[258] (seit etwa 1200)
Das Bedürfnis nach inhaltlicher Erkenntnis, welches, nachdem der erste Rausch der Dialektik verflogen war, sich der abendländischen Wissenschaft bemächtigte, sollte sehr bald eine Erfüllung von ungeahnter Ausdehnung finden. Die Berührung mit der orientalischen Kultur, die sich gegen den Ansturm der Kreuzzüge zunächst siegreich behauptete, eröffnete den Völkern Europas neue Welten des geistigen Lebens. Die arabische und in ihrem Gefolge die jüdische Wissenschaft584 hielten ihren Einzug in Paris. Sie[258] hatten die Tradition des griechischen Denkens und Wissens unmittelbarer und vollständiger bewahrt als die Klöster des Abendlandes. Ueber Badgad und[259] Cordova ergoß sich ein stärkerer und inhaltreicherer Strom wissenschaftlicher Ueberlieferung als über Rom und York. Aber auch jener führte in philosophischem[260] Betracht an Neuem nicht mehr mit sich als dieser. Vielmehr ist hinsichtlich eigener prinzipieller Gedanken die orientalische Philosophie des Mittelalters noch ärmer als die europäische. Nur an Breite und Massigkeit der Tradition, an Umfang des gelehrten Materials und an Ausbreitung realer Kenntnisse war das Morgenland weit überlegen, und diese Schätze gingen nun auch in den Besitz der christlichen Völker über.
Für die Philosophie dagegen war dabei vor allem wichtig, daß die Pariser Wissenschaft jetzt nicht nur mit der ganzen Logik des Aristoteles, sondern auch mit allen sachlichen Teilen seines Systems bekannt wurde. Durch die »neue Logik« wurde der schon in sich absterbenden Dialektik frisches Blut zugeführt, und wenn nun die Aufgabe der rationalen Auseinanderlegung der gläubigen Weltanschauung in neuem Ansturm und mit gereifter Technik des Denkens ergriffen wurde, so bot sich gleichzeitig ein schier unübersehbarer Stoff des Wissens für die Einordnung in jenen metaphysisch-religiösen Zusammenhang dar.
Der so gesteigerten Aufgabe hat sich das mittelalterliche Denken vollauf gewachsen gezeigt, und es löste sie unter der Nachwirkung des Eindrucks von jener glänzenden Periode in der Entwicklung des Papsttums, welche durch Innocenz III. heraufgeführt worden war. Der neuplatonisch-arabische Aristotelismus, der mit seinen naturalistischen Konsequenzen anfangs nur den rationalistischen Mut der Dialektik zu siegreichem Uebermut zu kräftigen schien, ist mit bewunderungswürdig schneller Bewältigung in den Dienst des kirchlichen Systems gebeugt worden. Freilich war das nur so möglich, daß in dieser nun vollkommen systematischen Ausbildung einer der Glaubenslehre konformen Philosophie die intellektualistischen und dem Neuplatonismus verwandten Elemente des augustinischen Denkens ein entschiedenes Uebergewicht gewannen. Auf diese Weise vollzog sich, ohne daß eigentlich ein anderes neues philosophisches Prinzip als der Trieb nach Systembildung dabei schöpferisch gewirkt hätte, die großartigste Ausgleichung weltbewegender Gedankenmassen, welche die Geschichte gesehen hat. Ihr geistiger Urheber ist Albert von Bollstädt; ihre allseitig organische Durchführung, ihre literarische Kodifikation und danach auch ihre historische Bezeichnung verdankt sie Thomas von Aquino, und ihre dichterische Darstellung fand sie in Dantes »göttlicher Komödie«.
Während aber im Alberto-Thomismus hellenistische Wissenschaft und christlicher Glaube zu voller Harmonie gebracht schienen, brach sogleich ihr Gegensatz um so heftiger hervor. Unter dem Einfluß arabischer Doktrinen gelangte[261] der in der logischen Konsequenz des Realismus angelegte Pantheismus zu breiter Verwirklichung, und unmittelbar nach Thomas selbst entfaltete sein Ordensgenosse, Meister Eckhart, den scholastischen Intellektualismus zu der Heterodoxie einer idealistischen Mystik.
Begreiflich daher, daß auch der Thomismus auf den Widerstand einer platonisch-augustinischen Richtung stieß, die zwar den Zuwachs des Naturwissens (wie früher) und die Vervollkommnung des logischen Apparates gern aufnahm, aber die intellektualistische Metaphysik von sich wies und die entgegengesetzten Momente des Augustinismus um so energischer ausbildete.
