§ 4. »Prophet«.

[268] »Prophet« im Gegensatz zum Priester und Zauberer S. 268. – Prophet und Gesetzgeber S. 270. – Prophet und Lehrer S. 271. – Mystagoge und Prophet S. 272. – Ethische und exemplarische Prophetie S. 273. – Charakter der prophetischen Offenbarung S. 275.


Was ist, soziologisch gesprochen, ein Prophet? Wir unterlassen hier, die Frage der »Heilbringer«, welche Breysig s. Zt. angeschnitten hat, allgemein zu erörtern. Nicht jeder anthropomorphe Gott ist ein vergötterter Bringer äußeren oder inneren Heils, und bei weitem nicht jeder Bringer von solchem ist zu einem Gott oder auch nur Heiland geworden, so weitverbreitet die Erscheinung auch gewesen ist.

Wir wollen hier unter einem »Propheten« verstehen einen rein persönlichen Charismaträger, der kraft seiner Mission eine religiöse Lehre oder einen göttlichen Befehl verkündet. Wir wollen dabei hier keinen grundsätzlichen Unterschied darnach machen: ob der Prophet eine (wirklich oder vermeintlich) alte Offenbarung neu verkündet oder gänzlich neue Offenbarungen zu bringen beansprucht, ob er also als »Religionserneuerer« oder als »Religionsstifter« auftritt. Beides kann ineinander übergehen, und insbesondere ist nicht die Absicht des Propheten selbst maßgebend dafür, ob aus seiner Verkündigung eine neue Gemeinschaft entsteht; dazu können auch die Lehren unprophetischer Reformatoren den Anlaß geben. Auch ob mehr die Anhängerschaft an die Person wie bei Zarathustra, Jesus, Muhammed, oder mehr an die Lehre als solche – wie bei Buddha und der israelitischen Prophetie – hervortritt, soll uns in diesem Zusammenhang nichts angehen. Entscheidend ist für uns die »persönliche« Berufung. Das scheidet ihn vom Priester. Zunächst und vor allem, weil dieser im Dienst einer heiligen Tradition, der Prophet dagegen [zufolge] persönlicher Offenbarung oder kraft [seines] Charisma Autorität beansprucht. Es ist kein Zufall, daß, mit verschwindenden Ausnahmen, kein Prophet aus der Priesterschaft auch nur hervorgegangen ist. Die indischen Heilslehrer sind regelmäßig keine Brahmanen, die israelitischen keine Priester, und nur Zarathustra könnte vielleicht aus Priesteradel stammen. Im Gegensatz zum Propheten spendet der Priester Heilsgüter kraft seines Amtes. Freilich kann das Priesteramt an ein persönliches Charisma geknüpft sein. Aber auch dann bleibt der Priester als Glied eines vergesellschafteten[268] Heilsbetriebs durch sein Amt legitimiert, während der Prophet ebenso wie der charismatische Zauberer lediglich kraft persönlicher Gabe wirkt. Vom Zauberer unterscheidet er sich dadurch, daß er inhaltliche Offenbarungen verkündet, der In halt seiner Mission nicht in Magie, sondern in Lehre oder Gebot besteht. Aeußerlich ist der Uebergang flüssig. Der Zauberer ist sehr häufig Divinationskündiger, zuweilen nur dies. Die Offenbarung funktioniert in diesem Stadium kontinuierlich als Orakel oder als Traumeingebung. Ohne Befragung der Zauberer kommen Neuregelungen von Gemeinschaftsbeziehungen ursprünglich kaum irgendwo zustande. In Teilen Australiens sind es noch heute nur die im Traum eingegebenen Offenbarungen von Zauberern, welche den Versammlungen der Sippenhäupter zur Annahme unterbreitet werden, und es ist sicherlich eine »Säkularisation«, wenn dies dort vielfach schon jetzt fortgefallen ist. Und ferner: ohne jede charismatische, und das heißt normalerweise: magische, Beglaubigung hat ein Prophet nur unter besonderen Umständen Autorität gewonnen. Zum mindesten die Träger »neuer« Lehren haben ihrer fast immer bedurft. Es darf keinen Augenblick vergessen werden, daß Jesus seine eigene Legitimation und den Anspruch, daß er und nur er den Vater kenne, daß nur der Glaube an ihn der Weg zu Gott sei, durchaus auf das magische Charisma stützte, welches er in sich spürte, daß dieses Machtbewußtsein weit mehr als irgend etwas anderes es zweifellos auch