklichkeit215.

Aber zwischen diesen beiden Gebieten der Realität besteht deshalb auch dasselbe Wertverhältnis, wie zwischen den beiden Erkenntnisweisen. So viel wie das Denken als das allgemeingültige Vorstellen über dem Wahrnehmen als der nur für den einzelnen und für das einzelne geltenden Erkenntnis steht, so viel höher, reiner, ursprünglicher steht das wahre Sein über der niederen Wirklichkeit der Erscheinungen und des zwischen ihnen wechselnden Geschehens. Dies Verhältnis hat zwar Platon aus weiterhin zu entwickelnden Gründen besonders betont und ausgeführt; aber es tritt auch bei Demokrit nicht nur in der Erkenntnistheorie, sondern auch in der Ethik zu Tage.

Auf diese Weise treffen die beiden Metaphysiker mit dem Ergebnis zusammen, welches die Pythagoreer (vgl. § 5, 8 und § 6, 1) von ihren Voraussetzungen her gleichfalls gewonnen hatten, der Unterscheidung einer höheren und einer niederen Art der Wirklichkeit. Doch ist bei dieser Aehnlichkeit nicht an Abhängigkeit zu denken; auf keinen Fall bei Demokrit, welcher der astronomischen Anschauung der Pythagoreer ganz fern stand, aber auch kaum bei Platon, der die letztere allerdings später aufgenommen hat, für den aber die Vorstellung von der höheren Wirklichkeit (Ideenlehre) einen ganz andern Inhalt hatte. Vielmehr hat das gemeinsame Grundmotiv, das aus dem Seinsbegriffe des Parmenides stammte, in diesen drei ganz verschiedenen Formen zu der Teilung der Welt in eine Sphäre der höheren und eine der niederen Wirklichkeit geführt.

3. Der pragmatische Parallelismus in den Motiven der beiden gegensätzlichen Systeme von Demokrit und Platon reicht noch einen Schritt weiter, obwohl nur einen kleinen. Der Wahrnehmungswelt gehören ohne Zweifel die spezifischen Qualitäten der Sinne an, die ihre Relativität schon darin erkennen lassen, daß dasselbe Ding verschiedenen Sinnen verschieden erscheint. Was aber nach Abzug dieser Inhalte als Gegenstand für die Erkenntnis des wahrhaft Wirklichen übrig bleibt, ist zunächst die Formbestimmtheit der Dinge und beide Denker haben denn auch als das wahre Wesen der Dinge die »reinen Formen«, die Gestalten, ideai bezeichnet.

Allein es scheint fast, als walte dabei lediglich eine, freilich immerhin auffallende, Namensgemeinschaft ob: denn wenn Demokrit unter den ideai, die er auch schêmata nannte, die Atomgestalten, Platon aber unter seinen ideai oder eidê die – Gattungsbegriffe verstand, so hat die scheinbar gleiche Behauptung, das wahrhaft Seiende bestehe in den »Gestalten«, bei beiden einen völlig verschiedenen Sinn. Deshalb bleibt es auch hier zweifelhaft, ob darin eine parallele Anlehnung an den Pythagoreismus zu sehen ist, der freilich vorher das Wesen der Dinge in den mathematischen Formen gefunden hatte und dessen Einfluß auf beide Denker anzunehmen an sich auf keine Schwierigkeiten stößt. Jedenfalls aber hat, wenn in dieser Hinsicht eine gemeinsame Anregung vorlag, diese in den beiden vorliegenden Systemen zu ganz verschiedenen Ergebnissen geführt, und wenn auch für beide die Erkenntnis mathematischer Verhältnisse in sehr nahen Beziehungen zu der Erkenntnis des wahrhaft Wirklichen steht, so sind doch eben diese Beziehungen völlig verschieden.[87]

4. Die bisher entwickelte Verwandtschaft der beiden rationalistischen Systeme springt nun aber in einen scharfen Gegensatz um, sobald man die Motive, aus denen beide Denker über den protagoreischen Sensualismus und Relativismus hinausgingen, und die daraus sich ergebenden Folgerungen betrachtet. Hier wird der Umstand maßgebend, daß Platon der Schüler des Sokrates war, während Demokrit von dem großen athenischen Weisen auch nicht den geringsten Einfluß erfahren hat.

Bei Demokrit erwächst, seiner persönlichen Natur gemäß, die über Protagoras hinaustreibende Forderung, daß es ein Wissen geben und daß dies, wenn es in der Wahrnehmung nicht zu finden ist, im Denken gesucht werden muß, lediglich aus theoretischem Bedürfnis: der Naturforscher glaubt, aller Sophistik gegenüber, an die Möglichkeit einer die Erscheinungen erklärenden Theorie. Platon dagegen geht mit seinem Postulat von dem sokratischen Tugendbegriffe aus. Tugend ist nur durch das rechte Wissen zu gewinnen, Wissen aber ist Erkenntnis des wahren Seins: wenn es also nicht in der Wahrnehmung zu finden ist, so ist es durch das Denken zu suchen. Für Platon erwächst die Philosophie nach sokratischem Grundsatz216 aus sittlichem Bedürfnis; aber während die sophistischen Freunde des Sokrates bemüht waren, dem Tugendwissen irgend einen allgemeinen Lebenszweck, das Gute, die Lust u.s.w. zum Gegenstande zu geben, so gewinnt Platon seine metaphysische Position mit Einem Schlage, indem er folgert, dies Wissen, worin die Tugend bestehen soll, müsse, den Meinungen gegenüber, die sich auf das Relative beziehen, die Erkenntnis des wahrhaft Wirklichen, der ousia sein. Ihm fordert das Tugendwissen eine Metaphysik.

