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Unter »Wertungen« sollen nachstehend, wo nicht ein anderes gesagt oder von selbst ersichtlich ist, »praktische« Bewertungen einer durch unser Handeln beeinflußbaren Erscheinung als verwerflich oder billigenswert verstanden sein. Mit dem Problem der »Freiheit« einer bestimmten Wissenschaft von Wertungen dieser Art, mit der Geltung und dem Sinn dieses logischen Prinzips also, in keiner Art identisch ist die ganz andere, kurz vorweg zu besprechende Frage: Ob man im akademischen Unterricht sich zu seinen ethischen oder durch Kulturideale oder sonst weltanschauungsmäßig begründeten praktischen Wertungen »bekennen« solle oder nicht. Wissenschaftlich diskutierbar ist sie nicht. Denn sie ist selbst eine gänzlich von praktischen Wertungen abhängige und eben deshalb unaustragbare Frage. Vertreten sind, um nur die Extreme zu zitieren, sowohl: a) der Standpunkt, daß zwar die Trennung rein logisch erschließbarer und rein empirischer Sachverhalte einerseits, von den praktischen, ethischen oder weltanschauungsmäßigen, Wertungen andererseits, zu Recht bestehe, daß aber dennoch (oder vielleicht sogar: eben deshalb) beide Kategorien von Problemen auf das Katheder gehören, – wie: b) der Standpunkt, daß, auch wenn[489] jene Trennung logisch nicht konsequent durchführbar sei, dennoch es sich empfehle, alle praktischen Wertfragen im Unterricht möglichst zurücktreten zu lassen.
Der Standpunkt »b« scheint mir unannehmbar. – Insbesondere scheint mir die für unsere Disziplinen nicht selten gemachte Unterscheidung praktischer Wertungen in solche »parteipolitischen« und solche anderen Charakters schlechterdings undurchführbar und nur geeignet, die praktische Tragweite der den Hörern suggerierten Stellungnahme zu verhüllen. Die Ansicht vollends: daß dem Katheder die »Leidenschaftslosigkeit« eignen müsse, folglich Dinge auszuscheiden seien, welche die Gefahr »temperamentvoller« Erörterungen mit sich brächten, wäre, wenn man überhaupt einmal auf dem Katheder wertet, eine Bureaukratenmeinung, die jeder unabhängige Lehrer zurückweisen müßte. Von denjenigen Gelehrten, welche sich die praktischen Wertungen bei empirischen Erörterungen nicht versagen zu sollen glaubten, waren gerade die leidenschaftlichsten – wie etwa Treitschke, in seiner Art auch Mommsen – am ehesten zu ertragen. Denn gerade durch die Stärke der Affektbetontheit wird der Hörer wenigstens in die Lage versetzt, seinerseits die Subjektivität der Wertung des Lehrers in ihrem Einfluß auf eine etwaige Trübung seiner Feststellungen abzuschätzen und also für sich das zu tun, was dem Temperament des Lehrers versagt blieb. Dem echten Pathos bliebe so diejenige Wirkung auf die Seelen der Jugend gewahrt, welche – wie ich annehme – die Anhänger der praktischen Kathederwertungen ihnen gern sichern möchten, ohne daß der Hörer dabei zur Konfusion verschiedener Sphären miteinander verbildet würde, wie es geschehen muß, wenn die Feststellung empirischer Tatsachen und die Aufforderung zur praktischen Stellungnahme zu großen Lebensproblemen beide in die gleiche kühle Temperamentlosigkeit getaucht werden.
Der Standpunkt »a« scheint mir, und zwar vom eigenen subjektiven Standpunkt seiner etwaigen Anhänger aus, dann und nur dann akzeptabel, wenn der akademische Lehrer sich zur unbedingten Pflicht setzt, in jedem einzelnen Falle, auch auf die Gefahr hin, seinen Vortrag dadurch reizloser zu gestalten, seinen Hörern und, was die Hauptsache ist, sich selbst unerbittlich klar zu machen: was von seinen jeweiligen Ausführungen entweder rein logisch erschlossen oder rein empirische Tatsachenfeststellung und was praktische Wertung ist. Dies zu[490] tun allerdings scheint mir direkt ein Gebot der intellektuellen Rechtschaffenheit, wenn man einmal die Fremdheit der Sphären zugibt; in diesem Falle ist es das absolute Minimum des zu Fordernden. –
Die Frage dagegen: ob man auf dem Katheder überhaupt (auch unter dieser Kautel) praktisch werten solle oder nicht, ist ihrerseits eine solche der praktischen Universitätspolitik und deshalb letztlich nur vom Standpunkt jener Aufgaben aus entscheidbar, welche der Einzelne von seinen Wertungen aus den Universitäten zuweisen möchte. Wer für sie, und damit für sich selbst, kraft seiner Qualifikation zum akademischen Lehrer heute noch die universelle Rolle: Menschen zu prägen, politische, ethische, künstlerische, kulturliche oder andere Gesinnung zu propagieren, in Anspruch nimmt, wird zu ihr anders stehen, als derjenige, welcher die Tatsache (und ihre Konsequenzen) bejahen zu müssen glaubt: daß die akademischen Hörsäle heute ihre wirklich wertvollen Wirkungen nun einmal nur durch fachmäßige Schulung seitens fachmäßig Qualifizierter entfalten und daß deshalb die »intellektuelle Rechtschaffenheit« die einzige spezifische Tugend sei, zu der sie zu erziehen haben. Man kann den ersten Standpunkt aus ebensoviel verschiedenen letzten Positionen heraus vertreten wie den zweiten. Diesen letzteren insbesondere (den ich persönlich einnehme) kann man ableiten sowohl aus einer höchst überschwenglichen wie gerade umgekehrt auch aus einer durchaus bescheidenen Einschätzung der Bedeutung der »Fach«bildung. Z.B. nicht, weil man etwa wünschte, daß alle Menschen, im innerlichen Sinne, zu möglichst reinen »Fachmenschen« werden möchten. Sondern gerade umgekehrt, weil man die letzten höchst persönlichen Lebensentscheidungen, die ein Mensch aus sich heraus zu treffen hat, nicht mit Fachschulung – wie hoch deren Bedeutung für die allgemeine Denkschulung nicht nur, sondern indirekt auch für die Selbstdisziplin und sittliche Einstellung des jungen Menschen gewertet werden möge – in denselben Topf geworfen und ihre Lösung aus eigenem Gewissen heraus dem Hörer nicht durch eine Kathedersuggestion abgenommen zu sehen wünscht.
Das günstige Vorurteil Professor v. Schmollers für die Kathederwertung ist mir persönlich als Nachhall einer großen Epoche, die er und seine Freunde mit schaffen halfen, durchaus verständlich. Aber ich meine: es könne auch ihm doch schon[491] der Umstand nicht entgehen, daß zunächst die rein tatsächlichen Verhältnisse sich für die jüngere Generation in einem wichtigen Punkt erheblich geändert haben. Es war vor 40 Jahren in den Kreisen der Gelehrtenwelt unserer Disziplinen der Glaube weit verbreitet: daß auf dem Gebiet der praktisch-politischen Wertungen letztlich eine der möglichen Stellungnahmen die ethisch allein richtige sein müsse. (Schmoller selbst hat freilich diesen Standpunkt stets nur sehr eingeschränkt vertreten.) Dies nun ist heute gerade unter den Anhängern der Kathederwertungen, wie leicht festzustellen ist, nicht mehr der Fall. Nicht mehr die ethische Forderung, deren (relativ) schlichte Gerechtigkeitspostulate sowohl in der Art ihrer letzten Begründung wie in ihren Konsequenzen (relativ) einfach und vor allem (relativ) unpersönlich, weil unzweideutig spezifisch überpersönlich, geartet teils waren, teils zu sein schienen, ist es, in deren Namen heute die Legitimität der Kathederwertungen gefordert wird. Sondern (kraft einer unvermeidlichen Entwicklung) ein bunter Strauß von »Kulturwertungen«, in Wahrheit: von subjektiven Ansprüchen an die Kultur, oder ganz offen: das angebliche »Recht der Persönlichkeit« des Lehrers. Man mag sich nun über den Standpunkt entrüsten, aber man wird ihn – und zwar deshalb, weil auch er eben eine »praktische Wertung« enthält – wohl nicht widerlegen können: daß von allen Arten der Prophetie die in diesem Sinne »persönlich« gefärbte Professoren-Prophetie die einzige ganz und gar unerträgliche ist. Es ist doch ein beispielloser Zustand, wenn zahlreiche staatlich beglaubigte Propheten nicht auf den Gassen oder in den Kirchen oder sonst in der Oeffentlichkeit, oder, wenn privatim, dann in persönlich ausgelesenen Glaubenskonventikeln, die sich als solche bekennen, predigen, sondern in der angeblich objektiven, unkontrollierbaren, diskussionslosen und also vor allem Widerspruch sorgsam geschützten Stille des vom Staat privilegierten Hörsaals »im Namen der Wissenschaft« maßgebende Kathederentscheidungen über Weltanschauungsfragen zum besten zu geben sich herausnehmen. Es ist ein alter, von Schmoller bei einer gegebenen Gelegenheit scharf vertretener Grundsatz: daß die Vorgänge in den Hörsälen der öffentlichen Erörterung entzogen bleiben sollen. Obwohl nun die Ansicht möglich ist, daß dies gelegentlich, auch auf empirisch-wissenschaftlichem Gebiet, gewisse Nachteile haben könne, nimmt man offenbar und nehme auch ich an: daß die »Vorlesung«[492] eben etwas anderes als ein »Vortrag« sein solle, daß die unbefangene Strenge, Sachlichkeit, Nüchternheit der Kollegdarlegung unter dem Hineinreden der Oeffentlichkeit, z.B. der Presse-Oeffentlichkeit, zum Schaden des pädagogischen Zweckes leiden könne. Allein ein solches Privileg der Unkontrolliertheit scheint doch jedenfalls nur für den Bereich der rein fachlichen Qualifikation des Professors angemessen. Für persönliche Prophetie aber gibt es keine Fachqualifikation und darf es daher auch nicht jenes Privileg geben. Vor allem aber darf sie nicht die bestehende Zwangslage des Studenten, um seines Fortkommens im Leben willen bestimmte Lehranstalten und also: deren Lehrer, aufsuchen zu müssen, dazu ausbeuten, um ihm neben dem, was er hierzu braucht: Weckung und Schulung seiner Auffassungsgabe und seines Denkens, und daneben: Kenntnisse, auch noch, vor jedem Widerspruch sicher, die eigene zuweilen gewiß ganz interessante (oft auch recht gleichgültige) sogenannte »Weltanschauung« einzuflößen.
Für die Propaganda seiner praktischen Ideale stehen dem Professor, ebenso wie jedermann sonst, andere Gelegenheiten zu Gebote, und wenn nicht, so kann er sie sich in geeigneter Form leicht schaffen, wie bei jedem ehrlichen Versuch dazu die Erfahrung beweist. Aber der Professor sollte nicht den Anspruch erheben, als Professor den Marschallstab des Staatsmanns (oder des Kulturreformers) im Tornister zu tragen, wie er tut, wenn er die Sturmfreiheit des Katheders für staatsmännische (oder kulturpolitische) Sentiments benutzt. In der Presse, in Versammlungen, Vereinen, Essays, in jeder jedem anderen Staatsbürger ebenfalls zugänglichen Form mag (und: soll) er tun, was sein Gott oder Dämon ihn heißt. Was aber heute der Student im Hörsaal doch vor allen Dingen von seinem Lehrer lernen sollte, ist: 1. die Fähigkeit, sich mit der schlichten Erfüllung einer gegebenen Aufgabe zu bescheiden; – 2. Tatsachen, auch und gerade persönlich unbequeme Tatsachen, zunächst einmal anzuerkennen und ihre Feststellung von der bewertenden Stellungnahme dazu zu scheiden; – 3. seine eigene Person hinter die Sache zurückzustellen und also vor allem das Bedürfnis zu unterdrücken: seine persönlichen Geschmacks- und sonstigen Empfindungen ungebeten zur Schau zu stellen. Es scheint mir, daß dies heute ganz ungleich dringlicher ist, als es etwa vor 40 Jahren war, wo gerade dies Problem eigentlich gar nicht in dieser Form[493] existierte. Es ist ja nicht wahr – wie man behauptet hat –, daß die »Persönlichkeit« in dem Sinn eine »Einheit« sei und sein solle, daß sie sozusagen in Verlust geraten müßte, wenn man ihrer nicht bei jeder Gelegenheit ansichtig wird. Bei jeder beruflichen Aufgabe verlangt die Sache als solche ihr Recht und will nach ihren eigenen Gesetzen erledigt sein. Bei jeder beruflichen Aufgabe hat der, welchem sie gestellt ist, sich zu beschränken und das auszuscheiden, was nicht streng zur Sache gehört, am meisten aber: eigene Liebe und Haß. Und es ist nicht wahr, daß eine starke Persönlichkeit sich darin dokumentiere, daß sie bei jeder Gelegenheit zuerst nach einer nur ihr eigenen ganz »persönlichen Note« fragt. Sondern es ist zu wünschen, daß gerade die jetzt heranwachsende Generation sich vor allen Dingen wieder an den Gedanken gewöhne: daß »eine Persönlichkeit zu sein« etwas ist, was man nicht absichtlich wollen kann, und daß es nur einen einzigen Weg gibt, um es (vielleicht!) zu werden: die rückhaltlose Hingabe an eine »Sache«, möge dies und die von ihr ausgehende »Forderung des Tages« nun im Einzelfall aussehen, wie sie wolle. Es ist stilwidrig, in sachliche Facherörterungen persönliche Angelegenheiten zu mischen. Und es heißt, den »Beruf« seines einzigen heute wirklich noch bedeutsam gebliebenen Sinnes entkleiden, wenn man diejenige spezifische Art von Selbstbegrenzung, die er verlangt, nicht vollzieht. Ob aber der modische Persönlichkeitskult auf dem Thron, in der Amtsstube oder auf dem Katheder sich auszuleben trachtet, – er wirkt äußerlich fast immer effektvoll, im innerlichsten Sinn aber überall gleich kleinlich, und er schädigt überall die Sache. Nun hoffe ich, nicht besonders sagen zu müssen: daß mit dieser Art von Kultus des Persönlichen, nur weil es »persönlich« ist, gerade die Gegner, mit denen sich diese Darlegungen befassen, ganz gewiß am allerwenigsten zu schaffen haben. Sie sehen teils die Kathederaufgabe in anderem Lichte, teils haben sie andere Erziehungsideale, die ich achte, aber nicht teile. Indessen nicht nur, was sie wollen, sondern wie das, was sie mit ihrer Autorität legitimieren, auf eine Generation mit einer ohnehin unvermeidlich stark entwickelten Prädisposition zum Sichwichtignehmen wirken muß, ist zu erwägen.
Schließlich, daß manche angebliche Gegner der (politischen) Kathederwertungen gewiß am allerwenigsten dazu legitimiert sind, zur Diskreditierung von außerhalb der[494] Hörsäle in voller Oeffentlichkeit sich vollziehenden kultur- und sozialpolitischen Erörterungen, sich auf den von ihnen noch dazu oft arg mißverstandenen Grundsatz der Ausscheidung der »Werturteile« zu berufen, bedarf wohl kaum der besonderen Feststellung. Die unbezweifelbare Existenz dieser pseudowertfreien, tendenziösen, dabei in unserem Fach durch die zähe und zielbewußte Parteinahme starker Interessentenkreise getragenen Elemente macht es unzweifelhaft verständlich, daß eine bedeutende Anzahl gerade innerlich unabhängiger Gelehrter zur Zeit bei der Kathederwertung beharren, weil sie jene Mimikry einer nur scheinbaren »Wertfreiheit« mitzumachen zu stolz sind. Persönlich glaube ich, daß trotzdem das (nach meiner Meinung) Richtige geschehen sollte, und daß das Gewicht der praktischen Wertungen eines Gelehrten dadurch, daß er ihre Vertretung auf die adäquaten Gelegenheiten außerhalb des Hörsaals beschränkt, nur wachsen würde, wenn man weiß, daß er die Strenge besitzt, innerhalb des Hörsaals zu tun: nur das, was »seines Amtes« ist. Indessen dies alles sind ja eben ihrerseits praktische Wertungsfragen und deshalb unaustragbar.