Zur vollen Kraft gelangte diese Richtung in dem scharfsinnigsten und tiefsten Denker des christlichen Mittelalters, Duns Scotus, der die Keime der Willensphilosophie im augustinischen System zur ersten bedeutenden Entwicklung brachte und damit von der metaphysischen Seite her den Anstoß zu einer völligen Veränderung der Richtung des philosophischen Denkens gab. Mit ihm beginnt die durch die hellenistische Philosophie eingeleitete Verschmelzung des religiösen und des wissenschaftlichen Interesses wieder auseinander zu gehen.
Zu dem gleichen Erfolge führte mit noch nachhaltigerer Kraft auch die Erneuerung des Nominalismus, zu der sich die geistige Bewegung der letzten Jahrhunderte des Mittelalters in einer überaus interessanten Kombination zuspitzte. Die neu zur Herrschaft gelangte und in buntem Disputationstreiben sich ergehende Dialektik bildete in ihren Lehrbüchern der Logik den aristotelisch-stoischen Schematismus namentlich auch nach der grammatischen Seite aus, und so kam man zu einer Theorie, welche nach byzantinischem Vorgang die Lehre vom Urteil und vom Schluß an die Auffassung der Begriffe (termini) als subjektiver Zeichen für die realiter bestehenden Einzeldinge anknüpfte. Dieser Terminismus verband sich in Wilhelm von Occam mit den naturalistischen Tendenzen der arabisch-aristotelischen Erkenntnistheorie zur Bestreitung des sog. gemäßigten Realismus, der im Thomismus und Scotismus gleichmäßig aufrechterhalten worden war. Aber er verband sich auch mit der augustinischen Willenslehre zu kräftigem Individualismus, mit den entwicklungsgeschichtlichen Anfängen der empirischen Psychologie zu einer Art von Idealismus der inneren Erfahrung, und mit der immer breiteren Raum erobernden Naturforschung zu einem zukunftsreichen Empirismus: so sprießen unter scholastischer Hülle die Keime eines neuen Denkens.
Vergebens tauchen in dieser äußerst vielspältigen Bewegung hie und da noch Männer auf, welche sich zutrauen, ein rationales System religiöser Metaphysik zu schaffen. Vergebens sucht endlich ein Mann von der Bedeutung des Nicolaus Cusanus alle diese Elemente einer neuen, weltlichen Wissenschaft unter die Gewalt eines halb scholastischen und halb mystischen Intellektualismus zurückzuzwingen: gerade von seinem System aus haben jene Elemente eine um so stärkere Wirkung auf die Zukunft ausgeübt.
Die Rezeption des Aristoteles (worüber hauptsächlich das S. 227 zitierte Werk von A. JOURDAIN) fallt in das Jahrhundert von 1150 bis 1250. Sie begann mit dem bisher unbekannten, wertvolleren Teile des Organon (vetus – nova logica) und schritt zu den metaphysischen physischen und ethischen Büchern fort, stets von der Einführung der arabischen Erklärungsschriften begleitet. Die Kirche ließ die neue Logik zögernd herein, obwohl dadurch der Dialektik frische Schwingen wuchsen; denn bald[262] mußte sie sich überzeugen, daß die neue Methode, die mit Hilfe der Syllogistik eingeführt wurde, der Darstellung ihrer eigenen Lehre zu gute kam. Diese im eigentlichen Sinn scholastische Methode (vgl. M. GRABMANN, Freiburg 1909) besteht darin, daß ein zu Grunde gelegter Text durch Einleitung und Erklärung in eine Anzahl von Sätzen aufgelöst wird, daß daran Fragen geknüpft und die darauf möglichen Antworten zusammengestellt werden, daß endlich die zur Begründung und Widerlegung dieser Antworten aufzuführenden Argumente in der Form von Schlußketten vorgetragen werden, um schließlich eine Entscheidung über den Gegenstand herbeizuführen.