war, was ihn den Weg der Prophetie betreten ließ. Die Christenheit des apostolischen und nachapostolischen Zeitalters kennt den wandernden Propheten als eine reguläre Erscheinung. Immer wird dabei der Beweis des Besitzes der spezifischen Gaben des Geistes, bestimmter magischer oder ekstatischer Fähigkeiten verlangt. Sehr oft wird die Divination ebenso wie die magische Therapeutik und Beratung »berufsmäßig« ausgeübt. So von den im Alten Testament, besonders in den Chroniken und prophetischen Büchern, massenhaft erwähnten »Propheten« (nabi, nebî'îm). Aber eben von ihnen unterscheidet sich der Prophet im hier gemeinten Sinn des Worts rein ökonomisch: durch die Unentgeltlichkeit seiner Prophetie. Zornig wehrt sich Amos dagegen, ein »nabi« genannt zu werden. Und der gleiche Unterschied besteht auch gegenüber den Priestern. Der typische Prophet propagiert die »Idee« um ihrer selbst willen, nicht – wenigstens nicht erkennbar und in geregelter Form – um Entgelts willen. Die Unentgeltlichkeit der prophetischen Propaganda, z.B. der ausdrücklich festgehaltene Grundsatz: daß der Apostel, Prophet, Lehrer des alten Christentums kein Gewerbe aus seiner Verkündigung mache, nur kurze Zeit die Gastfreundschaft seiner Getreuen in Anspruch nehme, entweder von seiner Hände Arbeit oder (wie der Buddhist) von dem ohne ausdrückliche Bitte Gegebenen leben muß, wird in den Episteln des Paulus (und, in jener anderen Wendung, in der buddhistischen Mönchsregel) immer erneut mit größtem Nachdruck betont (»wer nicht arbeitet, soll nicht essen« gilt den Missionaren) und ist natürlich auch eines der Hauptgeheimnisse des Propagandaerfolges der Prophetie selbst. –

Die Zeit der älteren israelitischen Prophetie, etwa des Elia, ist in ganz Vorderasien und auch in Hellas eine Epoche stark prophetischer Propaganda gewesen. Vielleicht im Anschluß an die Neubildung der großen Weltreiche in Asien und die nach längerer Unterbrechung wieder zunehmende Intensität des internationalen Verkehrs beginnt, namentlich in Vorderasien, die Prophetie in allen ihren Formen. Griechenland ist damals der Invasion des thrakischen Dionysoskultes ebenso wie der allerverschiedensten Prophetien ausgesetzt gewesen. Neben den halbprophetischen Sozialreformern brachen rein religiöse Bewegungen in die schlichte magische und kultische Kunstlehre der homerischen Priester ein. Emotionale Kulte ebenso wie die emotionale, auf »Zungenreden« beruhende Prophetie und die Schätzung der Rauschekstasen brachen die Entwicklung von theologisierendem Rationalismus. (Hesiod) und der Anfänge der kosmogonischen und philosophischen Spekulationen, der philosophischen Geheimlehren und Erlösungsreligionen und gingen parallel mit der überseeischen Kolonisation und vor allem der Polisbildung und Umbildung[269] auf der Basis des Bürgerheeres. Wir haben hier diese von Rohde glänzend analysierten Vorgänge des 8. und 7. Jahrhunderts, die teilweise bis ins 6. und selbst 5. Jahrhundert hinabreichen – also zeitlich sowohl der jüdischen wie der persischen wie der indischen Prophetie, wahrscheinlich auch den uns nicht mehr bekannten vorkonfuzianischen Leistungen der chinesischen Ethik, darin entsprachen – nicht zu schildern. Sowohl was die ökonomischen Merkmale: Gewerbsmäßigkeit oder nicht, betrifft, und was das Vorhandensein einer »Lehre« anlangt, sind diese hellenischen »Propheten« untereinander sehr verschieden. Auch der Hellene (Sokrates) unterschied gewerbsmäßige Lehre und unentgeltliche Ideenpropaganda. Und auch in Hellas war die einzige wirkliche Gemeindereligiosität: die orphische und ihre Erlösung durch das Merkmal einer wirklichen Heilslehre von aller anderen Art von Prophetie und Erlösungstechnik, insbesondere derjenigen der Mysterien, klar unterschieden. Wir haben hier vor allem die Typen der Prophetie von denen der sonstigen religiösen oder anderen Heilbringer zu sondern.