Jedenfalls wäre aber die prinzipielle Inanspruchnahme des Rechtes der Kathederwertung m. E. nur dann konsequent, wenn zugleich Gewähr dafür geschaffen würde, daß alle Parteiwertungen Gelegenheit hätten, sich auf dem Katheder Geltung zu verschaffen2. Bei uns pflegt aber mit der Betonung des Rechts auf Kathederwertung geradezu das Gegenteil jenes Prinzips der gleichmäßigen Vertretung aller (auch der denkbar »extremsten«) Richtungen vertreten zu werden. Es war z.B. natürlich von Schmollers persönlichem Standpunkt aus konsequent, wenn er »Marxisten und Manchesterleute« für disqualifiziert zur Innehabung von akademischen Lehrstühlen erklärte, obwohl gerade er nie die Ungerechtigkeit besessen hat, die wissenschaftlichen Leistungen zu ignorieren, welche gerade diesen Kreisen entstammen.[495] Allein eben hier liegen die Punkte, in denen ich persönlich unserem verehrten Meister niemals folgen konnte. Man darf doch offenbar nicht in einem Atem die Zulassung der Kathederwertung verlangen und – wenn die Konsequenzen gezogen werden sollen – darauf hinweisen, daß die Universität eine staatliche Anstalt für die Vorbildung »staatstreu« gesonnener Beamter sei. Damit würde man die Universität nicht etwa zu einer »Fachschule« (was vielen Dozenten so degradierend erscheint), sondern zu einem Priesterseminar machen, – nur ohne ihr dessen religiöse Würde geben zu können. Nun hat man freilich gewisse Schranken rein »logisch« erschließen wollen. Einer unserer allerersten Juristen erklärte gelegentlich, indem er sich gegen den Ausschluß von Sozialisten von den Kathedern aussprach: wenigstens einen »Anarchisten« würde auch er als Rechtslehrer nicht akzeptieren können, da der ja die Geltung des Rechts als solchen überhaupt negiere, – und er hielt dies Argument offenbar für durchschlagend. Ich bin der genau gegenteiligen Ansicht. Der Anarchist kann sicherlich ein guter Rechtskundiger sein. Und ist er das, dann kann gerade jener sozusagen archimedische Punkt außerhalb der uns so selbstverständlichen Konventionen und Voraussetzungen, auf den ihn seine objektive Ueberzeugung – wenn sie echt ist – stellt, ihn befähigen, in den Grundanschauungen der üblichen Rechtslehre eine Problematik zu erkennen, die allen denjenigen entgeht, welchen jene allzu selbstverständlich sind. Denn der radikalste Zweifel ist der Vater der Erkenntnis. Der Jurist hat so wenig die Aufgabe, den Wert jener Kulturgüter, deren Existenz an den Bestand von »Recht« gebunden ist, zu »beweisen«, wie der Mediziner die Aufgabe hat, »nachzuweisen«, daß die Verlängerung des Lebens unter allen Umständen erstrebenswert sei. Beide sind dazu auch, mit ihren Mitteln, gar nicht imstande. Wollte man aber das Katheder zur Stätte praktischer Werterörterungen machen, dann wäre es offenbar Pflicht, gerade die prinzipiellsten Grundfragen der ungehemmten Freiheit der Erörterung von allen Standpunkten aus freizugeben. Kann dies geschehen? Gerade die entscheidensten und wichtigsten praktisch-politischen Wertfragen sind heute von den Kathedern deutscher Universitäten durch die Natur der politischen Verhältnisse ausgeschlossen. Wem die Interessen der Nation über ausnahmslos allen ihren konkreten Institutionen stehen, für den[496] bildet es z.B. eine zentral wichtige Frage: ob die heute maßgebende Auffassung von der Stellung des Monarchen in Deutschland vereinbar ist mit den Weltinteressen der Nation und mit denjenigen Mitteln: Krieg und Diplomatie, durch welche diese wahrgenommen werden? Es sind nicht immer die schlechtesten Patrioten und auch keineswegs Gegner der Monarchie, welche heute geneigt sind, diese Frage zu verneinen und an dauernde Erfolge auf jenen beiden Gebieten nicht zu glauben, solange hier nicht sehr tiefgehende Aenderungen eingetreten sind. Jedermann aber weiß, daß diese Lebensfragen der Nation auf deutschen Kathedern nicht in voller Freiheit diskutiert werden können3. Angesichts dieser Tatsache aber, daß gerade die praktisch-politisch entscheidenden Wertungsfragen der freien Kathedererörterung dauernd entzogen sind, scheint es mir der Würde der Vertreter der Wissenschaft allein zu entsprechen: auch über solche Wertprobleme, die man ihnen zu behandeln freundlichst erlaubt, zu schweigen. –
Auf keinen Fall darf aber die – unaustragbare, weil durch Wertung bedingte – Frage: ob man im Unterricht praktische Wertungen vertreten dürfe, müsse, solle, irgendwie mit der rein logischen Erörterung der Rolle verquickt werden, welche Wertungen für empirische Disziplinen, wie die Soziologie und Nationalökonomie es sind, spielen. Darunter müßte sonst die Unbefangenheit der Diskussion des eigentlichen logischen Sachverhalts leiden, dessen Entscheidung an sich für jene Frage noch gar keine Anweisung gibt, außer der einen rein logisch geforderten: Klarheit und deutliche Trennung der heterogenen Problemsphären durch den Dozenten.
Nicht diskieren möchte ich ferner, ob die Scheidung von empirischer Feststellung und praktischer Wertung »schwierig« sei. Sie ist es. Wir alle, der unterzeichnete Vertreter dieser Forderung ebenso wie andere, verstoßen immer wieder einmal dagegen. Aber wenigstens die Anhänger der sogenannten ethischen Nationalökonomie könnten wissen: daß auch das Sittengesetz unerfüllbar ist, dennoch aber als »aufgegeben« gilt. Und eine Gewissenserforschung könnte vielleicht zeigen, daß die Erfüllung des Postulats vor allem deshalb schwierig ist, weil wir[497] es uns ungern versagen, auch das so interessante Gebiet der Wertungen, zumal mit der so anregenden »persönlichen Note«, zu betreten. Jeder Dozent wird natürlich die Beobachtung machen, daß die Gesichter der Studenten sich aufhellen und ihre Mienen sich spannen, wenn er persönlich zu »bekennen« anfängt, und ebenso, daß die Besuchsziffer seiner Vorlesungen durch die Erwartung, daß er dies tun werde, höchst vorteilhaft beeinflußt wird. Jeder weiß ferner, daß die Frequenzkonkurrenz der Universitäten oft einem noch so kleinen Propheten, der die Hörsäle füllt, bei Vorschlägen gegenüber einem noch so erheblichen Gelehrten und sachlichen Lehrer die Vorhand gibt, – es sei denn, daß die Prophetie den, politisch oder konventionell, jeweils als normal angesehenen Wertungen allzu entlegen wäre. Nur der pseudowertfreie Prophet der materiellen Interessenten ist, kraft des Einflusses dieser auf die politischen Gewalten, auch ihm an Chancen überlegen. Ich halte dies alles für unerfreulich und möchte daher auch auf die Behauptung: daß die Forderung der Ausscheidung von praktischen Wertungen »kleinlich« sei, daß sie die Vorlesungen »langweilig« machen würde, nicht eingehen. Ich lasse dahingestellt, ob Vorlesungen über ein empirisches Fachgebiet vor allen Dingen »interessant« zu sein bestrebt sein müsse, fürchte aber meinerseits, daß jedenfalls ein durch allzu interessante persönliche Noten erzielter Reiz den Studenten auf die Dauer den Geschmack an schlichter sachlicher Arbeit abgewöhnen würde.
Nicht diskutieren ferner, sondern ausdrücklich anerkennen möchte ich: daß man gerade unter dem Schein der Ausmerzung aller praktischen Wertungen ganz besonders stark, nach dem bekannten Schema: »die Tatsachen sprechen zu lassen«, suggestiv solche hervorrufen kann. Die bessere Qualität unserer parlamentarischen und Wahlberedsamkeit wirkt ja gerade mit diesem Mittel, – und für ihre Zwecke ganz legitim. Darüber, daß dies auf dem Katheder, gerade vom Standpunkt der Forderung jener Scheidung aus, von allen Mißbräuchen der allerverwerflichste wäre, ist kein Wort zu verlieren. Daß aber ein illoyal erweckter Schein der Erfüllung eines Gebotes sich für die Wirklichkeit ausgeben kann, bedeutet doch keine Kritik des Gebotes selbst. Dieses aber geht gerade dahin: daß, wenn der Lehrer praktische Wertungen sich nicht versagen zu sollen glaubt, er diese als solche den Schülern und sich selbst absolut deutlich mache.
[498] Was schließlich am allerentschiedensten bekämpft werden muß, ist die nicht seltene Vorstellung: der Weg zur wissenschaftlichen »Objektivität« werde durch ein Abwägen der verschiedenen Wertungen gegeneinander und ein »staatsmännisches« Kompromiß zwischen ihnen betreten. Die »mittlere Linie« ist nicht nur mit den Mitteln empirischer Disziplinen genau ebensowenig wissenschaftlich beweisbar, wie die »extremsten« Wertungen. Sondern in der Wertungssphäre wäre gerade sie normativ am allerwenigsten eindeutig. Auf das Katheder gehört sie nicht, – sondern in die politischen Programme, Bureaus und Parlamente. Die Wissenschaften, normative und empirische, können den politisch Handelnden und den streitenden Parteien nur einen unschätzbaren Dienst leisten, nämlich ihnen zu sagen: 1. es sind die und die verschiedenen »letzten« Stellungnahmen zu diesem praktischen Problem denkbar; – 2. so und so liegen die Tatsachen, mit denen ihr bei eurer Wahl zwischen diesen Stellungnahmen zu rechnen habt. – Damit sind wir bei unserer »Sache«.
Unendliches Mißverständnis und vor allem terminologischer, daher gänzlich steriler, Streit hat sich an das Wort »Werturteil« geknüpft, welches zur Sache offenbar gar nichts austrägt. Es ist, wie eingangs gesagt, ganz unzweideutig, daß es sich bei diesen Erörterungen für unsere Disziplinen um praktische Wertungen sozialer Tatsachen als, unter ethischen oder unter Kulturgesichtspunkten oder aus anderen Gründen, praktisch wünschenswert oder unerwünscht, handelt. Daß die Wissenschaft 1. »wertvolle«, d.h. logisch und sachlich gewertet richtige und 2. »wertvolle«, d.h. im Sinne des wissenschaftlichen Interesses wichtige Resultate zu erzielen wünscht, daß ferner schon die Auswahl des Stoffes eine »Wertung« enthält, – solche Dinge sind trotz alles darüber Gesagten4 allen Ernstes als »Einwände« aufgetaucht. Nicht minder ist das fast unbegreiflich starke Mißverständnis immer wieder entstanden: als ob behauptet würde,[499] daß die empirische Wissenschaft »subjektive« Wertungen von Menschen nicht als Objekt behandeln könne (während doch die Soziologie, in der Nationalökonomie aber die gesamte Grenznutzenlehre auf der gegenteiligen Voraussetzung beruht). Aber es handelt sich doch ausschließlich um die an sich höchst triviale Forderung: daß der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen (einschließlich des von ihm festgestellten »wertenden« Verhaltens der von ihm untersuchten empirischen Menschen) und seine praktisch wertende, d.h. diese Tatsachen (einschließlich etwaiger, zum Objekt einer Untersuchung gemachter »Wertungen« von empirischen Menschen) als erfreulich oder unerfreulich beurteilende, in diesem Sinn: »bewertende« Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten solle, weil es sich da nun einmal um heterogene Probleme handelt. In einer sonst wertvollen Abhandlung führt ein Schriftsteller aus: ein Forscher könne doch auch seine eigene Wertung als »Tatsache« hinnehmen und nun daraus die Konsequenzen ziehen. Das hiermit Gemeinte ist ebenso unbestreitbar richtig wie der gewählte Ausdruck irreführend. Man kann natürlich sich vor einer Diskussion darüber einigen, daß eine bestimmte praktische Maßregel: etwa die Deckung der Kosten einer Heeresvermehrung lediglich aus den Taschen der Besitzenden, »Voraussetzung« der Diskussion sein und lediglich die Mittel, dies durchzuführen, zur Erörterung gestellt werden sollen. Das ist oft recht zweckmäßig. Aber eine solche gemeinsam vorausgesetzte praktische Absicht nennt man doch nicht eine »Tatsache«, sondern einen »a priori feststehenden Zweck«. Daß das auch sachlich zweierlei ist, würde sich sehr bald in der Diskussion der »Mittel« zeigen, es sei denn, daß der als undiskutabel »vorausgesetzte Zweck« so konkret wäre, wie der: sich jetzt eine Zigarre anzuzünden. Dann sind freilich auch die Mittel einer Diskussion nur selten bedürftig. In fast jedem Falle einer allgemeiner formulierten Absicht, z.B. in dem vorhin als Beispiel gewählten, wird man dagegen die Erfahrung machen: daß bei der Diskussion der Mittel nicht nur sich zeigt, daß die Einzelnen unter jenem vermeintlich eindeutigen Zweck ganz Verschiedenes verstanden haben. Sondern insbesondere kann sich ergeben: daß der genau gleiche Zweck aus sehr verschiedenen letzten Gründen gewollt wird und daß dies auf die Diskussion der Mittel von Einfluß ist. Doch dies beiseite. Denn daß man von einem bestimmten Zweck als gemeinsam gewollt[500] ausgehen und nur die Mittel, ihn zu erreichen, diskutieren kann und daß dies dann eine rein empirisch zu erledigende Diskussion ergeben kann, – das ist wohl noch nie jemandem zu bestreiten eingefallen. Aber gerade um die Wahl der Zwecke (und nicht: der »Mittel« bei fest gegebenem Zweck), gerade darum also, in welchem Sinn die Wertung, die der Einzelne zugrunde legt, eben nicht als »Tatsache« hingenommen, sondern zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Kritik gemacht werden könne, dreht sich ja die ganze Erörterung. Wenn dies nicht festgehalten wird, so ist alle weitere Auseinandersetzung vergeblich. –
Gar nicht zur Diskussion steht eigentlich die Frage: inwieweit praktische Wertungen, insbesondere also: ethische, ihrerseits normative Dignität beanspruchen dürfen, also anderen Charakter haben als z.B. die als Beispiel angeführte Frage: ob Blondinen den Brünetten vorzuziehen seien, oder als ähnlich subjektive Geschmacksurteile. Das sind Probleme der Wertphilosophie, nicht der Methodik der empirischen Disziplinen. Worauf allein es für diese ankommt, ist: daß einerseits die Geltung eines praktischen Imperativs als Norm und andererseits die Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung in absolut heterogenen Ebenen der Problematik liegen und daß der spezifischen Dignität jeder von beiden Abbruch getan wird, wenn man dies verkennt und beide Sphären zusammenzuzwingen sucht. Dies ist meines Erachtens in starkem Maße geschehen, insbesondere durch Professor von Schmoller5. Gerade die Verehrung für unseren Meister verbietet es, diese Punkte, wo ich glaube, ihm nicht beipflichten zu dürfen, zu übergehen.
