Max Weber

Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis[146] 12

Die erste Frage, mit der bei uns eine sozialwissenschaftliche und zumal eine sozialpolitische Zeitschrift bei ihrem Erscheinen[146] oder bei ihrem Uebergang in eine neue Redaktion begrüßt zu werden pflegt, ist: welches ihre »Tendenz« sei. Auch wir können uns einer Antwort auf diese Frage nicht entziehen, und es soll an dieser Stelle darauf im Anschluß an die Bemerkungen in unserem »Geleitwort« in etwas prinzipiellerer Fragestellung eingegangen werden. Es bietet sich dadurch Gelegenheit, die Eigenart der in unserem Sinne »sozialwissenschaftlichen« Arbeit überhaupt nach manchen Richtungen in ein Licht zu rücken, welches, wenn nicht für den Fachmann, so doch für manchen der Praxis der wissenschaftlichen Arbeit ferner stehenden Leser nützlich sein kann, obwohl oder vielmehr gerade weil es sich dabei um »Selbstverständlichkeiten« handelt. –

Ausgesprochener Zweck des »Archivs« war seit seinem Bestehen neben der Erweiterung unserer Erkenntnis der »gesellschaftlichen Zustände aller Länder«, also der Tatsachen des sozialen Lebens, auch die Schulung des Urteils über praktische Probleme desselben und damit – in demjenigen, freilich sehr bescheidenen Maße, in dem ein solches Ziel von privaten Gelehrten gefördert werden kann – die Kritik an der sozialpolitischen Arbeit der Praxis, bis hinauf zu derjenigen der gesetzgebenden Faktoren. Trotzdem hat nun aber das Archiv von Anfang an daran festgehalten, eine ausschließlich wissenschaftliche Zeitschrift sein zu wollen, nur mit den Mitteln wissenschaftlicher Forschung zu arbeiten, – und es entsteht zunächst die Frage: wie sich jener Zweck mit der Beschränkung auf diese Mittel prinzipiell vereinigen läßt. Wenn das Archiv in seinen Spalten Maßregeln der Gesetzgebung und Verwaltung oder praktische Vorschläge zu solchen beurteilen läßt – was bedeutet das? Welches sind die Normen für diese Urteile? Welches ist die Geltung der Werturteile, die der Beurteilende seinerseits etwa äußert, oder welche ein Schriftsteller, der praktische Vorschläge macht, diesen zugrunde legt? In welchem Sinne befindet er sich dabei auf dem Boden wissenschaftlicher Erörterung, da doch das Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis in der »objektiven« Geltung ihrer Ergebnisse als Wahrheit gefunden werden muß? Wir legen zunächst unseren Standpunkt zu dieser Frage dar, um daran später die weitere zu schließen: in welchem Sinne gibt es »objektiv gültige Wahrheiten« auf dem Boden der Wissenschaften vom Kulturleben überhaupt? – eine Frage, die angesichts des steten Wandels und erbitterten[147] Kampfes um die scheinbar elementarsten Probleme unserer Disziplin, die Methode ihrer Arbeit, die Art der Bildung ihrer Begriffe und deren Geltung, nicht umgangen werden kann. Nicht Lösungen bieten, sondern Probleme aufzeigen, wollen wir hier, – solche Probleme nämlich, denen unsere Zeitschrift, um ihrer bisherigen und zukünftigen Aufgabe gerecht zu werden, ihre Aufmerksamkeit wird zuwenden müssen. –


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 61985, S. 146-148.
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