Dieses Schema hat zuerst Alexander von Hales (gestorben 1245) in seiner »Summa universae theologiae« mit einer Virtuosität angewendet, welche der Behandlungsweise der früheren Summisten an Reichtum des Inhalts, Klarheit der Entwicklung und Bestimmtheit der Resultate weit überlegen und auch später kaum Übertroffen worden ist. Eine analogie methodische Umgestaltung vollzogen Vincenz von Beauvais (Vincentius Bellovacensis, gestorben um 1265) durch sein »Speculum quadruplex« an dem realencyklopädischen Kenntnismaterial (vgl. BOUTARIC, V. d. B. et la connaissance de antiquité classique au 13me siècle, Paris 1875), und Johannes Fidanza genannt Bonaventura (1221-1274) an den Lehren der Mystik, besonders der Victoriner. Charakteristisch ist unter den Werken des letzteren namentlich die »Reductio artium ad theologiam«. Vgl. K. WERNER, Die Psychologie und Erkenntnislehre des B. (Wien 1876).
Sehr viel zurückhaltender verfuhr die Kirche der Metaphysik und Physik des Aristoteles gegenüber, und zwar deshalb, weil diese anfangs in engster Verschwisterung mit dem Averroismus auftrat und weil dadurch sogleich die seit Scotus Eriugena nie ganz vergessene neuplatonische Mystik zu offenem Pantheismus gesteigert wurde. Als Vertreter eines solchen erscheinen um 1200 Almalrich von Bena (bei Chartres) und David von Dinant, über die wir besonders durch Albert und Thomas unterrichtet sind. Die Sekte der Amalricaner wurde nach dem Laterankonzil von 1215 mit Feuer und Schwert verfolgt. über ihre Lehre vgl. den von CL. BÄUMKER (Jahrbuch f. Phil. u. spec. Theol. VII, Paderborn 1893) herausgegebenen »Tractat gegen die Amalricaner«.
Das Verdammungsurteil über den averroistischen Pampsychismus (vgl. § 27) traf zunächst auch den Aristoteles. Diese Verbindung aufgelöst und die kirchliche Macht zur Anerkennung des Peripatetizismus umgestimmt zu haben, ist das Verdienst der beiden Bettelorden, der Dominikaner und der Franziskaner. Sie haben in zähem, oft hin und her schwankendem Kampfe die Errichtung zweier Lehrstühle der aristotelischen Philosophie an der Pariser Universität und schließlich deren Aufnahme in die Fakultät erstritten (vgl. KAUFMANN, Gesch. d. Univ. I, 275 ff.). Nach diesem Siege (1254) stieg das Ansehen des Aristoteles schnell zu demjenigen der höchsten philosophischen Autorität; er ward als Vorläufer Christi in Sachen der Natur, wie Johannes der Täufer in Sachen der Gnade gepriesen, und er galt von nun an der christlichen Wissenschaft (gerade wie dem Averroës) derart als Inkarnation der wissenschaftlichen Wahrheit, daß er in der folgenden Literatur vielfach nur als »Philosophus« zitiert wird.
Die Lehre der Dominikaner, bis auf heute die offizielle Philosophie der römischen Kirche, ist durch Albert und Thomas geschaffen worden.
Albert von Bollstädt (Albertus Magnus) war 1193 zu Launigen (Schwaben) geboren, studierte in Padua und Bologna, dozierte in Köln und Paris, wurde Bischof von Regensburg und starb 1280 in Köln. Seine Schriften bestehen zum größten Teil in Paraphrasen und Kommentaren zu Aristoteles; von selbständigem Werte ist außer der Summa besonders seine Botanik (De vegetabilibus libri VII; herausg. von MEYER und JESSEN, Berlin 1867). Vgl. J. SIGHART A. M., sein Leben und seine Wissenschaft (Regensburg 1857). v. HERTLING, A. M Beiträge zu seiner Würdigung (Köln 1880). J. BACH, A. M. (Wien 1881).
Thomas von Aquino, 1225 oder 1227 in Roccasicca (Unteritalien) geboren, ist zuerst in dem durch seine naturwissenschaftlichen Studien altberühmten Kloster Monte Cassino, dann in Neapel, Köln und Paris gebildet worden, darauf abwechselnd an diesen Universitäten, sowie in Rom und Bologna als Lehrer tätig gewesen und 1274 in einem Kloster bei Terracina gestorben. Seine Werke enthalten neben kleineren Abhandlungen die Kommentare zu Aristoteles, dem Liber de causis und den Sentenzen des Petrus Lombardus, ferner hauptsächlich die Summa theologiae und die Schrift De veritate fidei catholicae contra gentiles (Summa contra gentiles). Die Abhandlung De regimine principum gehört ihm nur zum Teil. Aus der sehr umfangreichen Literatur über ihn seien genannt: CH. JOURDAIN, La philosophie de St. Th. (Paris 1858). K. WERNER, Der h. Th. v. A. 3 Bde. (Regensburg 1858). Z. GONZALEZ, Studien über die Philos. des h. Th. v. A., aus dem Spanischen übersetzt von NOLTE (Regensburg 1885). R. EUCKEN, Die Philos.[263] des Th. v. A. und die Kultur der Neuzeit (Halle 1886) und Thomas u. Kant, ein Kampf zweier Welten (Berlin 1901). A. FROHSCHAMMER, Die Philosophie des Th. v. A. (Leipzig 1889). L. SCHÜTZ, Thomas-Lexikon (Paderborn, 2. Aufl. 1892).