Auch in historischer Zeit oft flüssig ist der Uebergang vom »Propheten« zum »Gesetzgeber«, wenn man unter diesem eine Persönlichkeit versteht, welche im Einzelfall mit der Aufgabe betraut wird, ein Recht systematisch zu ordnen oder neu zu konstituieren, wie namentlich die hellenischen Aisymneten (Solon, Charondas usw.). Es gibt keinen Fall, daß ein solcher Gesetzgeber oder sein Werk nicht mindestens die nachträgliche göttliche Gutheißung erhalten hätte. Ein »Gesetzgeber« ist etwas anderes als der italienische Podestà, den man von auswärts, nicht um eine soziale Neuordnung zu schaffen, sondern um einen koteriefreien unparteiischen Herrn zu haben, berief, also im Fall von Geschlechterfehden innerhalb der gleichen Schicht. Die Gesetzgeber werden dagegen, wenn nicht immer, so in aller Regel, dann zu ihrem Amt berufen, wenn soziale Spannungen bestehen. Besonders oft, wenn der überall typische früheste Anlaß planvoller »Sozialpolitik« eingetreten ist: ökonomische Differenzierung der Kriegerschaft durch neuentstandenen Geldreichtum der einen und Schuldverknechtung der anderen und eventuell daneben unausgeglichene politische Aspirationen der durch ökonomischen Erwerb reich gewordenen Schichten gegenüber dem alten Kriegeradel. Der Aisymnet soll den Ständeausgleich vollziehen und ein für immer gültiges neues »heiliges« Recht schaffen und göttlich beglaubigen lassen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Moses eine historische Figur war. Ist dies der Fall, dann gehört er seiner Funktion nach zu den Aisymneten. Denn die Bestimmungen des ältesten israelitischen heiligen Rechts setzen Geldwirtschaft und dadurch entweder schon entstandene oder doch drohende scharfe Interessengegensätze innerhalb der Eidgenossen voraus. Der Ausgleich oder die Vorbeugung gegen diese Gegensätze (z.B. die Seisachthie des Erlaßjahrs) und die Organisation der israelitischen Eidgenossenschaft mit einem einheitlichen Nationalgott sind sein Werk, welches, dem Charakter nach, zwischen demjenigen Muhammeds und der antiken Aisymneten etwa in der Mitte steht. An dieses Gesetz knüpft sich denn auch, ganz wie an den Ständeausgleich in so vielen anderen Fällen (vor allem in Rom und Athen), die Expansionsperiode des neugeeinigten Volks nach außen. Und es war nach Moses in Israel »kein Prophet gleich ihm«; das heißt kein Aisymnet. Nicht nur nicht alle Propheten sind also Aisymneten in jenem Sinn, sondern gerade die üblicherweise sogenannte Prophetie gehört nicht hierher. Gewiß erscheinen auch die späteren Propheten Israels als »sozialpolitisch« interessiert. Das »Wehe« ertönt über diejenigen, welche die Armen bedrücken und versklaven, Acker an Acker fügen, die Rechtsfindung gegen Geschenke beugen, – durchaus die typischen Ausdrucksformen aller antiken Klassendifferenzierung, verschärft wie überall durch die inzwischen eingetretene Organisation der Polis Jerusalem. Dieser Zug darf aus dem Bilde der meisten israelitischen Propheten nicht gestrichen werden. Um so weniger, als z.B. der indischen Prophetie jeder derartige Zug fehlt, obwohl man die Verhältnisse Indiens zur Zeit Buddhas als den hellenischen des 6. Jahrhunderts relativ ziemlich ähnlich bezeichnet hat. Der Unterschied folgt aus noch zu erörternden religiösen[270] Gründen. Für die israelitische Prophetie sind aber diese sozialpolitischen Argumentationen, was andererseits auch nicht verkannt werden darf, nur Mittel zum Zweck. Sie sind in erster Linie an der auswärtigen Politik als der Tatenbühne ihres Gottes interessiert. Das dem Geist des mosaischen Gesetzes widerstreitende Unrecht, auch das soziale, kommt für sie nur als Motiv und zwar als eines der Motive für Gottes Zorn in Betracht, nicht aber als Grundlage eines sozialen Reformprogramms. Charakteristischerweise ist gerade der einzige soziale Reformtheoretiker: Hesekiel, ein priesterlicher Theoretiker und kaum noch Prophet zu nennen. Jesus vollends ist an sozialer Reform als solcher schlechterdings nicht interessiert. Zarathustra teilt den Haß seines viehzüchtenden Volks gegen die räuberischen Nomaden, aber er ist zentral religiös, an dem Kampf gegen den magischen Rauschkult und für den Glauben an seine eigene göttliche Mission interessiert, deren Konsequenzen lediglich die ökonomischen Seiten seiner Prophetie sind. Erst recht trifft dies bei Muhammed zu, dessen Sozialpolitik, von Omar in ihre Konsequenzen getrieben, fast ganz an dem Interesse der inneren Einigung der Gläubigen zum Kampf nach außen, zum Zweck der Erhaltung eines Maximums von Gottesstreitern, hängt.