Zunächst möchte ich mich dagegen wenden, daß den Anhängern der »Wertfreiheit« die bloße Tatsache des historischen und individuellen Schwankens der jeweils geltenden wertenden Stellungnahmen als Beweis für den notwendig nur »subjektiven« Charakter z.B. der Ethik gelte. Auch empirische Tatsachenfeststellungen sind oft sehr umstritten, und darüber, ob man jemanden für einen Schurken zu halten habe, kann oft eine wesentlich größere allgemeine Uebereinstimmung herrschen als (gerade bei den Fachleuten) etwa über die Frage der Deutung einer verstümmelten Inschrift. Die nach Schmollers Annahme zunehmende[501] konventionelle Einmütigkeit aller Konfessionen und Menschen über die Hauptpunkte der praktischen Wertungen steht in schroffem Gegensatz zu meinem entgegengesetzten Eindruck. Allein das scheint mir ohne Belang für die Sache. Denn was jedenfalls zu bestreiten ist, wäre: daß man sich bei irgendeiner solchen durch Konvention geschaffenen faktischen Selbstverständlichkeit gewisser noch so weit verbreiteter praktischer Stellungnahmen wissenschaftlich beruhigen dürfe. Die spezifische Funktion der Wissenschaft scheint mir gerade umgekehrt: daß ihr das konventionell Selbstverständliche zum Problem wird. Gerade dies haben ja Schmoller und seine Freunde selbst s.Z. getan. Daß man ferner die kausale Wirkung des faktischen Bestehens gewisser ethischer oder religiöser Ueberzeugungen auf das Wirtschaftsleben untersucht und unter Umständen hoch veranschlagt, hat doch nicht etwa die Folge: daß man nun jene kausal vielleicht sehr wirksam gewesenen Ueberzeugungen um deswillen auch zu teilen habe oder auch nur für »wertvoll« halten müsse, wie umgekehrt durch Bejahung des hohen Werts einer ethischen oder religiösen Erscheinung nicht das geringste darüber ausgesagt ist, ob auch die ungewohnten Folgen, die ihre Verwirklichung gehabt hat oder haben würde, mit dem gleichen positiven Wertprädikat zu versehen wären. Ueber diese Fragen ist durch tatsächliche Feststellungen gar nichts auszumachen, und sie würde der Einzelne sehr verschieden beurteilen müssen, je nach seinen eigenen religiösen und anderen praktischen Wertungen. Das alles gehört gar nicht zur Streitfrage. Dagegen bestreite ich sehr nachdrücklich: daß eine »realistische« Wissenschaft vom Ethischen, d.h. die Aufzeigung der faktischen Einflüsse, welche die jeweilig in einer Gruppe von Menschen vorwiegenden ethischen Ueberzeugungen durch deren sonstige Lebensbedingungen erfahren und umgekehrt wieder auf diese geübt haben, ihrerseits eine »Ethik« ergebe, welche jemals über das Geltensollende etwas aussagen könne. So wenig wie eine »realistische« Darstellung der astronomischen Vorstellungen etwa der Chinesen, – welche also aufzeigt, aus welchen praktischen Motiven und wie sie Astronomie betrieben, zu welchen Ergebnissen und warum sie zu diesen kamen, – jemals die Richtigkeit dieser chinesischen Astronomie zu erweisen zum Ziele haben könnte. Und so wenig wie die Feststellung, daß die römischen Agrimensoren oder die Florentiner Bankiers (die letzteren[502] selbst bei Erbteilungen von ganz großen Vermögen) mit ihren Methoden recht oft zu Resultaten kamen, welche mit der Trigonometrie oder dem Einmaleins unvereinbar sind, etwa die Geltung dieser letzteren zur Diskussion stellt. Durch empirischpsychologische und historische Untersuchung eines bestimmten Wertungsstandpunktes auf seine individuelle, soziale, historische Bedingtheit hin gelangt man nun und nimmer je zu irgend etwas anderem, als dazu: ihn verstehend zu erklären. Das ist nichts Geringes. Es ist nicht nur wegen des persönlichen (aber nicht wissenschaftlichen) Nebenerfolgs: dem wirklich oder scheinbar Andersdenkenden persönlich leichter »gerecht werden« zu können, erwünscht. Sondern es ist auch wissenschaftlich höchst wichtig 1. für den Zweck einer empirischen Kausalbetrachtung menschlichen Handelns, um dessen wirkliche letzte Motive kennen zu lernen, 2. aber, wenn man mit einem (wirklich oder scheinbar) abweichend Wertenden diskutiert, für die Ermittlung der wirklichen gegenseitigen Wertungsstandpunkte. Denn dies ist der eigentliche Sinn einer Wertdiskussion: das, was der Gegner (oder auch: man selbst) wirklich meint, d.h. den Wert, auf den es jedem der beiden Teile wirklich und nicht nur scheinbar ankommt, zu erfassen und so zu diesem Wert eine Stellungnahme überhaupt erst zu ermöglichen. Weit entfernt [davon] also, daß vom Standpunkt der Forderung der »Wertfreiheit« empirischer Erörterungen aus Diskussionen von Wertungen steril oder gar sinnlos wären, ist gerade die Erkenntnis dieses ihres Sinnes Voraussetzung aller nützlichen Erörterungen dieser Art. Sie setzen einfach das Verständnis für die Möglichkeit prinzipiell und unüberbrückbar abweichender letzter Wertungen voraus. Denn weder bedeutet »alles verstehen« auch »alles verzeihen«, noch führt überhaupt vom bloßen Verstehen des fremden Standpunktes an sich ein Weg zu dessen Billigung. Sondern mindestens ebenso leicht, oft mit weit höherer Wahrscheinlichkeit, zu der Erkenntnis: daß, warum und worüber, man sich nicht einigen könne. Gerade diese Erkenntnis ist aber eine Wahrheitserkenntnis und gerade ihr dienen »Wertungsdiskussionen«. Was man dagegen auf diesem Wege ganz gewiß nicht gewinnt – weil es in der gerade entgegengesetzten Richtung liegt –, ist irgendeine normative Ehtik oder überhaupt die Verbindlichkeit irgendeines »Imperativs«. Jedermann weiß vielmehr, daß ein solches Ziel durch die,[503] zum mindesten dem Anschein nach, »relativierende« Wirkung solcher Diskussionen eher erschwert wird. Damit ist natürlich nun wieder nicht gesagt: daß man um deswillen sie vermeiden solle. Im geraden Gegenteil. Denn eine »ethische« Ueberzeugung, welche durch psychologisches »Verstehen« abweichender Wertungen sich aus dem Sattel heben läßt, ist nur ebensoviel wert gewesen wie religiöse Meinungen, welche durch wissenschaftliche Erkenntnis zerstört werden, wie dies ja ebenfalls vorkommt. Wenn schließlich Schmoller annimmt, daß die Verfechter der »Wertfreiheit« der empirischen Disziplinen nur »formale« ethische Wahrheiten (gemeint ist offenbar: im Sinn der Kritik der praktischen Vernunft) anerkennen könnten, so möge darauf – obwohl das Problem nicht unbedingt zur Sache gehört – mit einigen Erörterungen eingegangen sein.
Zunächst ist die in Schmollers Auffassung liegende Identifikation von ethischen Imperativen mit »Kulturwerten«, auch den höchsten, abzulehnen. Denn es kann einen Standpunkt geben, für den Kulturwerte »aufgegeben« sind, auch soweit sie mit jeglicher Ethik in unvermeidlichem, unaustragbarem Konflikt liegen. Und umgekehrt ist eine Ehtik, die alle Kulturwerte ablehnt, ohne inneren Widerspruch möglich. Jedenfalls aber sind beide Wertsphären nicht identisch. Ebenso ist es ein schweres (freilich weitverbreitetes) Mißverständnis, wenn geglaubt wird: »formale« Sätze wie etwa die der Kantischen Ethik enthielten keine inhaltlichen Weisungen. Die Möglichkeit einer normativen Ethik wird allerdings dadurch nicht in Frage gestellt, daß es Probleme praktischer Art gibt, für welche sie aus sich selbst heraus keine eindeutigen Weisungen geben kann (und dahin gehören, wie ich glaube, in ganz spezifischer Art bestimmte institutionelle, daher gerade »sozialpolitische« Probleme) und daß ferner die Ethik nicht das Einzige ist, was auf der Welt »gilt«, sondern daß neben ihr andere Wertsphären bestehen, deren Werte unter Umständen nur der realisieren kann, welcher ethische »Schuld« auf sich nimmt. Dahin gehört speziell die Sphäre politischen Handelns. Es wäre m. E. schwächlich, die Spannungen gegen das Ethische, welche gerade sie enthält, leugnen zu wollen. Aber es ist dies keineswegs, wie die übliche Entgegensetzung »privater« und »politischer« Moral glauben macht, nur ihr eigentümlich. – Gehen wir einige der vorstehend bezeichneten »Grenzen« der Ethik durch.
[504] Zu den von keiner Ethik eindeutig entscheidbaren Fragen gehören die Konsequenzen des Postulates der »Gerechtigkeit«. Ob man z.B. – wie dies wohl Schmollers seinerzeit geäußerten Anschauungen am ehesten entsprechen würde – dem, der viel leistet, auch viel schuldet, oder umgekehrt von dem, der viel leisten kann, auch viel fordert, ob man also z.B. im Namen der Gerechtigkeit (denn andere Gesichtspunkte – etwa der des nötigen »Ansporns« – haben dann auszuscheiden) dem großen Talent auch große Chancen gönnen solle, oder ob man umgekehrt (wie Babeuf) die Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung der geistigen Gaben auszugleichen habe durch strenge Vorsorge dafür, daß das Talent, dessen bloßer Besitz ja schon ein beglückendes Prestigegefühl geben könne, nicht auch noch seine besseren Chancen in der Welt für sich ausnützen könne: – dies dürfte aus »ethischen« Prämissen unaustragbar sein. Diesem Typus entspricht aber die ethische Problematik der meisten sozial-politischen Fragen. –
Aber auch auf dem Gebiet des persönlichen Handelns gibt es ganz spezifisch ethische Grundprobleme, welche die Ethik aus eigenen Voraussetzungen nicht austragen kann. Dahin gehört vor allem die Grundfrage: ob der Eigenwert des ethischen Handelns – der »reine Wille« oder die »Gesinnung«, pflegt man das auszudrücken – allein zu seiner Rechtfertigung genügen soll, nach der Maxime: »der Christ handelt recht und stellt den Erfolg Gott anheim«, wie christliche Ethiker sie formuliert haben. Oder ob die Verantwortung für die als möglich oder wahrscheinlich vorauszusehenden Folgen des Handelns, wie sie dessen Verflochtenheit in die ethisch irrationale Welt bedingt, mit in Betracht zu ziehen ist. Auf sozialem Gebiet geht alle radikal revolutionäre politische Haltung, der sog. »Syndikalismus« vor allem, von dem ersten, alle »Realpolitik« von dem letzten Postulat aus. Beide berufen sich auf ethische Maximen. Aber diese Maximen liegen untereinander in ewigem Zwist, der mit den Mitteln einer rein in sich selbst beruhenden Ethik schlechthin unaustragbar ist.
Diese beiden ethischen Maximen sind solche von streng »formalem« Charakter, darin ähnlich den bekannten Axiomen der »Kritik der praktischen Vernunft«. Von letzteren wird um dieses Charakters willen vielfach geglaubt, sie enthielten inhaltliche Weisungen zur Bewertung des Handelns überhaupt nicht. Das trifft, wie gesagt, keineswegs zu. Nehmen wir absichtlich ein[505] möglichst weit von aller »Politik« abliegendes Beispiel, welches vielleicht verdeutlichen kann, welchen Sinn dieser vielberedete »nur formale« Charakter jener Ethik eigentlich hat. Angenommen, ein Mann sagt mit Bezug auf seine erotische Beziehung zu einer Frau: »Anfänglich war unser beider Verhältnis nur eine Leidenschaft, jetzt ist es ein Wert«, – so würde die kühl temperierte Sachlichkeit der Kantischen Ethik die erste Hälfte dieses Satzes so ausdrücken: »Anfänglich waren wir beide einander nur Mittel« – und damit den ganzen Satz als einen Sonderfall jenes bekannten Prinzips in Anspruch neh men, welches man seltsamerweise gern als einen rein zeitgeschichtlich bedingten Ausdruck des »Individualismus« hingestellt hat, während es in Wahrheit eine überaus geniale Formulierung einer unermeßlichen Vielheit ethischer Sachverhalte bedeutet, die man nur eben richtig verstehen muß. In ihrer negativen Fassung und in der Ausschaltung jeglicher Aussage darüber: was denn das positive Gegenteil der ethisch abzulehnenden Behandlung des anderen »nur als Mittel« sei, enthält sie offensichtlich 1. die Anerkennung außerethischer selbständiger Wertsphären, – 2. die Begrenzung der ethischen Sphäre diesen gegenüber, – endlich 3. die Feststellung, daß und in welchem Sinn dem Handeln im Dienst außerethischer Werte dennoch Unterschiede der ethischen Dignität anzuhaften vermögen. Tatsächlich sind jene Sphären von Werten, welche die Behandlung des andern »nur als Mittel« gestatten oder vorschreiben, der Ethik gegenüber heterogen. Es kann das hier nicht weiter verfolgt werden: jedenfalls aber zeigt sich, daß der »formale« Charakter selbst jenes höchst abstrakten ethischen Satzes gegen den Inhalt des Handelns nicht etwa indifferent bleibt. – Nun aber kompliziert sich das Problem weiter. Jenes negative Prädikat selbst, welches mit den Worten »nur eine Leidenschaft« ausgesprochen wurde, kann von einem bestimmten Standpunkt aus als eine Lästerung des innerlich Echtesten und Eigentlichsten des Lebens hingestellt werden, des einzigen oder doch des königlichen Weges hinaus aus den unpersönlichen oder überpersönlichen und daher lebensfeindlichen »Wert«-Mechanismen, aus dem Angeschmiedetsein an das leblose Gestein des Alltagsdaseins und aus den Prätensionen »aufgegebener« Unwirklichkeiten. Es läßt sich jedenfalls eine Konzeption dieser Auffassung denken, welche – obwohl sie für das von ihr gemeinte Konkretissimum des Erlebens den Ausdruck »Wert« wohl verschmähen[506] würde – eben doch eine Sphäre konstituieren würde, welche, jeder Heiligkeit oder Güte, jeder ethischen oder ästhetischen Gesetzlichkeit, jeder Kulturbedeutsamkeit oder Persönlichkeitswertung gleich fremd und feindlich gegenüberstehend, dennoch und eben deshalb ihre eigene, in einem alleräußersten Sinn des Wortes »immanente« Dignität in Anspruch nähme. Welches immer nun unsere Stellungnahme zu diesem Anspruch sein mag, jedenfalls ist sie mit den Mitteln keiner »Wissenschaft« beweisbar oder »widerlegbar«.
Jede empirische Betrachtung dieser Sachverhalte würde, wie der alte Mill bemerkt hat, zur Anerkennung des absoluten Polytheismus als der einzigen ihnen entsprechenden Metaphysik führen. Eine nicht empirische, sondern sinndeutende Betrachtung: eine echte Wertphilosophie also, würde ferner, darüber hinausgehend, nicht verkennen dürfen, daß ein noch so wohlgeordnetes Begriffsschema der »Werte« gerade dem entscheidendsten Punkt des Tatbestandes nicht gerecht würde. Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen »Gott« und »Teufel«. Zwischen diesen gibt es keine Relativierungen und Kompromisse. Wohlgemerkt: dem Sinn nach nicht. Denn es gibt sie, wie jedermann im Leben erfährt, der Tatsache und folglich dem äußeren Schein nach, und zwar auf Schritt und Tritt. In fast jeder einzelnen wichtigen Stellungnahme realer Menschen kreuzen und verschlingen sich ja die Wertsphären. Das Verflachende des »Alltags« in diesem eigentlichsten Sinn des Wortes besteht ja gerade darin: daß der in ihm dahinlebende Mensch sich dieser teils psychologisch, teils pragmatisch bedingten Vermengung todfeindlicher Werte nicht bewußt wird und vor allem: auch gar nicht bewußt werden will, daß er sich vielmehr der Wahl zwischen »Gott« und »Teufel« und der eigenen letzten Entscheidung darüber: welcher der kollidierenden Werte von dem Einen und welcher von dem Andern regiert werde, entzieht. Die aller menschlichen Bequemlichkeit unwillkommene, aber unvermeidliche Frucht vom Baum der Erkenntnis ist gar keine andere als eben die: um jene Gegensätze wissen und also sehen zu müssen, daß jede einzelne wichtige Handlung und daß vollends das Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahingleiten, sondern bewußt geführt werden soll, eine Kette letzter Entscheidungen[507] bedeutet, durch welche die Seele, wie bei Platon, ihr eigenes Schicksal: – den Sinn ihres Tuns und Seins heißt das – wählt. Wohl das gröblichste Mißverständnis, welches den Absichten der Vertreter der Wertkollision gelegentlich immer wieder zuteil geworden ist, enthält daher die Deutung dieses Standpunkts als »Relativismus«, – als einer Lebensanschauung also, die gerade auf der radikal entgegengesetzten Ansicht vom Verhältnis der Wertsphären zueinander beruht und (in konsequenter Form) nur auf dem Boden einer sehr besonders gearteten (»organischen«) Metaphysik sinnvoll durchführbar ist. –
Kehren wir zu unserem Spezialfall zurück, so scheint mir ohne die Möglichkeit eines Zweifels feststellbar: daß auf dem Gebiet der praktisch-politischen (speziell also auch der wirtschafts- und sozialpolitischen) Wertungen, sobald daraus Direktiven für ein wertvolles Handeln abgeleitet werden sollen: 1. die unvermeidlichen Mittel und 2. die unvermeidlichen Nebenerfolge, 3. die dadurch bedingte Konkurrenz mehrerer möglicher Wertungen miteinander in ihren praktischen Konsequenzen das einzige sind, was eine empirische Disziplin mit ihren Mitteln aufzeigen kann. Philosophische Disziplinen können darüber hinaus mit ihren Denkmitteln den »Sinn« der Wertungen, also ihre letzte sinnhafte Struktur und ihre sinnhaften Konsequenzen ermitteln, ihnen also den »Ort« innerhalb der Gesamtheit der überhaupt möglichen »letzten« Werte anweisen und ihre sinnhaften Geltungssphären abgrenzen. Schon so einfache Fragen aber, wie die: inwieweit ein Zweck die unvermeidlichen Mittel heiligen solle, wie auch die andere: inwieweit die nicht gewollten Nebenerfolge in Kauf genommen werden sollen, wie vollends die dritte, wie Konflikte zwischen mehreren in concreto kollidierenden, gewollten oder gesollten Zwecken zu schlichten seien, sind ganz und gar Sache der Wahl oder des Kompromisses. Es gibt keinerlei (rationales oder empirisches) wissenschaftliches Verfahren irgendwelcher Art, welches hier eine Entscheidung geben könnte. Am allerwenigsten kann diese Wahl unsere streng empirische Wissenschaft dem Einzelnen zu ersparen sich anmaßen, und sie sollte daher auch nicht den Anschein erwecken, es zu können. –
Ausdrücklich sei schließlich aber noch bemerkt: daß die Anerkennung dieses Sachverhalts für unsere Disziplinen von der Stellungnahme zu den vorstehend in größter[508] Kürze angedeuteten werttheoretischen Ausführungen vollständig unabhängig ist. Denn es gibt eben überhaupt keinen logisch haltbaren Standpunkt, von dem aus man ihn ablehnen könnte, außer dem einer durch kirchliche Dogmen eindeutig vorgeschriebenen Rangfolge der Werte. Ich muß abwarten, ob sich wirklich Leute finden, welche behaupten, daß die Fragen: ob eine konkrete Tatsache sich so oder anders verhält?, warum der betreffende konkrete Sachverhalt so und nicht anders geworden ist?, ob auf einen gegebenen Sachverhalt nach einer Regel des faktischen Geschehens ein anderer Sachverhalt, und mit welchem Grade von Wahrscheinlichkeit, zu folgen pflegt? – dem Sinn nach nicht grundverschieden seien von den Fragen: was man in einer konkreten Situation praktisch tun solle?, unter welchen Gesichtspunkten jene Situation praktisch erfreulich oder unerfreulich erscheinen könne?, ob es – wie immer geartete – allgemein formulierbare Sätze (Axiome) gebe, auf welche sich diese Gesichtspunkte reduzieren lassen?; – ferner: daß einerseits die Frage: in welcher Richtung sich eine konkret gegebene tatsächliche Situation (oder generell: eine Situation eines bestimmten, irgendwie hinlänglich bestimmten Typus) mit Wahrscheinlichkeit, und mit wie großer Wahrscheinlichkeit sie sich in jener Richtung entwickeln werde (bzw. typisch zu entwickeln pflege)?, und die andere Frage: ob man dazu beitragen solle, daß eine bestimmte Situation sich in einer bestimmten Richtung – sei es der an sich wahrscheinlichen, sei es der gerade entgegengesetzten oder irgendeiner anderen – entwickelt?; – endlich, daß einerseits die Frage: welche Ansicht sich bestimmte Personen unter konkreten, oder eine unbestimmte Vielheit von Personen sich unter gleichen, Umständen über ein Problem welcher Art immer mit Wahrscheinlichkeit (oder selbst mit Sicherheit) bilden werden?, und andererseits die Frage: ob diese mit Wahrscheinlichkeit oder Sicherheit entstehende Ansicht richtig sei?, – daß die Fragen jedes dieser Gegensatzpaare miteinander dem Sinn nach auch nur das mindeste zu tun haben?, daß sie wirklich, wie immer einmal wieder behauptet wird, »voneinander nicht zu trennen« seien?, daß diese letztere Behauptung nicht mit den Anforderungen des wissenschaftlichen Denkens im Widerspruche stehe? Ob dagegen jemand, der die absolute Heterogenität beider Arten von Fragen zugibt, dennoch für sich in Anspruch nimmt: in einem und demselben Buch, auf[509] einer und derselben Seite, ja in einem Haupt- und Nebensatz einer und derselben syntaktischen Einheit sich einerseits über das eine und andererseits über das andere der beiden heterogenen Probleme zu äußern, – das ist seine Sache. Was von ihm zu verlangen ist, ist lediglich: daß er seine Leser über die absolute Heterogenität der Probleme nicht unabsichtlich (oder auch aus absichtsvoller Pikanterie) täusche. Persönlich bin ich der Ansicht, daß kein Mittel der Welt zu »pedantisch« ist, um nicht zur Vermeidung von Konfusionen am Platze zu sein.