Der philosophischen Bedeutung von Dante Alighieri ist unter den Herausgebern am besten Philalethes in dem Kommentar zu seiner Uebersetzung der Divina comedia (3 Bde., in 2. Aufl. Leipzig 1871) gerecht geworden. Neben dem großen Weltgedicht ist aber in philosophischem Betracht auch die Abhandlung De monarchia nicht zu vergessen. Vgl. A. F. OZANAM, D. et la philosophie catholique au 13me siècle (Paris 1845), G. BAUR, Boëthius und Dante (Leipzig 1873, Rede), besonders aber neuerdings K. VOSSLER, Die göttliche Komödie, Entwicklungsgeschichte und Erklärung, 4 Bde. (Heidelberg 1907 ff.).
An sonstigen Thomisten, deren Zahl groß ist, besteht nur literarhistorisches Interesse. (Vgl. H. E. PLASSMANN, Die Schule d. Th. v. A. 6 Bde, Soest 1858-61.) Zum Teil macht sich bei ihnen schon im dreizehnten Jahrhundert das von Albert betonte Interesse für naturwissenschaftliche Dinge geltend; so bei Dietrich von Freiberg und bei Witelo (Vitellio; vgl. über diesen CL. BAÜMKER, Beiträge III, 2, 1908 mit dem Text der stark neuplatonisierenden Abhandlung »De intelligentiis«, die wahrscheinlich von Witelo herrührt).
Dem Dominikanerorden gehörte auch der Vater der deutschen Mystik an, Meister Eckhart, ein jüngerer Zeitgenosse des Thomas. In der Mitte des 13. Jahrhunderts in Thüringen geboren, war er um 1300 Professor der Philosophie in Paris, wurde dann Provinzial seines Ordens für Sachsen, lebte zeitweilig in Köln und Straßburg und starb während der peinlichen Verhandlungen über die Rechtgläubigkeit seiner Lehre 1329. Die erhaltenen Schriften (Sammlung von F. PFEIFFER, II. Leipzig 1857), sind hauptsächlich Predigten, Traktate und Sprüche (in neudeutschen Uebersetzungen herausg. mit Einleitung von H. BÜTTNER, Jena 1909). Vgl. C. ULLMANN, Reformatoren vor der Reformation, Bd. II (Hamburg 1842). W. PREGER, Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter (Leipzig 1875 und 1881); dazu die verschiedenen Ausgaben und Abhandlungen von H. DENIFLE. Ueber E. insbesondere: J. BACH, M. E. der Vater der deutschen Spekulation (Wien 1864). A. LASSON, M. E. der Mystiker (Berlin 1868) und Ders. in UEBRWEGS Gesch. d. Ph. II8, § 38.
Mit der weiteren Entwicklung verzweigte sich die deutsche Mystik in die Häresien der Begharden und der Basler Gottesfreunde: bei den ersteren führte sie zu radikalster Verknüpfung mit dem averroistischen Pantheismus. Zu populärer Predigt wurde sie bei Joh. Tauler von Straßburg (1300-1361), zu dichterischem Sang bei Heinrich Suso von Konstanz (1300-1365). Ihre theoretischen Lehren erhielten sich mit Abschwächung des Heterodoxen in der »Deutschen Theologie« (zuerst von Luther 1516 herausgegeben).