Den Propheten spezifisch ist, daß sie ihre Mission nicht kraft menschlichen Auftrags übernehmen, sondern usurpieren. Das tun freilich auch die »Tyrannen« der hellenischen Polis, welche funktionell oft den legalen Aisymneten sehr nahestehen und auch ihre spezifische Religionspolitik (häufig z.B. die Förderung des emotionalen, bei der Masse im Gegensatz zum Adel populären Dionysoskults) gehabt haben. Aber die Propheten usurpieren ihre Gewaltkraft göttlicher Offenbarung und dem Schwerpunkt nach zu religiösen Zwecken, und die für sie typische religiöse Propaganda liegt ferner in der gerade entgegengesetzten Richtung wie die typische Religionspolitik der hellenischen Tyrannen: in dem Kampf gegen die Rauschkulte. Muhammeds von Grund aus politisch orientierte Religion und seine Stellung in Medîna, welche zwischen derjenigen eines italienischen Podestà und etwa der Stellung Calvins in Genf in der Mitte steht, wächst dennoch aus primär rein prophetischer Mission heraus: er, der Kaufmann, war zuerst ein Leiter pietistischer bürgerlicher Konventikel in Mekka, bis er zunehmend erkannte, daß die Organisation des Beuteinteresses der Kriegergeschlechter die gegebene äußere Grundlage für seine Mission sei.

Andererseits ist der Prophet durch Uebergangsstufen verbunden mit dem ethischen, speziell dem sozialethischen Lehrer, der, neuer oder erneuten Verständnisses alter Weisheit voll, Schüler um sich sammelt, Private in privaten Fragen, Fürsten in öffentlichen Dingen der Welt berät und eventuell zur Schöpfung ethischer Ordnungen zu bestimmen sucht. Die Stellung des Lehrers religiöser oder philosophischer Weisheit zum Schüler ist namentlich in den asiatischen heiligen Rechten außerordentlich fest und autoritär geregelt und gehört überall zu den festesten Pietätsverhältnissen, die es gibt. Die magische wie die Heldenlehre ist in aller Regel so geordnet, daß der Novize einem einzelnen erfahrenen Meister zugewiesen wird oder ihn sich – etwa so wie der »Leibfuchs« den »Leibburschen« im deutschen Couleurwesen – aussuchen darf, dem er nun in persönlicher Pietät attachiert ist und der seine Ausbildung überwacht. Alle Poesie der hellenischen Knabenliebe stammt aus dieser Pietätsbeziehung, und bei Buddhisten und Konfuzianern und in aller Mönchserziehung pflegt ähnlich verfahren zu werden. Der Typus ist am konsequentesten in der Stellung des »Guru« im indischen heiligen Recht durchgeführt, des brahmanischen Lehrers, dessen Lehre und Lebensleitung jeder zur vornehmen Gesellschaft Gehörige jahrelang sich rückhaltlos hingeben muß. Er hat souveräne Gewalt, und das Obödienzverhältnis, welches etwa der Stellung eines Famulus des okzidentalen Magisters entspricht, wird der Familienpietät vorangestellt, ebenso wie die Stellung des Hofbrahmanen (Purohita) offiziell in einer Art geordnet ist, welche dessen Machtstellung weit über die mächtigsten Beichtväter des Abendlandes erhebt. Allein der Guru ist lediglich ein Lehrer, der erworbenes, nicht nur offenbartes, Wissen weitergibt[271] und nicht kraft eigener Autorität, sondern im Auftrag lehrt. Auch der philosophische Ethiker und Sozialreformer aber ist kein Prophet in unserem Sinn, so nahe er ihm stehen kann. Gerade die ältesten, legendenumwobenen Weisen der Hellenen, Empedokles und ähnliche, vor allem Pythagoras, stehen freilich dem Prophetentum am nächsten und haben teilweise auch Gemeinschaften mit eigener Heilslehre und Lebensführung hinterlassen, auch die Heilandsqualität, zum Teil