Der Sinn von Diskussionen über praktische Wertungen (der an der Diskussion Beteiligten selbst) kann also nur sein:
a) Die Herausarbeitung der letzten, innerlich »konsequenten« Wertaxiome, von denen die einander entgegengesetzten Meinungen ausgehen. Nicht nur über die der Gegner, sondern auch über die eigenen täuscht man sich oft genug. Diese Prozedur ist dem Wesen nach eine von der Einzelwertung und ihrer sinnhaften Analyse ausgehende, immer höher zu immer prinzipielleren wertenden Stellungnahmen aufsteigende Operation. Sie operiert nicht mit den Mitteln einer empirischen Disziplin und zeitigt keine Tatsachenerkenntnis. Sie »gilt« in gleicher Art wie die Logik.
b) Die Deduktion der »Konsequenzen« für die wertende Stellungnahme, welche aus bestimmten letzten Wertaxiomen folgen würden, wenn man sie, und nur sie, der praktischen Bewertung von faktischen Sachverhalten zugrunde legte. Sie ist rein sinnhaft in bezug auf die Argumentation, dagegen an empirische Feststellungen gebunden für die möglichst erschöpfende Kasuistik derjenigen empirischen Sachverhalte, welche für eine praktische Bewertung überhaupt in Betracht kommen können.
c) Die Feststellung der faktischen Folgen, welche die praktische Durchführung einer bestimmten praktisch wertenden Stellungnahme zu einem Problem haben müßte: 1. infolge der Gebundenheit an bestimmte unvermeidliche Mittel, – 2. infolge der Unvermeidlichkeit bestimmter, nicht direkt gewollter Nebenerfolge. Diese rein empirische Feststellung kann u.a. als Ergebnis haben: 1. die absolute Unmöglichkeit irgendeiner auch noch so entfernt annäherungsweisen Durchführung des Wertpostulates, weil keinerlei Wege seiner Durchführung zu ermitteln sind; – 2. die mehr oder minder große Unwahrscheinlichkeit seiner vollen oder auch nur annäherungsweisen[510] Durchführung, entweder aus dem gleichen Grunde oder weil die Wahrscheinlichkeit des Eintretens ungewollter Nebenerfolge besteht, welche direkt oder indirekt die Durchführung illusorisch zu machen geeignet sind; – 3. die Notwendigkeit, solche Mittel oder solche Nebenerfolge mit in Kauf zu nehmen, welche der Vertreter des betreffenden praktischen Postulats nicht in Betracht gezogen hatte, so, daß seine Wertentscheidung zwischen Zweck, Mittel und Nebenerfolg ihm selbst zu einem neuen Problem wird und an zwingender Gewalt auf andere einbüßt. – Endlich können dabei
d) neue Wertaxiome und daraus zu folgernde Postulate vertreten werden, welche der Vertreter eines praktischen Postulats nicht beachtet und zu denen er infolgedessen nicht Stellung genommen hatte, obwohl die Durchführung seines eignen Postulats mit jenen anderen entweder 1. prinzipiell oder 2. infolge der praktischen Konsequenzen, also: sinnhaft oder praktisch, kollidiert. Im Fall 1 handelt es sich bei der weiteren Erörterung um Probleme des Typus a, im Falle 2 des Typus c.
Sehr weit entfernt davon also, »sinnlos« zu sein, haben Wertungsdiskussionen dieses Typus, gerade wenn sie in ihren Zwecken richtig verstanden werden, und m. E. nur dann, ihren sehr erheblichen Sinn.
Der Nutzen einer Diskussion praktischer Wertungen, an der richtigen Stelle und im richtigen Sinne, ist aber mit solchen direkten »Ergebnissen«, die sie zeitigen kann, keineswegs erschöpft. Sie befruchtet vielmehr, wenn richtig geführt, die empirische Arbeit auf das Nachhaltigste, indem sie ihr die Fragestellungen für ihre Arbeit liefert.
Die Problemstellungen der empirischen Disziplinen sind zwar ihrerseits »wertfrei« zu beantworten. Sie sind keine »Wertprobleme«. Aber sie stehen im Bereich unserer Disziplinen unter dem Einfluß der Beziehung von Realitäten »auf« Werte. Ueber die Bedeutung des Ausdruckes »Wertbeziehung« muß ich mich auf eigene frühere Aeußerungen und vor allem auf die bekannten Arbeiten von H. Rickert beziehen. Es wäre unmöglich, das hier nochmals vorzutragen. Es sei daher nur daran erinnert, daß der Ausdruck »Wertbeziehung« lediglich die philosophische Deutung desjenigen spezifisch wissenschaftlichen »Interesses« meint, welches die Auslese und Formung des Objektes einer empirischen Untersuchung beherrscht.
[511] Innerhalb der empirischen Untersuchung werden durch diesen rein logischen Sachverhalt jedenfalls keinerlei »praktische Wertungen« legitimiert. Wohl aber ergibt jener Sachverhalt in Uebereinstimmung mit der geschichtlichen Erfahrung, daß Kultur- und das heißt: Wertinteressen es sind, welche auch der rein empirisch-wissenschaftlichen Arbeit die Richtung weisen. Es ist nun klar, daß diese Wertinteressen durch Wertdiskussionen in ihrer Kasuistik sich entfalten können. Diese können dem wissenschaftlich, insbesondere dem historisch arbeitenden, Forscher vor allem die Aufgabe der »Wertinterpretation«: für ihn eine höchst wichtige Vorarbeit seiner eigentlich empirischen Arbeit, weitgehend abnehmen oder doch erleichtern. Da die Unterscheidung nicht nur von Wertung und Wertbeziehung, sondern auch von Wertung und Wertinterpretation (das heißt: Entwicklung möglicher sinnhafter Stellungnahmen gegenüber einer gegebenen Erscheinung) vielfach nicht klar vollzogen wird und namentlich für die Würdigung des logischen Wesens der Geschichte dadurch Unklarheiten entstehen, so verweise ich in dieser Hinsicht auf die Bemerkungen auf S. 245 ff. dieser Sammlung6 (ohne diese übrigens für irgendwie abschließend auszugeben). –
Statt einer nochmaligen Erörterung dieser methodologischen Grundprobleme möchte ich einige für unsere Disziplinen praktisch wichtige Einzelpunkte näher besprechen.
Der Glaube ist noch immer verbreitet, daß man Weisungen für praktische Wertungen aus »Entwicklungstendenzen« ableiten solle, müsse oder doch: könne. Allein aus noch so eindeutigen »Entwicklungstendenzen« sind eindeutige Imperative des Handelns doch nur bezüglich der voraussichtlich geeignetsten Mittel bei gegebener Stellungnahme, nicht aber bezüglich jener Stellungnahme selbst zu gewinnen. Dabei ist freilich der Begriff des »Mittels« der denkbar weiteste. Wem etwa staatliche Machtinteressen ein letztes Ziel wären, der müßte je nach der gegebenen Situation sowohl eine absolutistische wie eine radikal-demokratische Staatsverfassung für das (relativ) geeignetere Mittel ansehen, und es wäre höchst lächerlich, einen etwaigen Wechsel in der Bewertung dieser staatlichen Zweckapparate als Mittel für einen Wechsel in der »letzten« Stellungnahme selbst anzusehen. Selbstverständlich aber ist es nun ferner, wie früher schon gesagt, für den Einzelnen ein stets erneut auftauchendes Problem:[512] ob er die Hoffnung auf Realisierbarkeit seiner praktischen Wertungen aufzugeben habe angesichts seiner Erkenntnis des Bestehens einer eindeutigen Entwicklungstendenz, welche die Durchsetzung des von ihm Erstrebten an die Bedingung der Verwendung neuer, eventuell ihm sittlich oder sonst bedenklich erscheinender Mittel oder an das Inkaufnehmen von ihm perhorreszierter Nebenerfolge knüpft, oder sie derart unwahrscheinlich macht, daß seine Arbeit daran, an der Chance des Erfolgs bewertet, als sterile »Donquixoterie« erscheinen müßte. – Aber die Erkenntnis von solchen mehr oder minder schwer abänderlichen »Entwicklungstendenzen« nimmt darin schlechterdings keine Sonderstellung ein. Jede einzelne neue Tatsache kann ebensogut die Konsequenz haben, daß der Ausgleich zwischen Zweck und unvermeidlichem Mittel, gewolltem Ziel und unvermeidlichem Nebenerfolg neu zu vollziehen ist. Allein ob und mit welchen praktischen Schlußfolgerungen dies zu geschehen habe, ist nicht nur keine Frage einer empirischen, sondern, wie gesagt, überhaupt keiner wie immer gearteten Wissenschaft. Man mag z.B. dem überzeugten Syndikalisten noch so handgreiflich beweisen, daß sein Tun nicht nur sozial »nutzlos« sei, d.h. daß es keinen Erfolg für die Aenderung der äußeren Klassenlage des Proletariats verspreche, ja daß es diese durch Erzeugung »reaktionärer« Stimmungen unweigerlich verschlechtere, so ist damit für ihn – wenn er sich wirklich zu den letzten Konsequenzen seiner Ansicht bekennt – gar nichts bewiesen. Und zwar nicht, weil er ein Irrsinniger wäre, sondern weil er von seinem Standpunkt aus »recht« haben kann – wie gleich zu erörtern. Im ganzen neigen die Menschen hinlänglich stark dazu, sich dem Erfolg oder dem jeweilig Erfolg Versprechenden innerlich anzupassen, nicht nur – was selbstverständlich ist – in den Mitteln oder in dem Maße, wie sie ihre letzten Ideale jeweils zu realisieren trachten, sondern in der Preisgabe dieser selbst. In Deutschland glaubt man dies mit dem Namen »Realpolitik« schmücken zu dürfen. Es ist jedenfalls nicht einzusehen, warum gerade die Vertreter einer empirischen Wissenschaft das Bedürfnis fühlen sollten, dies noch zu unterstützen, indem sie sich als Beifallssalve der jeweiligen »Entwicklungstendenz« konstituieren und die »Anpassung« an diese aus einem letzten, nur vom Einzelnen im Einzelfall zu lösenden, also auch dem Einzelnen ins Gewissen zu schiebenden Wertungsproblem[513] zu einem durch die Autorität einer »Wissenschaft« angeblich gedeckten Prinzip machen.
Es ist – richtig verstanden – zutreffend, daß eine erfolgreiche Politik stets die »Kunst des Möglichen« ist. Nicht minder richtig aber ist, daß das Mögliche sehr oft nur dadurch erreicht wurde, daß man nach dem jenseits seiner liegenden Unmöglichen griff. Es ist schließlich doch nicht die einzige wirklich konsequente Ethik der »Anpassung« an das Mögliche: die Bureaukratenmoral des Konfuzianismus, gewesen, welche die vermutlich von uns allen trotz aller sonstigen Differenzen (subjektiv) mehr oder minder positiv geschätzten spezifischen Qualitäten gerade unserer Kultur geschaffen hat. Daß, wie weiter oben ausgeführt, neben dem »Erfolgswert« einer Handlung ihr »Gesinnungswert« stehe, möchte wenigstens ich der Nation nicht gerade im Namen der Wissenschaft systematisch aberzogen wissen. Jedenfalls aber hindert die Verkennung dieses Sachverhalts das Verständnis der Realitäten. Denn um bei dem vorhin als Beispiel angezogenen Syndikalisten zu bleiben: es ist auch logisch eine Sinnlosigkeit, ein Verhalten, welches – wenn konsequent – als Richtschnur den »Gesinnungswert« nehmen muß, zum Zweck der »Kritik« lediglich mit seinem »Erfolgswert« zu konfrontieren. Der wirklich konsequente Syndikalist will ja lediglich eine bestimmte, ihm schlechthin wertvoll und heilig scheindende Gesinnung sowohl in sich selbst erhalten als, wenn möglich, in Anderen wecken. Seine äußeren, gerade die von vornherein zu noch so absoluter Erfolglosigkeit verurteilten, Handlungen haben letztlich den Zweck, ihm selbst vor seinem eigenen Forum die Gewißheit zu geben, daß diese Gesinnung echt ist, d.h. die Kraft hat, sich in Handlungen zu »bewähren«, und nicht ein bloßes Bramarbasieren. Dafür gibt es (vielleicht) in der Tat nur das Mittel solcher Handlungen. Im übrigen ist – wenn er konsequent ist – sein Reich, wie das Reich jeder Gesinnungsethik, nicht von dieser Welt. »Wissenschaftlich« läßt sich lediglich feststellen, daß diese Auffassung seiner eigenen Ideale die einzig innerlich folgerichtige, durch äußere »Tatsachen« nicht widerlegbare ist. Ich möchte glauben, daß damit sowohl Anhängern wie Gegnern des Syndikalismus ein Dienst, und zwar genau der geleistet wäre, den sie mit Recht von der Wissenschaft verlangen. Mit dem »einerseits – andrerseits« von sieben Gründen »für« und sechs Gründen »gegen« eine bestimmte Erscheinung (etwa:[514] den Generalstreik) und deren Abwägung gegeneinander nach Art der alten Kameralistik und etwa moderner chinesischer Denkschriften scheint mir dagegen im Sinn keiner wie immer gearteten Wissenschaft etwas gewonnen. Mit jener Reduktion des syndikalistischen Standpunkts auf seine möglichst rationale und innerlich konsequente Form und mit der Feststellung seiner empirischen Entstehungsbedingungen, Chancen und erfahrungsgemäßen praktischen Folgen ist vielmehr die Aufgabe jedenfalls der wertungsfreien Wissenschaft ihm gegenüber erschöpft. Daß man ein Syndikalist sein solle oder nicht sein solle, läßt sich ohne sehr bestimmte metaphysische Prämissen, welche nicht, und zwar in diesem Fall durch keine wie immer geartete Wissenschaft demonstrabel sind, niemals beweisen. Auch daß ein Offizier sich mit seiner Schanze lieber in die Luft sprengt, als sich zu ergeben, kann im Einzelfall recht gut in jeder Hinsicht, am Erfolg gemessen, absolut nutzlos sein. Nicht gleichgültig aber dürfte sein, ob die Gesinnung, die das, ohne nach dem Nutzen zu fragen, tut, überhaupt existiert oder nicht. »Sinnlos« muß jedenfalls sie so wenig sein wie die des konsequenten Syndikalisten. Wenn der Professor von der gemächlichen Höhe des Katheders herab einen solchen Catonismus empfehlen wollte, so würde sich das freilich nicht besonders stilgerecht ausnehmen. Aber es ist doch schließlich auch nicht geboten, daß er das Gegenteil preise und aus der Anpassung der Ideale an die gerade durch die jeweiligen Entwicklungstendenzen und Situationen gegebenen Chancen eine Pflicht mache.