Die augustinisch-platonische Opposition gegen den des Arabismus verdächtigten Aristotelismus hat zu ihren Hauptvertretern Wilhelm von Auvergne aus Aurillac, Lehrer und Bischof in Paris, wo er 1249 starb, Verfasser eines Werkes »De univ erso« (Ueber ihn handelt E. WERNER, Wien 1873 ST. SCHINDELE, München 1900) und Heinrich von Gent (Henricus Gandavensis. 1218-1293), den streitbaren Verfechter des Willensprimats gegen den Thomismus, er schrieb außer einem theologischen Kompendium »Suma quaestionum ordinarium« hauptsächlich »Quodlibetica theologica«. Vgl. K. WERNER, H. v. G. als Repräsentant des christlichen Platonismus im 13. Jahrhundert (Wien 1878). M. DE WOLF, Histoire de la philosophie scolastique dans les Pays- Bas (Paris 1895). Auch Richard von Middletown (R. de mediavia, gestorben 1300) und Wilhelm de la Marre, der Verfasser eines heftigen »Correctorium fratris Thomae«, können hier genannt werden. In den folgenden Jahrhunderten hielt siel neben Thomismus und Scotismus eine eigene augustinische Theologie, als deren Führer Aegydius von Colonna (Aeg. Romanus, 1247-1316) gilt. Vgl. darüber K. WERNER, Schol. d. spät. M.-A. Bd. III.
Die schärfste Gegnerschaft erwuchs dem Thomismus aus dem Franziskaner-Orden. Der nach allen Seiten fruchtbar anregende, aber nach keiner zu fest bestimmter Gestalt heraustretende Geist war hier Roger Bacon, geboren 1214 bei Ilchester. in Oxford und Paris gebildet, wegen seiner stark auf die Naturforschung gerichteten Beschäftigungen und Ansichten mehrfach verfolgt, nur zeitweilig vom Papst Clemens IV. geschützt, bald nach 1292 gestorben. Seine Lehren sind im »Opus maius« (herausg. von JEBB, London, 1773) und auszugsweise im »Opus minus« (herausg. von BREWER, London 1859) niedergelegt. Vgl. E. CHARLES, R. B., sa vie, ses ouvrages, ses doctrines (Paris 1861) und K. WERNER, in zwei Abhandlungen über seine Psychologie, Erkenntnislehre und Physik (Wien 1889). C. POHL, Das Verhältnis der Philos. zur Theol. bei R. B. (Neustrelitz 1893).[264]
Derpersönlich bedeutendste Denker des christlichen Mittelalters ist Johannes Duns Scotus. Seine Heimat (Irland oder Northumberland) und sein Geburtsjahr (um 1270) sind nicht sicher bekannt. Schüler und Lehrer in Oxford erwarb er in Paris, wo er seit 1304 tätig war, hohen Ruhm und siedelte 1308 nach Köln über, wo er bald nach seiner Ankunft – allzufrüh – starb. In der von seinem Orden veranstalteten Ausgabe seiner Werke (12 Bde., Lyon 1639) ist neben eigenen Schriften viel Unechtes oder Ueberarbeitetes, besonders auch Nachschriften seiner Disputationen und Vorträge enthalten. Zu den letzteren gehört das sog. »Opus Parisiense«, das einen Kommentar zu den Sentenzen des Lombarden bildet. Aehnlichen Ursprung haben die »Quaestiones quodlibetales«. Eine eigene Niederschrift ist das »Opus Oxoniense«, der ursprüngliche Kommentar zum Lombarden. Dazu kommen die Kommentare zu aristotelischen Schriften und einige kleinere Traktate. Seine Lehre ist bei WERNER und STÖCKN dargestellt. Vgl. auch R. SEEBEBG, Die Theologie des D. Sc. (Studien zur Geschichte der Theol. und Kirche V, 1900). Eine erschöpfende, seiner Bedeutung entsprechende Monographie fehlt.
Unter seinen zahlreichen Anhängern ist Franz von Mayro (1325 gestorben) der bekannteste. Der Streit zwischen Thomisten und Scotisten war im Anfang des vierzehnten Jahrhunderts sehr lebhaft und brachte viele Zwischenbildungen zu wege: bald jedoch hatten sich beide Parteien gemeinsam gegen den Terminismus zu wehren.
Unter den logischen Schulbüchern der späteren Scholastik ist das einflußreichste das von Petrus Hispanus (als Papst Johann XXI. 1277 gestorben) gewesen. Seine »Summulae logicales« waren die Uebersetzung eines byzantinisch-griechischen Lehrbuchs, der Synopsis eis tên 'Aristotelous logikên epistêmên von Michael Psellos (im elften Jahrhundert), nicht umgekehrt, wie gelegentlich behauptet und von PRANTL, widerlegt worden ist. Nach dessen Vorgange (grammata egrapse graphidi technikos) wurden in der lateinischen Bearbeitung die bekannten »barbarischen« Memorialbezeichnungen der Modi des Syllogismus eingeführt. Der aus dieser rhetorisch- grammatischen Logik in der nominalistischen Richtung entwickelte Terminismus stellte sich als »Logica moderna« der »antiqua« der Realisten (worunter Scotisten und Thomisten zusammengefaßt wurden) gegenüber.