wenigstens, prätendiert. Es sind Typen von Intellektuellenheilslehrern, welche den indischen Parallelerscheinungen vergleichbar sind, nur bei weitem nicht deren Konsequenz in der Abstellung von Leben und Lehre auf »Erlösung« erreicht haben. Noch weniger können die Stifter und Häupter der eigentlichen »Philosophenschulen« als »Propheten« in unserem Sinn aufgefaßt werden, so nahe sie ihnen zuweilen kamen. Gleitende Uebergänge führen von Konfuzius, in dessen Tempel selbst der Kaiser den Kotau vollzieht, zu Platon. Beide waren lediglich schulmäßig lehrende Philosophen, getrennt durch die bei Konfuzius zentrale, bei Platon mehr gelegentliche Abgestelltheit auf bestimmenden sozialreformerischen Einfluß auf Fürsten. Von dem Propheten aber trennt sie das Fehlen der aktuellen emotionalen Predigt, welche, einerlei, ob durch Rede oder Pamphlete oder schriftlich verbreitete Offenbarungen nach Art der Suren Muhammeds, dem Propheten eigentümlich ist. Dieser steht stets dem Demagogen oder politischen Publizisten näher als dem »Betrieb« eines Lehrers, und andererseits ist die Tätigkeit etwa des Sokrates, der sich ebenfalls im Gegensatz gegen das professionelle Weisheitsgewerbe stehend fühlt, begrifflich von der Prophetie durch das Fehlen einer direkt offenbarten religiösen Mission geschieden. Das »Daimónion« reagiert bei Sokrates auf konkrete Situationen, und zwar vorwiegend abmahnend und warnend. Es findet sich bei ihm als Schranke seines ethischen, stark utilitarischen Rationalismus etwa an der Stelle, wo bei Konfuzius die magische Divination steht. Es ist schon aus jenem Grunde nicht einmal mit dem »Gewissen« der eigentlich religiösen Ethik gleichzusetzen, geschweige denn, daß es als ein prophetisches Organ gelten dürfte. Und so ist es mit allen Philosophen und ihren Schulen, wie sie China, Indien, die hellenische Antike, das jüdische, arabische und christliche Mittelalter in untereinander, soziologisch betrachtet, ziemlich ähnlicher Form gekannt haben. Sie können, wie bei den Pythagoräern, mehr der mystagogisch-rituellen, oder, wie bei den Kynikern, der exemplarischen Heilsprophetie (im bald zu erörternden Sinn) in der von ihnen produzierten und propagierten Lebensführung nahestehen. Sie können, wie die Kyniker, in ihrem Protest sowohl gegen die weltlichen Kulturgüter wie gegen die Sakramentsgnade der Mysterien, äußere und innere Verwandtschaft mit indischen und orientalischen asketischen Sekten zeigen. Der Prophet im hier festgehaltenen Sinn fehlt ihnen überall da, wo die Verkündigung einer religiösen Heilswahrheit kraft persönlicher Offenbarung fehlt. Diese soll hier als das entscheidende Merkmal des Propheten festgehalten werden. Die indischen Religionsreformer endlich nach Art des Shankara und Râmânuja, und die Reformatoren von der Art Luthers, Zwinglis, Calvins, Wesleys sind von der Kategorie der Propheten dadurch getrennt, daß sie weder kraft einer inhaltlich neuen Offenbarung, noch wenigstens kraft eines speziellen göttlichen Auftrags zu sprechen prätendieren, wie dies z.B. der Stifter der Mormonenkirche, – der, auch in rein technischer Hinsicht, mit Muhammed Aehnlichkeit zeigt, – und vor allem die jüdischen Propheten, aber auch z.B. Montanus und Novatianus und auch, allerdings mit einem stark rational lehrhaften Anflug, Mani und Manu, mit mehr emotionalem George Fox, taten.

Scheidet man alle bisher genannten, oft sehr dicht angrenzenden Formen aus dem Begriff aus, dann bleiben immer noch verschiedene Typen.