Es ist hier soeben wiederholt der Ausdruck »Anpassung« gebraucht worden, der im gegebenen Fall bei der gewählten Ausdrucksweise wohl auch hinlänglich unmißverständlich ist. Aber es zeigt sich, daß er an sich doppelsinnig ist: Anpassung der Mittel einer letzten Stellungnahme an gegebene Situationen (»Realpolitik« im engeren Sinn) oder: Anpassung in der Auswahl aus den überhaupt möglichen letzten Stellungnahmen selbst an die jeweiligen wirklichen oder scheinbaren Augenblickschancen einer von ihnen (jene Art der »Realpolitik«, mit der unsere Politik seit 27 Jahren [1890] so merkwürdige Erfolge erzielte). Aber damit ist die Zahl seiner möglichen Bedeutungen bei weitem nicht erschöpft. Darum wäre es bei jeder Diskussion unserer Probleme, sowohl von »Wertungs–« wie von anderen Fragen, meines Erachtens gut, diesen viel mißbrauchten Begriff lieber gänzlich[515] auszuscheiden. Denn ganz und gar mißverständlich ist er als Ausdruck eines wissenschaftlichen Arguments, als welches er sowohl für die »Erklärung« (etwa des empirischen Bestehens gewisser ethischer Anschauungen bei gewissen Menschengruppen zu bestimmten Zeiten) wie für die »Bewertung« (z.B. jener faktisch bestehenden ethischen Anschauungen als objektiv »passend« und daher objektiv »richtig« und wertvoll) immer erneut auftaucht. In keiner dieser Hinsichten leistet er aber etwas, da er stets seinerseits erst der Interpretation bedarf. Er hat seine Heimat in der Biologie. Würde er wirklich im biologischen Sinn, also als durch die Umstände gegebene, relativ bestimmbare Chance einer Menschengruppe, das eigene psychophysische Erbgut durch reichliche Fortpflanzung zu erhalten, gefaßt, dann wären z.B. die ökonomisch am reichlichsten ausgestatteten und ihr Leben am rationellsten regulierenden Volksschichten nach bekannten Erfahrungen der Geburtenstatistik die »unangepaßtesten«. »Angepaßt« an die Bedingungen der Umgebung des Salt Lake waren im biologischen Sinn – aber auch in jeder der zahlreichen sonst denkbaren wirklich rein emprischen Bedeutungen – die wenigen Indianer, die vor der Mormoneneinwanderung dort lebten, genau so gut und so schlecht wie die späteren volkreichen Mormonenansiedlungen. Wir verstehen also vermöge dieses Begriffes nicht das geringste empirsch besser, bilden uns aber leicht ein, es zu tun. Und man kann – dies sei schon hier festgestellt – auch nur bei zwei im übrigen in jeder Hinsicht absolut gleichartigen Organisationen sagen, daß ein konkreter Einzelunterschied eine empirisch für ihren Fortbestand »zweckmäßigere«, in diesem Sinn den gegebenen Bedingungen »angepaßtere« Lage der einen von ihnen bedingt. Für die Bewertung aber kann jemand sowohl auf dem Standpunkt stehen: die größere Zahl und die materiellen und sonstigen Leistungen und Eigenschaften, welche die Mormonen dorthin brachten und dort entfalteten, seien ein Beweis ihrer Ueberlegenheit über die Indianer, wie etwa ein anderer, der die Mittel und Nebenerfolge der Mormonenethik, welche für jene Leistungen mindestens mitveranwortlich ist, bedingungslos perhorresziert, die Steppe sogar ohne alle Indianer, und also vollends die romantische Existenz dieser letzteren darin, vorziehen kann, ohne daß irgendeine, wie immer geartete Wissenschaft der Welt prätendieren könnte, ihn zu bekehren. Denn schon hier handelt[516] es sich um den un austragbaren Ausgleich von Zweck, Mittel und Nebenerfolg.
Nur wo bei einem absolut eindeutig gegebenen Zweck nach dem dafür geeigneten Mittel gefragt wird, handelt es sich um eine wirklich empirisch entscheidbare Frage. Der Satz: x ist das einzige Mittel für y, ist in der Tat die bloße Umkehrung des Satzes: auf x folgt y. Der Begriff der »Angepaßtheit« aber (und alle ihm verwandten) gibt – und das ist die Hauptsache – jedenfalls nicht die geringste Auskunft über die letztlich zugrunde liegenden Wertungen, die er vielmehr – ebenso wie z.B. der m. E. grundkonfuse neuerdings beliebte Begriff der »Menschenökonomie« – lediglich verhüllt. »Angepaßt« ist auf dem Gebiet der »Kultur«, je nachdem, wie man den Begriff meint, entweder alles oder: nichts. Denn nicht auszuscheiden ist aus allem Kulturleben der Kampf. Man kann seine Mittel, seinen Gegenstand, sogar seine Grundrichtung und seine Träger ändern, aber nicht ihn selbst beseitigen. Er kann statt ein äußeren Ringens von feindlichen Menschen um äußere Dinge ein inneres Ringen sich liebender Menschen um innere Güter und damit statt äußeren Zwangs eine innere Vergewaltigung (gerade auch in Form erotischer oder karitativer Hingabe) sein oder endlich ein inneres Ringen innerhalb der Seele des Einzelnen selbst mit sich selbst bedeuten, – stets ist er da, und oft um so folgenreicher, je weniger er bemerkt wird, je mehr sein Verlauf die Form stumpfen oder bequemen Geschehenlassens oder illusionistischen Selbstbetrugs annimmt oder sich in der Form der »Auslese« vollzieht. »Friede« bedeutet Verschiebung der Kampfformen oder der Kampfgegner oder der Kampfgegenstände oder endlich der Auslesechancen und nichts anderes. Ob und wann solche Verschiebungen vor einem ethischen oder einem anderen bewertenden Urteil die Probe bestehen, darüber läßt sich offenbar generell schlechthin nichts aussagen. Nur eines ergibt sich zweifellos: Ausnahmslos jede, wie immer geartete Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen ist, wenn man sie bewerten will, letztlich auch daraufhin zu prüfen, welchem menschlichen Typus sie, im Wege äußerer oder innerer (Motiv-)Auslese, die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden. Denn weder ist sonst die empirische Untersuchung wirklich erschöpfend, noch ist auch die nötige tatsächliche Basis für eine, sei es bewußt subjektive, sei es eine objektive Geltung in Anspruch nehmende, Bewertung[517] überhaupt vorhanden. Wenigstens denjenigen zahlreichen Kollegen sei dieser Sachverhalt in Erinnerung gebracht, welche glauben, es ließe sich mit eindeutigen »Fortschritts«begriffen bei der Feststellung von gesellschaftlichen Entwicklungen operieren. Das führt nun zu einer näheren Betrachtung dieses wichtigen Begriffs.
Man kann natürlich den Begriff des »Fortschritts« absolut wertfrei brauchen, wenn man ihn mit dem »Fortschreiten« irgendeines konkreten, isoliert betrachteten Entwicklungs-Prozesses identifiziert. Aber in den meisten Fällen ist der Sachverhalt wesentlich komplizierter. Wir betrachten hier einige Fälle, wo die Verquickung mit Wertfragen am intimsten ist, aus heterogenen Gebieten.
Auf dem Gebiet der irrationalen, gefühlsmäßigen, affektiven Inhalte unseres seelischen Verhaltens kann die quantitative Zunahme und – was damit meist verbunden ist – qualitative Vermannigfaltigung der möglichen Verhaltungsweisen wertfrei als Fortschritt der seelischen »Differenzierung« bezeichnet werden. Alsbald verbindet sich aber damit der Wertbegriff: Vermehrung der »Spannweite«, der »Kapazität« einer konkreten »Seele« oder – was schon eine nicht eindeutige Konstruktion ist – einer »Epoche« (so in Simmels »Schopenhauer und Nietzsche«).
Es ist natürlich gar kein Zweifel, daß es jenes faktische »Fortschreiten der Differenzierung« gibt. Mit dem Vorbehalt, daß es nicht immer wirklich da vorhanden ist, wo man an sein Vorhandensein glaubt. Das für die Gegenwart zunehmende Beachten der Gefühlsnuancen, wie es auftritt, sowohl als Folge zunehmender Rationalisierung und Intellektualisierung aller Lebensgebiete wie als Folge zunehmender subjektiver Wichtigkeit, die der Einzelne allen seinen eigenen (für andere oft äußerst gleichgültigen) Lebensäußerungen beimißt, täuscht sehr leicht zunehmende Differenzierung vor. Es kann sie bedeuten oder befördern. Aber der Schein trügt leicht, und ich gestehe, daß ich die faktische Tragweite dieser Täuschung ziemlich hoch veranschlagen möchte. Immerhin: der Sachverhalt besteht. Ob nun jemand fortschreitende Differenzierung als »Fortschritt« bezeichnet, ist an sich terminologische Zweckmäßigkeitsfrage. Ob man sie aber als »Fortschritt« im Sinn zunehmenden »inneren Reichtums« bewerten soll, kann jedenfalls keine[518] empirische Disziplin entscheiden. Denn die Frage, ob jeweils die neu sich entwickelnden oder neu in das Bewußtsein gehobenen Gefühlsmöglichkeiten mit unter Umständen neuen »Spannungen« und »Problemen« als »Werte« anzuerkennen sind, geht sie nichts an. Wer aber zu der Tatsache der Differenzierung als solcher bewertend Stellung nehmen will – was gewiß keine empirische Disziplin jemandem verbieten kann – und nach dem Standpunkt dafür sucht, dem werden naturgemäß manche Erscheinungen der Gegenwart auch die Frage nahelegen: um welchen Preis dieser Prozeß, soweit er zur Zeit überhaupt mehr als eine intelektualistische Illusion ist, »erkauft« wird. Er wird z.B. nicht übersehen dürfen, daß die Jagd nach dem »Erlebnis« – dem eigentlichen Modewert der deutschen Gegenwart – in sehr starkem Maß Produkt abnehmender Kraft sein kann, den »Alltag« innerlich zu bestehen, und daß jene Publizität, welche der Einzelne seinem »Erleben« zu geben das zunehmende Bedürfnis empfindet, vielleicht auch als ein Verlust an Distanz-und also an Stil- und Würdegefühl bewertet werden könnte. Jedenfalls ist auf dem Gebiet der Wertungen des subjektiven Erlebens »Fortschritt der Differenzierung« mit Mehrung des »Werts« zunächst nur in dem intellektualistischen Sinn der Vermehrung des zunehmend bewußten Erlebens oder der zunehmenden Ausdrucksfähigkeit und Kommunikabilität identisch.
Etwas komplizierter steht es mit der Anwendbarkeit des »Fortschritts«begriffes (im Sinn der Bewertung) auf dem Gebiet der Kunst. Sie wird gelegentlich leidenschaftlich bestritten. Je nach dem gemeinten Sinn mit Recht oder Unrecht. Es hat keine wertende Kunstbetrachtung gegeben, die mit dem exklusiven Gegensatz von »Kunst« und »Unkunst« ausgekommen wäre, und nicht daneben noch die Unterschiede zwischen Versuch und Erfüllung, zwischen dem Wert verschiedener Erfüllungen, zwischen der vollen und der in irgendeinem Einzelpunkt oder in mehreren solcher, selbst in wichtigen Punkten mißglückten, dennoch aber nicht schlechthin wertlosen Erfüllung verwendete, und zwar nicht nur für ein konkretes For mungswollen, sondern auch für das Kunstwollen ganzer Epochen. Der Begriff eines »Fortschritts« wirkt zwar, auf solche Tatbestände angewendet, wegen seiner sonstigen Verwendung für rein technische Probleme trivial. Aber er ist nicht an sich sinnlos. Wieder[519] anders liegt das Problem für die rein empirische Kunstgeschichte und die empirische Kunstsoziologie. Für die erstere gibt es einen »Fortschritt« der Kunst natürlich nicht im Sinn der ästhetischen Wertung von Kunstwerken als sinnhafter Erfüllungen; denn diese Wertung ist nichts mit den Mitteln empirischer Betrachtung zu Leistendes und liegt also ganz jenseits ihrer Aufgabe. Dagegen kann gerade sie einen durchaus nur technischen, rationalen und deshalb eindeutigen »Fortschritts«-Begriff verwenden, von dem alsbald näher zu reden ist und dessen Brauchbarkeit für die empirische Kunstgeschichte eben daraus folgt: daß er sich ganz und gar auf die Feststellung der technischen Mittel beschränkt, welche ein bestimmtes Kunstwollen für eine fest gegebene Absicht verwendet. Man unterschätzt die kunstgeschichtliche Tragweite dieser sich streng bescheidenden Ermittlungen leicht oder mißdeutet sie in jenem Sinn, welchen ein modisches, ganz subalternes und unechtes vermeintliches »Kennertum« damit verbindet, indem es den Anspruch erhebt, einen Künstler »verstanden« zu haben, wenn es den Vorhang seines Ateliers gelüftet und seine äußeren Darstellungsmittel, seine »Manier«, durchmustert hat. Allein der richtig verstandene »technische« Fortschritt ist geradezu die Domäne der Kunstgeschichte, weil gerade er und sein Einfluß auf das Kunstwollen das am Ablauf der Kunstentwicklung rein empirisch, daß heißt: ohne ästhetische Bewertung, Feststellbare enthält. Nehmen wir einige Beispiele, welche die wirklichen kunstgeschichtlichen Bedeutungen des »Technischen« im echten Sinn des Wortes verdeutlichen.
Die Entstehung der Gotik war in allererster Linie das Resultat der technisch gelungenen Lösung eines an sich rein bautechnischen Problems der Ueberwölbung von Räumen bestimmter Art: die Frage nach dem technischen Optimum der Schaffung von Widerlagern für den Gewölbeschub eines Kreuzgewölbes, verbunden mit noch einigen hier nicht zu erörternden Einzelheiten. Ganz konkrete bauliche Probleme wurden gelöst. Die Erkenntnis, daß damit auch eine bestimmte Art der Ueberwölbbarkeit nicht quadratischer Räume möglich gemacht war, weckte die leidenschaftliche Begeisterung jener vorläufig und vielleicht für immer unbekannten Architekten, denen die Entwicklung des neuen Baustils verdankt wird. Ihr technischer Rationalismus führte das neue Prinzip in allen Konsequenzen durch. Ihr Kunstwollen[520] nutzte es als Erfüllungsmöglichkeit bis dahin ungeahnter künstlerischer Aufgaben und riß alsdann die Plastik in die Bahn eines primär durch die ganz neuen Raum- und Flächenformungen der Architektur geweckten neuen »Körpergefühls« hinein. Daß diese primär technisch bedingte Umwälzung zusammenstieß mit bestimmten in starkem Maße soziologisch und religionsgeschichtlich bedingten Gefühlsinhalten, bot die wesentlichen Bestandteile jenes Materials an Problemen dar, mit welchen das Kunstschaffen der gotischen Epoche arbeitete. Indem die kunstgeschichtliche und kunstsoziologische Betrachtung diese sachlichen, technischen, gesellschaftlichen, psychologischen Bedingungen des neuen Stils aufzeigt, erschöpft sie ihre rein empirische Aufgabe. Weder aber »wertet« sie dabei den gotischen Stil im Verhältnis etwa zum romanischen oder etwa dem – seinerseits sehr stark am technischen Problem der Kuppel und daneben an den soziologisch mitbedingten Aenderungen des Aufgabenbereiches der Architektur orientierten – Renaissancestil, noch »wertet« sie ästhetisch, so lange sie empirische Kunstgeschichte bleibt, das einzelne Bauwerk. Vielmehr: Das Interesse an den Kunstwerken und an ihren ästhetisch relevanten einzelnen Eigentümlichkeiten und also ihr Objekt ist ihr heteronom: als ihr Apriori, gegeben durch deren von ihr, mit ihren Mitteln, gar nicht feststellbaren ästhetischen Wert.
Aehnlich auf dem Gebiet etwa der Musikgeschichte. Ihr zentrales Problem ist für den Standpunkt des Interesses des modernen europäischen Menschen (»Wertbezogenheit«!) doch wohl: warum die harmonische Musik aus der fast überall volkstümlich entwickelten Polyphonie nur in Europa und in einem bestimmten Zeitraum entwickelt wurde, während überall sonst die Rationalisierung der Musik einen andern und zwar meist den gerade entgegengesetzten Weg einschlug: Entwicklung der Intervalle durch Distanzteilung (meist der Quarte) statt durch harmonische Teilung (der Quinte). Im Mittelpunkt steht also das Problem der Entstehung der Terz in deren harmonischer Sinndeutung: als Glied des Dreiklangs, und weiterhin: der harmonischen Chromatik, ferner: der modernen musikalischen Rhythmik (der guten und schlechten Taktteile) – statt rein metronomischer Taktierung –, einer Rhythmik, ohne welche die moderne Instrumentalmusik undenkbar ist. Da handelt es sich nun wiederum primär um rein technisch[521] rationale »Fortschritts«-Probleme. Denn daß z.B. Chromatik längst vor der harmonischen Musik, als Mittel der Darstellung von »Leidenschaft« bekannt war, zeigt die antike chromatische (angeblich sogar: enharmonische) Musik zu den leidenschaftlichen Dochmien des neuerdings entdeckten Euripidesfragments. Nicht in dem künstlerischen Ausdruckswollen also, sondern in den technischen Ausdrucksmitteln lag der Unterschied dieser antiken Musik gegen jene Chromatik, welche die großen musikalischen Experimentatoren der Renaissancezeit in stürmischem rationalen Entdeckungsstreben schufen, und zwar ebenfalls: um »Leidenschaft« musikalisch formen zu können. Das technisch Neue aber war, daß diese Chromatik diejenige unserer harmonischen Intervalle wurde und nicht eine solche mit den melodischen Halb- und Viertel-Ton-Distanzen der Hellenen. Und daß sie dies werden konnte, hatte seinen Grund wiederum in vorangegangenen Lösungen technisch-rationaler Probleme. So namentlich in der Schaffung der rationalen Notenschrift (ohne welche keine moderne Komposition auch nur denkbar wäre) und, schon vorher, bestimmter zur harmonischen Deutung musikalischer Intervalle drängender Instrumente und vor allem: des rational polyphonen Gesanges. Den Hauptanteil an diesen Leistungen aber hatte im frühen Mittelalter das Mönchtum des nordisch-abendländischen Missionsgebiets, welches ohne eine Ahnung von der späteren Tragweite seines Tuns die volkstümliche Polyphonie für seine Zwecke rationalisierte, statt, wie das byzantinische, sich seine Musik vom hellenisch geschulten Melopoiós herrichten zu lassen. Durchaus konkrete, soziologisch und religionshistorisch bedingte, Eigentümlichkeiten der äußeren und inneren Lage der christlichen Kirche im Okzident ließen dort aus einem nur dem Mönchtum des Abendlandes eignen Rationalismus diese musikalische Problematik entstehen, welche ihrem Wesen nach »technischer« Art war. Die Uebernahme und Rationalisierung des Tanztakts andererseits, des Vaters der in die Sonate ausmündenden Musikformen, war bedingt durch bestimmte gesellschaftliche Lebensformen der Renaissance-Gesellschaft. Die Entwicklung des Klaviers endlich, eines der wichtigsten technischen Träger der modernen musikalischen Entwicklung und ihrer Propaganda im Bürgertum, wurzelte in dem spezifischen Binnenraum-Charakter der nordeuropäischen Kultur. Alles das sind »Fortschritte« der technischen Mittel[522] der Musik, welche deren Geschichte sehr stark bestimmt haben. Diese Komponenten der historischen Entwicklung wird die empirische Musikgeschichte entwickeln können und müssen, ohne ihrerseits eine ästhetische Bewertung der musikalischen Kunstwerke vorzunehmen. Der technische »Fortschritt« hat sich recht oft zuerst an, ästhetisch gewertet, höchst unzulänglichen Leistungen vollzogen. Die Interessenrichtung: das historisch zu erklärende Objekt, ist der Musikgeschichte heteronom durch dessen ästhetische Bedeutsamkeit gegeben.