In der Erneuerung des Nominalismus begegnen sich auf diesem Grunde Wilhelm Durand de St. Pourçain (als Bischof von Meaux 1332 gestorben) und Petrus Aureolus (1321 zu Paris gestorben), der eine vom Thomismus, der andere vom Scotismus herkommend, mit dem viel bedeutenderen Wilhelm von Occam, dem Abaelard der zweiten Periode. Mit weitem und scharfem Blick für die Wirklichkeit, mit kühner, unruhiger Neuerungslust vereinigt er in sich alle Momente, mit denen die neue Wissenschaft aus der Scholastik herausdrängte. In einem Dorf der Grafschaft Surrey geboren, unter Duns Scotus gebildet, war er Professor in Paris, griff dann in die kirchenpolitischen Kämpfe seiner Zeit energisch ein, indem er mit Philipp dem Schönen und Ludwig dem Baier gegen das Papsttum stritt (Disputatio inter clericum et militem super potestate ecclesiastica praelatis atque principibus terrarum commissa, und das »Defensorium« gegen Papst Johann XXII.), und starb 1347 in München. Von den Werken (keine Gesamtausgabe) sind die wichtigsten: Sumwa totius logices, Expositio aurea super artem veterem, Quodlibeta septem, Centilogium theologicum, dazu ein Kommentar über Petrus Lombardus. Vgl. W. A. SCHREIBER, Die politischen und religiösen Doktrinen unter Ludwig dem Baier (Landshut 1858). RICH. SCHOLZ, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen (Stuttgart 1903). C. PRANTL, Der Universalienstreit im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert (Sitz.- Ber. der Münchener Akad. 1874). H. SIEBECK, O.s Erkenntnislehre in ihrer historischen Stellung (Archiv für Geschichte der Philos. X. 1897, S. 317 ff.). – Auch Occam harrt noch seines philosophisch kompetenten Biographen.
Von Vertretern des terministischen Nominalismus im vierzehnten Jahrhundert pflegen Johannes Buridan, Rektor der Pariser und Mitbegründer der Wiener Universität, und Marsilius von Inghen, einer der ersten Lehrer in Heidelberg, genannt zu werden. Eine Verbindung mystischer Lehren mit der nominalistischen Ablehnung der Metaphysik findet sich bei Pierre d'Ailly (Petrus de Alliaco, 1350-1425) und bei Johannes Gerson (Charlier, 1363 -1429).
Den Versuch einer rein rationalen Darstellung der Kirchenlehre machte im apologetischen und propagatorischen Interesse Raimundus Lullus (aus Katalonien, 1235 bis 1315), hauptsächlich bekannt durch die wunderliche Erfindung der »Großen Kunst« d.h. einer mechanischen Vorrichtung, welche durch Kombination der Grundbegriffe das System aller möglichen Erkenntnisse hervorbringen sollte. Auszug daraus bei J. E. ERDMANN, Grundriß I, § 206. Seine Bestrebungen wiederholen sich im fünfzehnten Jahrhundert bei Raymund von Sabunde, einem spanischen Arzt, der in Toulouse lehrte und durch seine Theologia naturalis (sive liber creaturarum) Aufsehen erregte. Ueber ihn[265] vgl. M. DE MONTAIGNE, Essais II, 12; neuerdings D. MATZKE (Breslau 1846). M. HUTTLER (Augsburg 1851). J. SCHENDERLEIN (Leipzig 1898).
Eine interessante Zusammenfassung des geistigen Zustandes, worin sich das ausgehende Mittelalter befand, voll von Ahnungen der Zukunft, die durch die Gedanken der Zeit überwuchert sind, bietet die Philosophie des Nicolaus Cusanus (Nicolaus Chrypffs, in Kues bei Trier 1401 geboren und als Kardinal und Bischof von Brixen 1464 gestorben). Die Hauptschrift führt den Titel »De docta ignorantia« (mit den wichtigsten andern deutsch von F. A. SCHARPFF, Freiburg i. Br. 1882 herausg.). Vgl. R. FALCKENBERG, Grundzüge der Philos. des N. v. C. (Breslau 1880).
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