Zunächst der Mystagoge. Er praktiziert Sakramente, d.h. magische Handlungen, welche Heilsgüter verbürgen. Durch die ganze Welt hat es Erlöser dieser Art gegeben, die sich von dem gewöhnlichen Zauberer nur graduell durch die Sammlung einer speziellen Gemeinde um sich unterscheiden. Sehr oft haben sich[272] dann auf Grund eines für erblich geltenden, sakramentalen Charisma Dynastien von Mystagogen entwickelt, welche durch Jahrhunderte hindurch ihr Prestige behaupteten, Schüler mit Vollmachten ausstatteten und so eine Art von Hierarchenstellung einnahmen. Namentlich in Indien, wo der Titel Guru auch auf solche Heilsspender und ihre Bevollmächtigten angewendet wird. Ebenso in China, wo z.B. der Hierarch der Taoisten und einige geheime Sektenhäupter erblich eine solche Rolle spielten. Der gleich zu erwähnende Typus der exemplarischen Prophetie schlägt in der zweiten Generation sehr regelmäßig in Mystagogentum um. Massenhaft sind sie auch in ganz Vorderasien zu Hause gewesen und in dem erwähnten prophetischen Zeitalter nach Hellas hinübergekommen. Aber z.B. auch die weit älteren Adelsgeschlechter, welche erbliche Leiter der Eleusinischen Mysterien waren, repräsentieren wenigstens noch einen Grenzfall nach der Seite der einfachen Erbpriestergeschlechter hin. Der Mystagoge spendet magisches Heil, und es fehlt ihm oder bildet doch nur ein untergeordnetes Anhängsel: die ethische Lehre. Statt dessen besitzt er eine vornehmlich erblich fortgepflanzte magische Kunstlehre. Auch pflegt er von seiner vielbegehrten Kunst ökonomisch existieren zu wollen. Wir wollen daher auch ihn aus dem Prophetenbegriff ausscheiden, selbst wenn er neue Heilswege offenbart.

Dann bleiben noch zwei Typen von Prophetentum in unserem Sinn, deren einer am klarsten durch Buddha, deren anderer besonders klar durch Zarathustra und Muhammed repräsentiert wird. Entweder ist nämlich der Prophet, wie in den letzten Fällen, ein im Auftrag eines Gottes diesen und seinen Willen – sei dies ein konkreter Befehl oder eine abstrakte Norm – verkündendes Werkzeug, der kraft Auftrags Gehorsam als ethische Pflicht fordert (ethische Prophetie). Oder er ist ein exemplarischer Mensch, der anderen an seinem eigenen Beispiel den Weg zum religiösen Heil zeigt, wie Buddha, dessen Predigt weder von einem göttlichen Auftrag, noch von einer ethischen Gehorsamspflicht etwas weiß, sondern sich an das eigene Interesse der Heilsbedürftigen wendet, den gleichen Weg wie er selbst zu betreten (exemplarische Prophetie). Dieser zweite Typus eignet vornehmlich der indischen, in vereinzelten Exemplaren auch der chinesischen (Laotse) und vorderasiatischen, der erste aber ausschließlich der vorderasiatischen Prophetie, und zwar ohne Unterschied der Rasse. Denn weder die Veden, noch die chinesischen klassischen Bücher, deren älteste Bestandteile in beiden Fällen aus Preis-und Dankliedern heiliger Sänger und aus magischen Riten und Zeremonien bestehen, lassen es irgend wahrscheinlich erscheinen, daß dort jemals eine Prophetie des ethischen Typus nach der Art der vorderasiatisch-iranischen bestanden haben könnte. Der entscheidende Grund dafür liegt in dem Fehlen des persönlichen überweltlichen ethischen Gottes, welcher in Indien überhaupt nur in sakramental-magischer Gestalt innerhalb der späteren volkstümlichen hinduistischen Religiosität seine Heimat hatte, im Glauben derjenigen sozialen Schichten aber, innerhalb welcher sich die entscheidenden prophetischen Konzeptionen des Mahâvîra und Buddha vollzogen, nur intermittierend und stets wieder pantheistisch umgedeutet auftauchte, in China vollends in der Ethik der sozial ausschlaggebenden Schicht ganz fehlte. Inwieweit dies vermutlich mit der sozial bedingten intellektuellen Eigenart jener Schichten zusammenhing, darüber später. Soweit innerreligiöse Momente mitwirkten, war für Indien wie für China entscheidend, daß