Für das Gebiet der Entwicklung der Malerei ist die vornehme Bescheidenheit der Fragestellung in Wölfflins »Klassischer Kunst« ein ganz hervorragendes Beispiel der Leistungsfähigkeit empirischer Arbeit.
Die völlige Geschiedenheit der Wertsphäre von dem Empirischen tritt nun darin charakteristisch hervor: daß die Verwendung einer bestimmten noch so »fortgeschrittenen« Technik über den ästhetischen Wert des Kunstwerks nicht das geringste besagt. Kunstwerke mit noch so »primitiver« Technik – Bilder z.B. ohne alle Kenntnis der Perspektive – vermögen ästhetisch den vollendetsten, auf dem Boden rationaler Technik geschaffenen absolut ebenbürtig zu sein, unter der Voraussetzung, daß das künstlerische Wollen sich auf diejenigen Formungen beschränkt hat, welche jener »primitiven« Technik adäquat sind. Die Schaffung neuer technischer Mittel bedeutet zunächst nur zunehmende Differenzierung und gibt nur die Möglichkeit zunehmenden »Reichtums« der Kunst im Sinn der Wertsteigerung. Tatsächlich hat sie nicht selten den umgekehrten Effekt der »Verarmung« des Formgefühls gehabt. Aber für die empirisch-kausale Betrachtung ist gerade die Aenderung der »Technik« (im höchsten Sinn des Worts) das wichtigste allgemein feststellbare Entwicklungsmoment der Kunst.
Nun pflegen nicht nur Kunsthistoriker, sondern überhaupt die Historiker, zu entgegnen: daß sie sich das Recht politischer, kulturlicher, ethischer, ästherischer Bewertung weder nehmen lassen, noch in der Lage seien, ohne diese ihre Arbeit zu leisten. Die Methodologie hat weder die Macht noch die Absicht, jemandem vorzuschreiben, was er in einem literarischen Werk zu bieten beabsichtigt. Sie nimmt sich nur ihrerseits das Recht festzustellen: daß gewisse Probleme untereinander heterogenen Sinn haben, daß ihre Verwechslung miteinander die Folge[523] hat, daß eine Diskussion zum Aneinandervorbeireden führt, und daß über die einen eine Diskussion mit den Mitteln, sei es der empirischen Wissenschaft, sei es der Logik sinnvoll, über die andren dagegen unmöglich ist. Vielleicht darf hier, ohne für jetzt den Beweis anzutreten, noch eine allgemeine Beobachtung hinzugefügt werden: eine aufmerksame Durchmusterung historischer Arbeiten zeigt sehr leicht, daß die rücksichtslose Verfolgung der empirisch-historischen Kausalkette bis zum Ende fast ausnahmslos dann zum Schaden der wissenschaftlichen Ergebnisse unterbrochen zu werden pflegt, wenn der Historiker zu »werten« beginnt. Er kommt dann in die Gefahr, z.B. als die Folge eines »Fehlers« oder eines »Verfalls« zu »erklären«, was vielleicht Wirkung ihm heterogener Ideale der Handelnden war, und er verfehlt so seine eigenste Aufgabe: das »Verstehen«. Das Mißverständnis erklärt sich aus zweierlei Gründen. Zunächst daraus, daß, um bei der Kunst zu bleiben, die künstlerische Wirklichkeit außer der rein ästhetisch werten den Betrachtung einerseits und der rein empirisch und kausal zurechnenden andererseits noch einer dritten: der wertinterpretierenden, zugänglich ist, über deren Wesen das an anderer Stelle (s. o.) Gesagte hier nicht wiederholt werden soll. Ueber ihren Eigenwert und ihre Unentbehrlichkeit für jeden Historiker besteht nicht der mindeste Zweifel. Ebenso nicht darüber, daß der übliche Leser kunsthistorischer Darstellungen auch, und gerade, diese Darbietung zu finden erwartet. Nur ist sie, auf ihre logische Struktur hin angesehen, mit der empirischen Betrachtung nicht identisch.
Sodann aber: wer kunstgeschichtliche, noch so rein empirische, Leistungen vollbringen will, bedarf dazu der Fähigkeit, künstlerisches Produzieren zu »verstehen«, und diese ist ohne ästhetische Urteilsfähigkeit, also ohne die Fähigkeit der Bewertung, selbstverständlich nicht denkbar. Das entsprechende gilt natürlich für den politischen Historiker, literarischen Historiker, Historiker der Religion oder der Philosophie. Aber offenbar besagt das gar nichts über das logische Wesen der historischen Arbeit.
Doch davon später. Hier sollte lediglich die Frage erörtert werden: in welchem Sinn man, außerhalb der ästhetischen Bewertung, von »Fortschritt« kunstgeschichtlich sprechen könne. Es zeigt sich, daß dieser Begriff da einen technischen und rationalen,[524] die Mittel für eine künstlerische Absicht meinenden, Sinn gewinnt, der gerade empirisch-kunstgeschichtlich in der Tat bedeutsam werden kann. Es wird nun Zeit, diesen Begriff des »rationalen« Fortschritts auf seinem eigensten Gebiet aufzusuchen und auf seinen empirischen oder nicht empirischen Charakter hin zu betrachten. Denn das Gesagte ist nur ein Sonderfall eines sehr universellen Tatbestandes.
Die Art, wie Windelband (Gesch. der Phil. § 2, 4. Aufl. S. 8) das Thema seiner »Geschichte der Philosophie« begrenzt (»der Prozeß, durch welchen die europäische Menschheit ihre Weltauffassung ... in wissenschaftlichen Begriffen niedergelegt hat«), bedingt für seine nach meiner Ansicht ganz glänzende Pragmatik der Verwendung eines aus dieser Kulturwertbezogenheit folgenden spezifischen »Fortschritts«-Begriffs (dessen Konsequenzen das. S. 15, 16 gezogen werden), der einerseits keineswegs für jede »Geschichte« der Philosophie selbstverständlich ist, andererseits aber bei Zugrundelegung der entsprechend gleichen Kulturwertbezogenheit nicht nur für eine Geschichte der Philosophie und auch nicht nur für jede Geschichte irgendeiner anderen Wissenschaft, sondern – anders als Windelband (ebenda S. 7, Nr. 1, Abs. 2) annimmt – für jede »Geschichte« überhaupt zutrifft. Nachstehend indessen soll nur von jenen rationalen »Fortschritts«-Begriffen die Rede sein, welche in unsren soziologischen und ökonomischen Disziplinen eine Rolle spielen. Unser europäisch-amerikanisches Gesellschafts- und Wirtschaftsleben ist in einer spezifischen Art und in einem spezifischen Sinn »rationalisiert«. Diese Rationalisierung zu erklären und die ihr entsprechenden Begriffe zu bilden, ist daher eine der Hauptaufgaben unserer Disziplinen. Dabei nun erscheint wiederum das am Beispiel der Kunstgeschichte berührte, aber dort offen gelassene Problem: was die Bezeichnung eines Vorgangs als eines »rationalen Fortschritts« denn eigentlich besagen will.
Die Verquickung von »Fortschritt« im Sinne 1. des bloßen differenzierenden »Fortschreitens«, ferner 2. der fortschreitenden technischen Rationalität der Mittel, endlich 3. der Wertsteigerung wiederholt sich auch hier. Zunächst ist schon ein subjektiv »rationales« Sichverhalten nicht mit rational »richtigem«, d.h. die objektiv, nach der wissenschaftlichen Erkenntnis, richtigen Mittel verwendendem, Handeln identisch. Sondern es bedeutet an sich nur: daß die subiektive[525] Absicht auf eine planvolle Orientierung an für richtig gehaltenen Mitteln für einen gegebenen Zweck gehe. Eine fortschreitende subjektive Rationalisierung des Handelns ist also nicht notwendig auch objektiv ein »Fortschritt« in der Richtung auf das rational »richtige« Handeln. Man hat z.B. die Magie ebenso systematisch »rationalisiert« wie die Physik. Die erste ihrer eigenen Absicht nach »rationale« Therapie bedeutete fast überall eine Verschmähung des Kurierens der empirischen Symptome mit rein empirisch erprobten Kräutern und Tränken zugunsten der Austreibung der (vermeintlich) »eigentlichen« (magischen, dämonischen) »Ursache« der Erkrankung. Sie hatte also formal ganz die gleiche rationalere Struktur wie manche der wichtigsten Fortschritte der modernen Therapie. Aber wir werden diese magischen Priestertherapien nicht als »Fortschritt« zum »richtigen« Handeln gegenüber jener Empirie werten können. Und andrerseits ist durchaus nicht etwa jeder »Fortschritt« in der Richtung der Verwendung der »richtigen« Mittel erzielt durch ein »Fortschreiten« im ersteren, subjektiv rationalen, Sinne. Daß subjektiv fortschreitend rationaleres Handeln zu objektiv »zweckmäßigerem« Handeln führt, ist nur eine von mehreren Möglichkeiten und ein mit (verschieden großer) Wahrscheinlichkeit zu erwartender Vorgang. Ist aber im Einzelfall der Satz richtig: die Maßregel x ist das (wir wollen annehmen: einzige) Mittel für die Erreichung des Erfolges y – was eine empirische Frage ist, und zwar die einfache Umkehrung des Kausalsatzes: auf x folgt y – und wird nun dieser Satz – was ebenfalls empirisch feststellbar ist – von Menschen bewußt für die Orientierung ihres auf den Erfolg y gerichteten Handelns verwertet, dann ist ihr Handeln »technisch richtig« orientiert. Wird menschliches Verhalten (welcher Art immer) in irgendeinem Einzelpunkt in diesem Sinn technisch »richtiger« als bisher orientiert, so liegt ein »technischer Fortschritt« vor. Ob dies der Fall ist, das ist – immer natürlich: die absolute Eindeutigkeit des feststehenden Zweckes vorausgesetzt – für eine empirische Disziplin in der Tat eine mit den Mitteln der wissenschaftlichen Erfahrung zu treffende, also: eine empirische Feststellung.
Es gibt also in diesem Sinne, wohl gemerkt: bei eindeutig gegebenem Zweck, eindeutig feststellbare Begriffe von »technischer« Richtigkeit und von »technischem« Fortschritt in den[526] Mitteln (wobei hier »Technik« in einem allerweitesten Sinne als rationales Sichverhalten überhaupt, auf allen Gebieten: auch denen der politischen, sozialen, erzieherischen, propagandistischen Menschenbehandlung und -beherrschung gemeint ist). Man kann insbesondere (um nur die uns naheliegenden Dinge zu berühren) auf dem speziellen, gewöhnlich »Technik« genannten Gebiet, ebenso aber auf dem der Handelstechnik, auch der Rechtstechnik, von einem »Fortschritt« annähernd eindeutig reden, wenn dabei ein eindeutig bestimmter Status eines konkreten Gebildes als Ausgangspunkt angenommen wird. Annähernd: denn die einzelnen technisch rationalen Prinzipien geraten, wie jeder Kundige weiß, in Konflikte miteinander, zwischen denen ein Ausgleich zwar vom jeweiligen Standpunkt konkreter Interessenten, niemals aber »objektiv«, zu finden ist. Und es gibt, bei Annahme gegebener Bedürfnisse, bei der ferneren Unterstellung, daß alle diese Bedürfnisse als solche und ihre subjektive Rangeinschätzung der Kritik entzogen sein sollen, und schließlich bei Annahme einer fest gegebenen Art der Wirtschaftsordnung überdies – wiederum unter dem Vorbehalt, daß z.B. die Interessen an Dauer, Sicherheit und Ausgiebigkeit der Deckung dieser Bedürfnisse in Konflikt geraten können und geraten – auch »ökonomischen« Fortschritt zu einem relativen Optimum der Bedarfsdeckung bei gegebenen Möglichkeiten der Mittelbeschaffung. Aber nur unter diesen Voraussetzungen und Einschränkungen.
Es ist nun versucht worden, daraus die Möglichkeit eindeutiger und dabei rein ökonomischer Wertungen abzuleiten. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist der s.Z. von Prof. Liefmann herangezogene Schulfall der absichtlichen Vernichtung von unter den Selbstkostenpreis gesunkenen Konsumgütern im Rentabilitätsinteresse der Produzenten. Diese sei als auch objektiv »volkswirtschaftlich richtig« zu bewerten. Diese und – worauf es hier ankommt – jede ähnliche Darlegung nimmt aber eine Reihe von Voraussetzungen als selbstverständlich an, die es nicht sind: zunächst, daß das Interesse des Einzelnen über seinen Tod nicht nur faktisch oft hinausreiche, sondern auch als darüber hinausreichend ein- für allemal gelten solle. Ohne diese Uebertragung aus dem »Sein« in das »Sollen« ist die betreffende, angeblich rein ökonomische Wertung nicht eindeutig durchführbar. Denn ohne sie kann man z.B. nicht von den Interessen der[527] »Produzenten« und »Konsumenten« als von Interessen perennierender Personen reden. Daß der Einzelne die Interessen seiner Erben in Betracht zieht, ist aber keine rein ökonomische Gegebenheit mehr. Den lebendigen Menschen werden hier vielmehr Interessenten substituiert, welche »Kapital« in »Betrieben« verwerten und um dieser Betriebe willen existieren. Das ist eine für theoretische Zwecke nützliche Fiktion. Aber selbst als Fiktion paßt das nicht zu der Lage der Arbeiter. Insbesondere nicht: der kinderlosen. Zweitens ignoriert sie die Tatsache der »Klassenlage«, welche unter der Herrschaft des Marktprinzips nicht nur trotz, sondern gerade infolge der – vom Rentabilitätsstandpunkt ausgewertet jeweils möglichen – »optimalen« Verteilung von Kapital und Arbeit auf die verschiedenen Erwerbszweige die Güterversorgung gewisser Konsumentenschichten absolut verschlechtern kann (nicht: muß). Denn jene »optimale« Verteilung der Rentabilität, welche die Konstanz der Kapitalinvestition bedingt, ist ja ihrerseits von den Machtkonstellationen zwischen den Klassen abhängig, deren Konsequenzen die Preiskampfposition jener Schichten im konkreten Fall schwächen können (nicht: müssen). – Drittens ignoriert sie die Möglichkeit dauernder unausgleichbarer Interessengegensätze zwischen Mitgliedern verschiedener politischer Einheiten und nimmt also a priori Partei für das »Freihandelsargument«, welches sich aus einem höchst brauchbaren heuristischen Mittel alsbald in eine gar nicht selbstverständliche »Wertung« verwandelt, sobald man an seiner Hand Postulate des Seinsollens aufstellt. Wenn sie aber etwa, um diesem Konflikt zu entgehen, die politische Einheit der Weltwirtschaft unterstellt – was theoretisch absolut gestattet sein muß –, so verschiebt sich die unausrottbare Möglichkeit der Kritik, welche die Vernichtung jener genußfähigen Güter im Interesse des – wie hier unterstellt werden mag – unter den gegebenen Verhältnissen gegebenen dauernden Rentabilitätsoptimums (der Produzenten und Konsumenten) herausfordert, lediglich in ihrer Schlagweite. Die Kritik wendet sich dann nämlich gegen das gesamte Prinzip der Marktversorgung an der Hand solcher Direktiven, wie sie das in Geld ausdrückbare Rentabilitätsoptimum von tauschenden Einzelwirtschaften gibt, als solches. Eine nicht marktmäßige Organisation der Güterversorgung würde auf die durch das Marktprinzip gegebene Konstellation von Einzelwirtschaftsinteressen[528] Rücksicht zu nehmen keinen Anlaß haben, daher auch nicht genötigt sein, jene einmal vorhandenen genußfähigen Güter dem Verbrauch zu entziehen.