Hier also bereits schieden sich die Wege. Für Demokrit war die Erkenntnis des wahrhaft Wirklichen wesentlich, wie den alten Metaphysikern, eine Vorstellung von dem unabänderlich bleibenden Sein, aber eine solche, durch welche nun die abgeleitete Wirklichkeit, die in der Wahrnehmung erkannt wird, begreiflich gemacht werden sollte: sein Rationalismus lief auf eine durch das Denken zu gewinnende Erklärung der Erscheinungen hinaus, es war wesentlich theoretischer Rationalismus. Für Platon dagegen hatte die Erkenntnis des wahrhaft Wirklichen ihren sittlichen Endzweck in sich selbst; diese Erkenntnis sollte die Tugend sein, und sie hatte daher zu der durch die Wahrnehmung gegebenen Vorstellungswelt zunächst kein anderes Verhältnis, als das der scharfen Abgrenzung dagegen. Das wahre Sein hat für Demokrit den theoretischen Wert, die Erscheinungen zu erklären, für Platon aber den praktischen Wert, der Gegenstand des Wissens zu sein, das die Tugend ausmacht: seine Lehre ist ihrem anfänglichen Prinzip nach wesentlich ethischer Rationalismus.

Darum beharrte nun Demokrit bei der naturphilosophischen Metaphysik, die er in der abderitischen Schule übernahm: er bildete den Atomismus mit Hilfe der sophistischen Psychologie zu einem umfassenden System aus; er sah als das »wahrhaft Wirkliche«, wie Leukipp, den leeren Raum und die in ihm sich bewegenden Atome an; aus ihrer Bewegung jedoch wollte er nicht nur alle qualitativen wie quantitativen Erscheinungen der Körperwelt, sondern auch alle geistigen Tätigkeiten, mit Einschluß der auf jenes wahre Sein gerichteten Erkenntnistätigkeit, erklären, und von diesen Voraussetzungen her schuf er das [88] System des Materialismus. Platon aber wurde durch die Anlehnung an die sokratische Lehre, die sich für ihn auch in der Auffassung vom Wesen der Wissenschaft entscheidend erwies, zu dem entgegengesetzten Ergebnis geführt.

5. Sokrates hatte gelehrt, das Wissen bestehe in allgemeinen Begriffen. Sollte aber nun bei Platon dies Wissen, im Gegensatz zu den Meinungen, die Erkenntnis des wahrhaft Wirklichen sein, so mußte dem Inhalt dieser Begriffe jenes höhere Sein, jene wahre Wesenheit zukommen, die, im Gegensatz zum Wahrnehmen, nur durch das Denken zu erfassen war. Die »Gestalten« der wahren Wirklichkeit, deren Erkenntnis die Tugend ausmacht, sind die Gattungsbegriffe: eidê. Damit erst gewinnt der platonische Begriff der »Idee« seine volle Bestimmung. So verstanden, stellt sich Platons Ideenlehre als Höhepunkt der griechischen Philosophie dar: in ihr schürzen sich alle die verschiedenen Gedankengänge zusammen, die auf das physische, das ethische, das logische Prinzip (archê oder physis) gerichtet gewesen waren. Die platonische Idee, der Gattungsbegriff, ist erstens das bleibende Sein im Wechsel der Erscheinungen, zweitens das Objekt des Wissens im Wechsel der Meinungen, drittens der wahre Zweck im Wechsel des Begehrens.

Diese ousia aber ist ihrem Begriffe nach im Umkreise des Wahrnehmbaren nicht zu finden: und wahrnehmbar ist alles Körperliche. Die Ideen sind also etwas von der Körperwelt wesentlich Verschiedenes. Die wahre Wirklichkeit ist unkörperlich. Die Spaltung im Begriffe der Wirklichkeit nimmt hiernach eine feste Gestalt an: die niedere Wirklichkeit des Geschehens (genesis), welche den Gegenstand der Wahrnehmung bildet, ist die Körperwelt; die höhere Wirklichkeit des Seins, welche das Denken erkennt, das wahre »Wesen« (ousia) ist die unkörperliche, die immaterielle Welt: topos noêtos. So wird das platonische System zum Immaterialismus oder, wie wir es nach seiner Bedeutung des Worts »Idee« nennen, zum Idealismus.

6. In diesem Sinne enthält das platonische Sysem vielleicht die großartigste Problemverschlingung, welche die Geschichte gesehen hat: die Lehre des Demokrit dagegen ist durchgängig nur von dem Einen Interesse der Naturerklärung beherrscht. Mochte daher auch diese für ihren Zweck noch so reiche Erfolge erringen, die in einer späteren, ähnlich gestimmten Lage des Denkens wieder aufgenommen werden und dann erst ihre ganze Fruchtbarkeit entfalten konnten, – zunächst mußte ihr die andere Lehre um so mehr überlegen sein, je mehr sie allen Bedürfnissen der Zeit Genüge tat und je mehr sie den ganzen Ertrag der früheren Denkarbeit in sich vereinigte. Vielleicht bietet das platonische System der immanenten Kritik mehr Angriffspunkte dar, als das demokritische; aber für das griechische Denken war das letztere ein Rückfall in die Kosmologie der ersten Periode und mußte anderseits Platons Lehre das System der Zukunft werden.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 85-89.
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