die Vorstellung einer rational geregelten Welt ihren Ausgangspunkt nahm von der zeremoniellen Ordnung der Opfer, an deren unwandelbarer Regelmäßigkeit alles hängt: vor allem die unentbehrliche Regelmäßigkeit der meteorologischen Vorgänge, animistisch gedacht: das normale Funktionieren und die Ruhe der Geister und Dämonen, welche sowohl nach klassischer wie nach heterodoxer chinesischer Anschauung durch eine ethisch richtig geführte Regierung, wie sie dem echten Tugendpfad (Tao) entspricht, verbürgt wird und ohne die auch nach vedischer Lehre alles fehlschlägt. Rita und Tao sind daher in Indien bzw. China übergöttliche unpersönliche Mächte. Der überweltliche persönliche ethische Gott dagegen ist eine vorderasiatische Konzeption. Sie entspricht so sehr dem auf Erden[273] allmächtigen einen König mit seinem rationalen bürokratischen Regiment, daß ein Kausalzusammenhang nicht gut abweisbar ist. Ueber die ganze Erde hin ist der Zauberer in erster Linie Regenmacher, denn von rechtzeitigem, genügendem und auch nicht übermäßigem Regen hängt die Ernte ab. Der pontifikale chinesische Kaiser ist es bis in die Gegenwart geblieben, denn wenigstens in Nordchina überwiegt die Bedeutung des unsicheren Wetters diejenige der Bewässerungsanlage, so groß deren Wichtigkeit dort ist. Mauer- und Binnenschiffahrtskanalbauten, die eigentliche Quelle der kaiserlichen Bürokratie, waren noch wichtiger. Meteorologische Störungen sucht er durch Opfer, öffentliche Buße und Tugendübungen, z.B. durch Abstellung von Mißbräuchen in der Verwaltung, etwa durch eine Razzia auf unbestrafte Verbrecher, abzuwenden, weil stets der Grund der Erregung der Geister und der Störung der kosmischen Ordnung entweder in persönlichen Verfehlungen des Monarchen oder in sozialer Unordnung vermutet wird. Zu den Dingen, die Jahve, gerade in den älteren Teilen der Ueberlieferung, als Lohn für seine damals noch wesentlich bäuerlichen Anhänger in Aussicht stellt, gehört ebenfalls: der Regen. Nicht zu wenig und auch nicht zu viel (Sintflut) davon verspricht er. Aber rundum, in Mesopotamien wie Arabien, war nicht der Regen der Erzeuger der Ernte, sondern ausschließlich die künstliche Bewässerung. Sie allein ist in Mesopotamien, ähnlich wie in Aegypten die Stromregulierung, die Quelle der absoluten Herrschaft des Königs, der seine Einkünfte gewinnt, indem er durch zusammengeraubte Untertanen Kanäle und an diesen Städte bauen läßt. In den eigentlichen Wüsten- und Wüstenrandgebieten Vorderasiens ist dies wohl eine der Quellen der Vorstellung von einem Gott, der die Erde und den Menschen nicht, wie sonst meist, gezeugt, sondern aus dem Nichts »gemacht« hat: auch die Wasserwirtschaft des Königs schafft ja die Ernte im Wüstensand aus dem Nichts. Der König schafft sogar das Recht durch Gesetze und rationale Kodifikationen, – etwas, was die Welt hier in Mesopotamien zum ersten Male erlebte. Und so erscheint es, auch abgesehen von dem Fehlen jener sehr eigenartigen Schichten, welche Träger der indischen und chinesischen Ethik waren und die dortige »gottlose« religiöse Ethik schufen, sehr begreiflich, daß unter diesem Eindruck auch die Ordnung der Welt als das Gesetz eines frei schaltenden, überweltlichen, persönlichen Herrn konzipiert werden konnte. Zwar in Aegypten, wo ursprünglich der Pharao selbst ein Gott war, scheiterte später der Anlauf Echnatons zum astralen Monotheismus an der schon unüberwindlichen Macht der Priesterschaft, welche den volkstümlichen Animismus systematisiert hatte. Und im Zweistromlande stand das alte, ebenfalls schon politisch und durch Priester systematisierte Pantheon und die feste Ordnung des Staats dem Monotheismus ebenso wie jeder demagogischen Prophetie im Wege. Aber der Eindruck des pharaonischen sowohl wie des mesopotamischen Königtums auf die Israeliten war eher noch gewaltiger als der des persischen Königs, des »Basileus« κλτ ἐξοχήν, auf die Hellenen (wie er sich trotz seiner Niederlage z.B. in der Ausgestaltung einer pädagogischen Schrift zur »Kyrupaideia« ausspricht). Die Israeliten waren dem »Diensthause« des irdischen Pharao nur entronnen, weil ein göttlicher König half. Die Errichtung des irdischen Königtums wird ausdrücklich als Abfall von Jahve als dem eigentlichen Volkskönig erklärt, und die israelitische Prophetie ist ganz und gar an dem Verhältnis zu den politischen Großmächten: den großen Königen, orientiert, welche Israel zuerst als Zuchtruten Gottes zerschmetterten, dann wieder, kraft göttlicher Eingebung, ihm die Heimkehr aus dem Exil gestatten. Auch Zarathustras Vorstellungskreis scheint an den Konzeptionen westlicher Kulturländer orientiert. Die erste Entstehung sowohl der dualistischen wie der monotheistischen Prophetie scheint daher, neben anderen konkreten historischen Einflüssen, in ihrer Eigenart stark mitbedingt durch den Eindruck der relativ nahegelegenen großen Zentren straffer sozialer Organisation auf minder rationalisierte Nachbarvölker, welche Zorn und Gnade eines himmlischen Königs in ihrer eigenen beständigen Gefährdung durch die erbarmungslose Kriegsführung furchtbarer Nachbarn erblickten.

[274] Mag aber die Prophetie mehr ethischen oder mehr exemplarischen Charakter haben, immer bedeutet – das ist das Gemeinsame – die prophetische Offenbarung, zunächst für den Propheten selbst, dann für seine Helfer: einen einheitlichen Aspekt des Lebens, gewonnen durch eine bewußt einheitliche sinnhafte Stellungnahme zu ihm. Leben und Welt, die sozialen wie die kosmischen Geschehnisse, haben für den Propheten einen bestimmten systematisch einheitlichen »Sinn«, und das Verhalten der Menschen muß, um ihnen Heil zu bringen, daran orientiert und durch die Beziehung auf ihn einheitlich sinnvoll gestaltet werden. Die Struktur dieses »Sinnes« kann höchst verschieden sein, und er kann logisch heterogen scheinende Motive zu einer Einheit zusammenschmieden, denn nicht in erster Linie logische Konsequenz, sondern praktische Wertungen beherrschen die ganze Konzeption. Immer bedeutet sie, nur in verschiedenem Grade und mit verschiedenem Erfolge, einen Versuch der Systematisierung aller Lebensäußerungen, der Zusammenfassung also des praktischen Verhaltens zu einer Lebensführung, gleichviel, wie diese im Einzelfall aussehen möge. Immer enthält er ferner die wichtige religiöse Konzeption der »Welt« als eines »Kosmos«, an welchen nun die Anforderung gestellt wird, daß er ein irgendwie »sinnvoll« geordnetes Ganzes bilden müsse, und dessen Einzelerscheinungen an diesem Postulat gemessen und gewertet werden. Alle stärksten Spannungen der inneren Lebensführung sowohl wie der äußeren Beziehung zur Welt entstammen dann dem Zusammenstoß dieser Konzeption der Welt als eines, dem religiösen Postulat nach, sinnvollen Ganzen mit den empirischen Realitäten. Die Prophetie ist allerdings keineswegs die einzige Instanz, welche mit diesem Problem zu schaffen hat. Auch alle Priesterweisheit und ebenso alle priesterfreie Philosophie, intellektualistische und vulgäre, befaßt sich irgendwie mit ihm. Die letzte Frage aller Metaphysik lautete von jeher so: wenn die Welt als Ganzes und das Leben im besonderen einen »Sinn« haben soll, – welches kann er sein und wie muß die Welt aussehen, um ihm zu entsprechen? Aber die religiöse Problematik der Propheten und Priester ist der Mutterschoß, welcher die priesterfreie Philosophie, wo sie sich überhaupt entwickelte, aus sich entlassen hat, um sich dann mit ihr, als einer sehr wichtigen Komponente religiöser Entwicklung, auseinandersetzen zu müssen. Wir müssen daher die gegenseitigen Beziehungen von Priestern, Propheten und Nichtpriestern näher erörtern.


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 268-275.
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