Nur dann, wenn 1. ausschließlich dauernde Rentabilitätsinteressen konstant gedachter Personen mit konstant gedachten Bedürfnissen als leitender Zweck, – 2. die ausschließliche Herrschaft privatkapitalistischer Bedarfsversorgung durch ganz freien Markttausch und: – 3. eine uninteressierte Staatsmacht als bloße Rechtsgarantin als fest gegebene Bedingungen vorausgesetzt werden, ist die Ansicht von Prof. Liefmann auch nur theoretisch korrekt und dann freilich selbstverständlich richtig. Denn die Wertung betrifft dann die rationalen Mittel zur optimalen Lösung eines technischen Einzelproblems der Güterverteilung. Die zu theoretischen Zwecken nützlichen Fiktionen der reinen Oekonomik können aber nicht zur Grundlage von praktischen Wertungen realer Tatbestände gemacht werden. Es bleibt eben dabei: daß die ökonomische Theorie absolut gar nichts andres aussagen kann als: daß für den gegebenen technischen Zweck x die Maßregel y das allein oder das neben y1, y2 geeignete Mittel sei, daß im letzteren Fall zwischen y, y1, y2 die und die Unterschiede der Wirkungsweise und – gegebenenfalls – der Rationalität bestehen, daß ihre Anwendung und also die Erreichung des Zweckes x die »Nebenerfolge« z, z1, z2 mit in den Kauf zu nehmen gebietet. Das alles sind einfache Umkehrungen von Kausalsätzen, und soweit sich daran »Wertungen« knüpfen lassen, sind sie ausschließlich solche des Rationalitätsgrades einer vorgestellten Handlung. Die Wertungen sind dann und nur dann eindeutig, wenn der ökonomische Zweck und die sozialen Struktur-Bedingungen fest gegeben sind und nur zwischen mehreren ökonomischen Mitteln zu wählen ist, und wenn diese überdies ausschließlich in bezug auf die Sicherheit, Schnelligkeit und quantitative Ergiebigkeit des Erfolges verschieden, in jeder anderen für menschliche Interessen möglicherweise wichtigen Hinsicht aber völlig identisch funktionieren. Nur dann ist das eine Mittel wirklich bedingungslos als das »technisch richtigste« auch zu werten und ist diese Wertung eindeutig. In jedem andern, also in jedem nicht rein technischen Fall hört die Wertung auf, eindeutig zu sein, und greifen Wertungen mit ein, welche nicht mehr rein ökonomisch bestimmbar sind.
Aber mit Feststellung der Eindeutigkeit einer technischen[529] Wertung innerhalb der rein ökonomischen Sphäre wäre eine Eindeutigkeit der endgültigen »Wertung« natürlich nicht erzielt. Vielmehr begänne nun jenseits dieser Erörterungen erst das Gewirr der unendlichen, nur durch Rückführung auf letzte Axiome zu bewältigenden Mannigfaltigkeit möglicher Wertungen. Denn – um nur eins zu erwähnen – hinter der »Handlung« steht: der Mensch. Für ihn kann die Steigerung der subjektiven Rationalität und objektiv-technischen »Richtigkeit« des Handelns als solche über eine gewisse Schwelle hinaus – ja, von gewissen Anschauungen aus: ganz generell – als eine Gefährdung wichtiger (z.B. ethisch oder religiös wichtiger) Güter gelten. Die buddhistische (Maximal-)Ethik z.B., die jede Zweckhandlung schon deshalb, weil sie Zweckhandlung ist, als von der Erlösung abführend verwirft, wird schwerlich jemand von uns teilen. Aber sie zu »widerlegen«, in dem Sinn wie ein falsches Rechenexempel oder eine irrige medizinische Diagnose, ist schlechthin unmöglich. Auch ohne so extreme Beispiele heranzuziehen aber, ist es leicht einzusehen: daß noch so zweifellos »technisch richtige« ökonomische Rationalisierungen durch diese ihre Qualität allein noch in keiner Art vor dem Forum der Bewertung legitimiert seien. Das gilt für ausnahmslos alle Rationalisierungen, einschließlich scheinbar so rein technischer Gebiete wie etwa des Bankwesens. Diejenigen, welche solchen Rationalisierungen opponieren, sind durchaus nicht notwendig Narren. Ueberall muß vielmehr, wenn man einmal werten will, der Einfluß der technischen Rationalisierungen auf Verschiebungen der gesamten äußeren und inneren Lebensbedingungen mit in Betracht gezogen werden. Ueberall und ausnahmslos haftet der in unsren Disziplinen legitime Fortschrittsbegriff am »Technischen«, das soll hier, wie gesagt, heißen: am »Mittel« für einen eindeutig gegebenen Zweck. Nie erhebt er sich in die Sphäre der »letzten« Wertungen.
Ich halte nach allem Gesagten die Verwendung des Ausdrucks »Fortschritt« selbst auf dem begrenzten Gebiet seiner empirisch unbedenklichen Anwendbarkeit: für sehr inopportun. Aber Ausdrücke läßt sich niemand verbieten, und man kann schließlich die möglichen Mißverständnisse vermeiden.
Es bleibt, ehe wir abschließen, noch eine letzte Problemgruppe über die Stellung des Rationalen innerhalb empirischer Disziplinen zu erörtern.
[530] Wenn das normativ Gültige Objekt empirischer Untersuchung wird, so verliert es, als Objekt, den Norm-Charakter: es wird als »seiend«, nicht als »gültig«, behandelt. Beispielsweise: Wenn eine Statistik die Zahl der »Rechenfehler« innerhalb einer bestimmten Sphäre berufsmäßigen Rechnens feststellen wollte, – was recht wohl wissenschaftlichen Sinn haben könnte –, so würden für sie die Grundsätze des Einmaleins in zweierlei gänzlich verschiedenem Sinn »gelten«. Einmal ist ihre normative Gültigkeit natürlich absolute Voraussetzung ihrer eigenen rechnerischen Arbeit. Das andere Mal aber, wo der Grad der »richtigen« Anwendung des Einmaleins als Objekt der Untersuchung in Frage kommt, steht es, rein logisch angesehen, durchaus anders. Hier wird die Anwendung des Einmaleins von seiten jener Personen, deren Rechnungen Gegenstand der statistischen Prüfung sind, als eine ihnen durch Erziehung gewohnt gewordene faktische Maxime des Sichverhaltens behandelt, deren tatsächliche Anwendung auf ihre Häufigkeit hin festgestellt werden soll, ganz ebenso wie etwa bestimmte Irrsinnserscheinungen das Objekt einer statistischen Feststellung sein können. Daß das Einmaleins normativ »gelte«, d.h. »richtig« sei, ist in diesem Fall, wo seine Anwendung »Objekt« ist, gar kein Gegenstand der Erörterung und logisch vollkommen gleichgültig. Der Statistiker muß bei der statistischen Nachprüfung der Rechnungen der Untersuchungspersonen sich auch seinerseits natürlich dieser Konvention, »nach dem Einmaleins« nachzurechnen, fügen. Aber er müßte ja ganz ebenso auch ein, normativ gewertet, »falsches« Rechenverfahren anwenden, falls etwa ein solches einmal in einer Menschengruppe für »richtig« gehalten worden wäre, und wenn er dann die Häufigkeit von dessen tatsächlicher, vom Standpunkt jener Gruppe aus »richtiger«, Anwendung statistisch zu untersuchen hätte. Für jede empirische, soziologische oder historische Betrachtung ist unser Einmaleins also, wo es als Objekt der Untersuchung auftritt, eine konventionell in einem Menschenkreise geltende und in mehr oder minder großer Annäherung befolgte Maxime des praktischen Verhaltens und nichts anderes. Jede Darstellung der pythagoreischen Musiklehre muß die – für unser Wissen – »falsche« Rechnung zunächst einmal hinnehmen: daß 12 Quinten = 7 Oktaven seien. Jede Geschichte der Logik ebenso die historische Existenz von (für uns) widerspruchsvollen logischen[531] Aufstellungen, – und es ist menschlich begreiflich, gehört aber nicht mehr zur wissenschaftlichen Leistung, wenn man solche »Absurditäten« mit derartigen Explosionen des Zorns begleitet, wie ein ganz besonders verdienstlicher Historiker der mittelalterlichen Logik es getan hat.
Diese Metamorphose normativ gültiger Wahrheiten inkonventionell geltende Meinungen, welcher sämtliche geistigen Gebilde, auch logische oder mathematische Gedanken, unterliegen, sobald sie Objektie einer auf ihr empirisches Sein, nicht ihren (normativ) richtigen Sinn, reflektierenden Betrachtung werden, besteht durchaus unabhängig von dem Tatbestand, daß die normative Geltung logischer und mathematischer Wahrheiten andererseits das Apriori aller und jeder empirischen Wissenschaft ist. – Weniger einfach ist ihre logische Struktur bei einer schon oben berührten Funktion, die ihnen bei der empirischen Untersuchung geistiger Zusammenhänge zukommt und die von jenen beiden: der Stellung als Objekt der Untersuchung und der Stellung als deren Apriori wiederum sorgfältig zu scheiden ist. Jede Wissenschaft von geistigen oder gesellschaftlichen Zusammenhängen ist eine Wissenschaft vom menschlichen Sichverhalten (wobei in diesem Fall jeder geistige Denkakt und jeder psychische Habitus mit unter diesen Begriff fällt). Sie will dies Sichverhalten »verstehen« und kraft dessen seinen Ablauf »erklärend deuten«. Nun kann hier der schwierige Begriff des »Verstehens« nicht abgehandelt werden. Uns interessiert in diesem Zusammenhang nur eine besondere Art davon: die »rationale« Deutung. Wir »verstehen« es offenbar ohne weiteres, daß ein Denker ein bestimmtes »Problem« so »löst«, wie wir selbst es für normativ »richtig« halten, daß ein Mensch z.B. »richtig« rechnet, daß er für einen beabsichtigten Zweck die – nach unserer eignen Einsicht – »richtigen« Mittel anwendet. Und unser Verständnis für diese Vorgänge ist deshalb so besonders evident, weil es sich eben um die Realisation von objektiv »Gültigem« handelt. Und dennoch muß man sich hüten zu glauben, in diesem Fall erscheine das normativ Richtige, logisch angesehen, in der gleichen Struktur wie in seiner allgemeinen Stellung als das Apriori aller wissenschaftlichen Untersuchung. Vielmehr ist seine Funktion als Mittel des »Verstehens« genau die gleiche, wie sie das rein psychologische »Einfühlen« in logisch irrationale Gefühls- und Affekt-Zusammenhänge da versieht, wo es[532] sich um deren verstehende Erkenntnis handelt. Nicht die normative Richtigkeit, sondern einerseits die konventionellen Gepflogenheiten des Forschers und Lehrers, so und nicht anders zu denken, andererseits aber auch erforderlichenfalls seine Fähigkeit, sich in ein davon abweichendes, ihm, nach seinen Gepflogenheiten, als normativ »falsch« erscheinendes Denken verstehend »einfühlen« zu können, ist hier das Mittel der verstehenden Erklärung. Schon daß das »falsche« Denken, der »Irrtum«, dem Verständnis im Prinzip ganz ebenso zugänglich ist, wie das »richtige«, beweist ja, daß das als normativ »richtig« Geltende hier nicht als solches, sondern nur als ein besonders leicht verständlicher konventioneller Typus in Betracht kommt. Und das führt nun zu einer letzten Feststellung über die Rolle des normativ Richtigen innerhalb der soziologischen Erkenntnis.
Schon um eine »falsche« Rechnung oder logische Feststellung zu »verstehen« und ihren Einfluß in denjenigen faktischen Konsequenzen, welche sie gehabt hat, feststellen und darlegen zu können, wird man offenbar nicht nur selbstverständlich seinerseits sie »richtig« rechnend, bzw. logisch denkend nachprüfen, sondern auch gerade denjenigen Punkt mit den Mitteln des »richtigen« Rechnens bzw. der »richtigen« Logik ausdrücklich bezeichnen müssen, an welchem die untersuchte Rechnung oder logische Aufstellung von dem, was der darstellende Schriftsteller seinerseits als normativ »richtig« ansieht, abweicht. Nicht notwendig nur zu dem praktisch-pädagogischen Zweck, den z.B. Windelband in der Einleitung zu seiner Geschichte der Philosophie in den Vordergrund stellt (»Warnungstafeln« vor »Holzwegen« aufzustellen), der doch nur einen erwünschten Nebenerfolg der historischen Arbeit bedeutet. Und auch nicht, weil jeder geschichtlichen Problematik, zu deren Objekt irgendwelche logische oder mathematische oder andere wissenschaftliche Erkenntnisse gehören, unvermeidlich nur der von uns als gültig anerkannte »Wahrheitswert« – und also der »Fortschritt« in der Richtung auf diesen – als einzig mögliche, für die Auslese maßgebende letzte Wertbeziehung zugrunde liegen könnte. (Obwohl selbst dann, wenn dies tatsächlich der Fall wäre, trotzdem der gerade von Windelband so oft festgestellte Sachverhalt zu beachten bliebe: daß der »Fortschritt« in diesem Sinne sehr oft statt des direkten Weges den – ökonomisch ausgedrückt – »ergiebigen[533] Produktionsumweg« über »Irrtümer«: Problemverschlingungen, eingeschlagen hat.) Sondern deshalb, weil (und also auch nur soweit, als) diejenigen Stellen, an welchen das als Objekt untersuchte geistige Gedankengebilde von demjenigen abweicht, welches der Schriftsteller selbst für »richtig« halten muß, regelmäßig zu den in seinen Augen ihm spezifisch »charakteristischen«, d.h. zu den, von ihm aus gesehen, entweder direkt wertbezogenen oder kausal unter dem Gesichtspunkt andrer wertbezogener Sachverhalte wichtigen gehören werden. Das wird nun allerdings normalerweise um so mehr der Fall sein, je mehr der Wahrheitswert von Gedanken der leitende Wert einer historischen Darstellung ist, also namentlich bei einer Geschichte einer bestimmten »Wissenschaft« (etwa der Philosophie, oder der theoretischen Nationalökonomie). Aber es ist keineswegs notwendig nur dann der Fall. Sondern es tritt ein wenigstens ähnlicher Sachverhalt überall da ein, wo ein subjektiv, der Absicht nach, rationales Handeln überhaupt den Gegenstand einer Darstellung bildet, und wo also »Denk«- oder »Rechen-Fehler« kausale Komponenten des Ablaufes des Handelns bilden können. Um z.B. die Führung eines Krieges zu »verstehen«, muß unvermeidlich – wenn auch nicht notwendig ausdrücklich oder in ausgeführter Form – beiderseits ein idealer Feldherr vorgestellt werden, dem die Gesamtsituation und Dislokation der beiderseitigen militärischen Machtmittel und die sämtlichen daraus sich ergebenden Möglichkeiten, das in concreto eindeutige Ziel: Zertrümmerung der gegnerischen Militärmacht, zu erreichen, bekannt und stets gegenwärtig gewesen wären, und der auf Grund dieser Kenntnis irrtumslos und auch logisch »fehlerfrei« gehandelt hätte. Denn nur dann kann eindeutig festgestellt werden, welchen kausalen Einfluß der Umstand, daß die wirklichen Feldherren weder jene Kenntnis noch diese Irrtumslosigkeit besaßen und daß sie überhaupt keine bloß rationalen Denkmaschinen waren, auf den Gang der Dinge gehabt hat. Die rationale Konstruktion hat also hier den Wert, als Mittel richtiger kausaler »Zurechnung« zu fungieren. Ganz den gleichen Sinn haben nun diejenigen utopischen Konstruktionen streng und irrtumslos rationalen Handelns, welche die »reine« ökonomische Theorie schafft.
Zum Zweck der kausalen Zurechnung empirischer Vorgänge bedürfen wir eben rationaler, je nachdem empirischtechnischer[534] oder auch logischer Konstruktionen, welche auf die Frage antworten: wie bei absoluter rationaler, empirischer und logischer »Richtigkeit« und »Widerspruchslosigkeit« ein Sachverhalt, möge er einen äußeren Zusammenhang des Handelns oder etwa ein Gedankengebilde (z.B. ein philosophisches System) darstellen, aussehen (oder ausgesehen haben) würde. Logisch betrachtet, ist nun aber die Konstruktion einer rational »richtigen« solchen Utopie dabei nur eine der verschiedenen möglichen Gestaltungen eines »Idealtypus« – wie ich (in einer mir für jeden anderen Ausdruck feilen Terminologie) solche Begriffsbildungen genannt habe. Denn nicht nur lassen sich, wie gesagt, Fälle denken, wo als Idealtypus gerade ein in charakteristischer Art falsches Schlußverfahren oder ein bestimmtes typisch zweckwidriges Verhalten einen besseren Dienst tun könnte. Sondern es gibt vor allem ganze Sphären des Verhaltens (die Sphäre des »Irrationalen«), wo nicht das Maximum von logischer Rationalität, sondern lediglich die durch isolierende Abstraktion gewonnene Eindeutigkeit jenen Dienst am besten leistet. Faktisch zwar verwendet der Forscher besonders häufig normativ »richtig« kunstruierte »Idealtypen«. Logisch betrachtet aber ist gerade dies: die normative »Richtigkeit« dieser Typen, kein Essentiale. Sondern es kann ein Forscher, um z.B. eine spezifische Art von typischer Gesinnung der Menschen einer Epoche zu charakterisieren, sowohl einen ihm persönlich ethisch normgemäß und in diesem Sinn objektiv »richtig«, wie einen ihm ethisch durchaus normwidrig erscheinenden Typus von Gesinnung konstruieren und dann das Verhalten der zu untersuchenden Menschen damit vergleichen, oder endlich auch einen Gesinnungstypus, für den er persönlich gar kein positives oder negatives Prädikat irgendeiner Art in Anspruch nimmt. Das normativ »Richtige« hat für diesen Zweck also keinerlei Monopol. Denn welchen Inhalt immer der rationale Idealtypus hat: ob er eine ethische, rechtsdogmatische, ästhetische oder religiöse Glaubensnorm oder eine technische oder ökonomische oder eine rechtspolitische oder sozialpolitische oder kulturpolitische Maxime oder eine in eine möglichst rationale Form gebrachte »Wertung« welcher Art immer darstellt, stets hat seine Konstruktion innerhalb empirischer Untersuchungen nur den Zweck: die empirische Wirklichkeit mit ihm zu »vergleichen«, ihren Kontrast oder ihren Abstand von ihm oder ihre relative Annäherung an ihn festzustellen,[535] um sie so mit möglichst eindeutig verständlichen Begriffen beschreiben und kausal zurechnend verstehen und erklären zu können. Diese Funktionen versieht die rationale rechtsdogmatische Begriffsbildung z.B. für die empirische Disziplin der Rechtsgeschichte (vgl. dazu S. 337 ff. dieses Bandes) und die rationale Kalkulationslehre für die Analyse des realen Verhaltens der Einzelwirtschaften in der Erwerbswirtschaft. Beide eben genannten dogmatischen Disziplinen haben nun natürlich außerdem noch als »Kunstlehren« eminente normativ-praktische Zwecke. Und beide Disziplinen sind in dieser ihrer Eigenschaft, als dogmatische Wissenschaften, ebensowenig empirische Disziplinen im hier erörterten Sinn wie etwa Mathematik, Logik, normative Ethik, Aesthetik, von denen sie im übrigen aus anderen Gründen so völlig verschieden sind wie diese untereinander es auch sind.
Die ökonomische Theorie endlich ist offensichtlich eine Dogmatik in einem logisch sehr anderen Sinn als etwa die Rechtsdogmatik. Ihre Begriffe verhalten sich zur ökonomischen Realität spezifisch anders als diejenigen der Rechtsdogmatik zur Realität des Objekts der empirischen Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie. Aber wie die dogmatischen Rechtsbegriffe als »Idealtypen« für die letzteren verwertet werden können und müssen, so ist diese Art der Verwendung für die Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit der Gegenwart und Vergangenheit der geradezu ausschließliche Sinn der reinen ökonomischen Theorie. Sie macht bestimmte, in der Realität kaum jemals rein erfüllte, aber in verschieden starker Annäherung an sie anzutreffende Voraussetzungen und fragt: wie sich das soziale Handeln von Menschen, wenn es strikt rational verliefe, unter diesen Voraussetzungen gestalten würde. Sie unterstellt insbesondere das Walten rein ökonomischer Interessen und schaltet also den Einfluß machtpolitischer ebenso wie anderer außerökonomischer Orientierungen des Handelns aus.
Nun vollzog sich aber in ihr der typische Hergang der »Problemverschlingung«. Denn jene, in diesem Sinn, »staatsfreie«, »moralfreie«, »individalistische« reine Theorie, welche als methodisches Hilfsmittel unentbehrlich war und immer sein wird, faßte die radikale Freihandelsschule als ein erschöpfendes Abbild der »natürlichen«, d.h. der nicht durch menschliche Torheit verfälschten, Wirklichkeit, darüber hinaus aber und auf Grunds[536] dessen als ein »Sollen« auf: als ein in der Wertsphäre geltendes Ideal statt als einen für die empirische Erforschung des Seienden brauchbaren Idealtypus. Als infolge wirtschafts- und sozialpolitischer Aenderungen der Einschätzung des Staats der Rückschlag in der Wertungssphäre eintrat, griff er seinerseits alsbald auf die Seinssphäre über und verwarf die reine ökonomische Theorie nicht nur als Ausdruck eines Ideals – als welches zu gelten sie nie hätte beanspruchen dürfen –, sondern auch als methodischen Weg zur Erforschung des Tatsächlichen. »Philosophische« Erwägungen der verschiedensten Art sollten die rationale Pragmatik ersetzen, und bei der Identifizierung des »psychologisch« Seienden mit dem ethisch Geltenden wurde eine reinliche Scheidung der Wertungssphäre von der empirischen Arbeit undurchführbar. Die außerordentlichen Leistungen der Träger dieser wissenschaftlichen Entwicklung auf historischem, soziologischem, sozialpolitischem Gebiet sind ebenso allgemein anerkannt, wie für den unbefangen Urteilenden der Jahrzehnte dauernde völlige Verfall der theoretischen und der streng wirtschaftswissenschaftlichen Arbeit überhaupt als naturgemäße Folge jener Problemvermischung zutage liegt. Die eine der beiden Hauptthesen, mit welchen die Gegner der reinen Theorie arbeiteten, war: daß die rationale Konstruktion dieser »reine Fiktionen« seien, welche über die Realität der Tatsachen nichts aussagten. Richtig verstanden, trifft diese Behauptung zu. Denn die theoretischen Konstruktionen stehen durchaus nur im Dienst der von ihnen selbst keineswegs gelieferten Erkenntnis der Realitäten, welche, infolge der Mitwirkung anderer, in ihren Voraussetzungen nicht enthaltener, Umstände und Motivenreihen, selbst im äußersten Fall nur Annäherungen an den konstruierten Verlauf enthalten. Das beweist freilich, nach dem Gesagten, nicht das mindeste gegen die Brauchbarkeit und Notwendigkeit der reinen Theorie. Die zweite These war: daß es jedenfalls eine wertungsfreie Lehre von der Wirtschaftspolitik als Wissenschaft nicht geben könne. Sie ist natürlich grundfalsch, so falsch, daß gerade die »Wertungsfreiheit« – im vorstehend vertretenen Sinn – die Voraussetzung jeder rein wissenschaftlichen Behandlung der Politik, insbesondere der Sozial- und Wirtschaftspolitik, ist. Daß es selbstverständlich möglich, wissenschaftlich nützlich und nötig ist, Sätze zu entwickeln von dem Typus: für die Erreichung des (wirtschaftspolitischen) Erfolgs x ist y das einzige oder sind[537] – unter den Bedingungen b1, b2, b3 – y1, y2, y3 die einzigen oder die erfolgreichsten Mittel, bedarf wohl nicht der Wiederholung. Und nur daran sei nachdrücklich erinnert, daß das Problem in der Möglichkeit absoluter Eindeutigkeit der Bezeichnung des Erstrebten besteht. Liegt diese vor, dann handelt es sich um einfache Umkehrung von Kausalsätzen und also um ein rein »technisches« Problem. Eben deshalb liegt aber auch in allen diesen Fällen gar kein Zwang für die Wissenschaft vor, diese technischen teleologischen Sätze nicht als einfache Kausalsätze, also in der Form zu fassen: auf y folgt stets bzw. auf y1, y2, y3 folgt unter den Bedingungen b1, b2, b3 der Erfolg x. Denn das besagt genau dasselbe, und die »Rezepte« kann sich der »Praktiker« daraus unschwer entnehmen. Aber die wissenschaftliche Lehre von der Wirtschaft hat denn doch neben der Ermittlung rein idealtypischer Formeln einerseits und andrerseits der Feststellung solcher kausalen wirtschaftlichen Einzelzusammenhänge – denn um solche handelt es sich ausnahmslos, wenn »x« hinlänglich eindeutig und also die Zurechnung des Erfolgs zur Ursache und also des Mittels zum Zweck hinlänglich streng sein soll – noch einige andere Aufgaben. Sie hat außerdem die Gesamtheit der gesellschaftlichen Erscheinungen auf die Art ihrer Mitbedingtheit durch ökonomische Ursachen zu untersuchen: durch ökonomische Geschichts- und Gesellschaftsdeutung. Und sie hat andererseits die Bedingtheit der Wirtschaftsvorgänge und Wirtschaftsformen durch die gesellschaftlichen Erscheinungen nach deren verschiedenen Arten und Entwicklungsstadien zu ermitteln: die Aufgabe der Geschichte und Soziologie der Wirtschaft. Zu diesen gesellschaftlichen Erscheinungen gehören selbstverständlich, und zwar in allererster Linie, die politischen Handlungen und Gebilde, vor allem also: der Staat und das staatlich garantierte Recht. Aber ebenso selbstverständlich nicht die politischen allein. Sondern die Gesamtheit aller derjenigen Gebilde, welche – in einem für das wissenschaftliche Interesse hinlänglich relevanten Grade – die Wirtschaft beeinflussen. Der Ausdruck: Lehre von der »Wirtschaftspolitik« wäre natürlich für die Gesamtheit dieser Probleme sehr wenig geeignet. Sein dennoch vorkommender Gebrauch dafür ist nur durch die, äußerlich aus dem Charakter der Universitäten als Bildungsstätten für Staatsbeamte, innerlich aber aus den zur intensiven Beeinflussung der Wirtschaft besonders fähigen gewaltigen Machtmitteln des[538] Staats, sich ergebende praktische Wichtigkeit gerade seiner Betrachtung erklärlich. Daß bei allen diesen Untersuchungen Umkehrungen von Aussagen über »Ursache und Wirkung« in solche über »Mittel und Zweck« jedesmal dann möglich sind, wenn der Erfolg, um den es sich handelt, hinlänglich eindeutig angegeben werden kann, bedarf kaum der erneuten Feststellung. An dem logischen Verhältnis von Wertungssphäre und Sphäre des empirischen Erkennens wird dadurch natürlich auch hier nichts geändert. Und nur auf eins soll zum Schluß in diesem Zusammenhang noch hin gewiesen werden.
Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte und vollends die beispiellosen Geschehnisse, deren Zeugen wir jetzt sind, haben das Prestige gerade des Staates gewaltig gesteigert. Ihm allein von allen sozialen Gemeinschaften wird heute »legitime« Macht über Leben, Tod und Freiheit zugeschrieben und seine Organe machen davon Gebrauch: im Krieg gegen äußere Feinde, im Frieden und Krieg gegen innere Widerstände. Er ist im Frieden der größte Wirtschaftsunternehmer und machtvollste Tributherr der Bürger, im Krieg aber der Träger schrankenlosester Verfügung über alle ihm zugänglichen Wirtschaftsgüter. Seine moderne, rationalisierte, Betriebsform hat auf zahlreichen Gebieten Leistungen ermöglicht, welche zweifellos von gar keinem andersartig vergesellschafteten Zusammenhandeln auch nur annähernd ähnlich vollbracht werden könnten. Es konnte kaum ausbleiben, daß daraus die Folgerung gezogen wurde: er müsse auch – zumal für Wertungen, die sich auf dem Gebiet der »Politik« bewegen – der letzte »Wert« sein, an dessen Daseinsinteressen alles gesellschaftliche Handeln letztlich zu messen sei. Allein auch dies ist eine durchaus unzulässige Umdeutung von Tatsachen der Seinssphäre in Normen der Wertungssphäre, wobei hier von der fehlenden Eindeutigkeit der Konsequenzen aus jener Wertung, die sich bei jeder Erörterung der »Mittel« (der »Erhaltung« oder »Förderung« des »Staats«) bald zeigt, ganz abgesehen werden soll. Innerhalb der Sphäre des rein Tatsächlichen ist zunächst gerade gegenüber jenem Prestige die Feststellung zu treffen: daß der Staat gewisse Dinge nicht kann. Und zwar sogar auf den Gebieten, welche als seine eigenste Domäne gelten: den militärischen. Die Beobachtung mancher Erscheinungen, welche der jetzige Krieg bei den Armeen national gemischter Staaten hat hervortreten lassen, lehrt, daß die vom[539] Staat nicht erzwingbare freie Hingabe des Einzelnen an die Sache, welche sein Staat vertritt, auch für den militärischen Erfolg nicht gleichgültig ist. Und auf wirtschaftlichem Gebiet sei nur angedeutet: daß die Uebertragung der Kriegsformen und Kriegsprinzipien der Wirtschaft auf den Frieden als dauernder Erscheinungen sehr schnell Folgen haben könnte, welche gerade den Vertretern expansiver Staatsideale das Konzept verderben würden. Dies ist indessen hier nicht weiter zu besprechen. In der Wertungssphäre aber ist ein Standpunkt sehr wohl sinnvoll vertretbar, der die Macht des Staates im Interesse seiner Verwertbarkeit als Zwangsmittel gegen Widerstände auf das denkbar äußerste gesteigert sehen möchte, andererseits aber ihm jeglichen Eigenwert abspricht und ihn zu einem bloßen technischen Hilfsmittel für die Verwirklichung ganz anderer Werte stempelt, von denen allein er seine Würde zu Lehen tragen und also auch nur so lange bewahren könne, als er sich dieses seines Handlangerberufs nicht zu entschlagen versuche.
Hier soll natürlich weder dieser noch überhaupt irgendeiner der möglichen Wertungsstandpunkte entwickelt oder gar vertreten werden. Sondern es soll nur daran erinnert werden: daß, wenn irgend etwas, dann wohl dies eine berufsmäßigen »Denkern« besonders nahezulegende Obliegenheit ist: sich gegenüber den jeweilig herrschenden Idealen, auch den majestätischsten, einen kühlen Kopf im Sinn der persönlichen Fähigkeit zu bewahren, nötigenfalls »gegen den Strom zu schwimmen«. Die »deutschen Ideen von 1914« waren ein Literatenprodukt. Der »Sozialismus der Zukunft« ist eine Phrase für die Rationalisierung der Wirtschaft durch eine Kombination von weiterer Bürokratisierung und Zweckverbandsverwaltung durch Interessenten. Wenn der Fanatismus wirtschaftspolitischer Ressortpatrioten für diese rein technischen Maßnahmen, statt sachlicher Erörterung ihrer Zeckmäßigkeit, die zum guten Teil ganz nüchtern finanzpolitisch bedingt ist, die Weihe nicht nur der deutschen Philosophie, sondern auch der Religion herabbeschwört, – wie es heute massenhaft geschieht –, so ist das nichts als eine widerwärtige Geschmacksentgleisung sich wichtig nehmender Literaten. Wie die realen »deutschen Ideen von 1918«, bei deren Formung die heimkehrenden Krieger das Wort haben werden, aussehen könnten oder sollten, kann heut vorweg wohl noch niemand sagen. Auf diese aber wird es wohl für die Zukunft ankommen. –
1 Umarbeitung eines für eine interne Diskussion im Ausschuß des »Vereins für Sozialpolitik« 1913 erstatteten, als Manuskript gedruckten Gutachtens. Ausgeschaltet wurde möglichst alles nur diesen Verband Interessierende, erweitert [sind] die allgemeinen methodologischen Betrachtungen. Von anderen für jene Diskussion erstatteten Gutachten ist dasjenige von Professor Spranger in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft publiziert worden. Ich gestehe, daß ich diese Arbeit jenes auch von mir geschätzten Philosophen für merkwürdig schwach, weil nicht zur Klarheit gediehen, halte, vermeide aber jede Polemik mit ihm schon aus Raumgründen und lege nur den eigenen Standpunkt dar.
2 Dafür genügt noch keineswegs das holländische Prinzip: Entbindung auch der theologischen Fakultät vom Bekenntniszwang, aber Freiheit der Universitätsgründung im Falle der Sicherung der Geldmittel und der Innehaltung der Qualifikationsvorschriften für die Lehrstuhlbesetzung und privates Recht der Stiftung von Lehrstühlen mit Präsentationspatronat der Stifter. Denn das prämiiert nur den Geldbesitz und die ohnehin im Besitz der Macht befindlichen autoritären Organisationen: nur klerikale Kreise haben bekanntlich davon Gebrauch gemacht.
3 Das ist keine deutsche Eigentümlichkeit. In fast allen Ländern bestehen, offen oder verhüllt, tatsächliche Schranken. Nur die Art der dadurch ausgeschlossenen Wertprobleme ist verschieden.
4 Ich muß mich auf das beziehen, was ich in den vorangehenden Aufsätzen S. 146 ff., ferner S. 215 ff., 291 ff., gesagt habe (die, wie recht wohl möglich ist, zuweilen ungenügende Korrektheit der Einzelformulierungen dürfte keinen zur Sache wesentlichen Punkt betreffen), und möchte für die »Unaustragbarkeit« gewisser letzter Wertungen auf einem wichtigen Problemgebiet u.a. namentlich auf G. Radbruchs »Einführung in die Rechtswissenschaft« (2. Aufl. 1913) verwiesen haben. Ich weiche in einigen Punkten von ihm ab. Aber für das hier erörterte Problem sind sie nicht von Bedeutung.
5 In seinem Artikel über die »Volkswirtschaftslehre« im Handwb. der Staatswissenschaften (3. Aufl., Bd. VIII, S. 426-501).
6 Original-Verweisung: Arch. f. Soz.wiss.u. Soz.pol. Bd. XXII S. 168 f.
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