[542] 1. »Sinn« ist hier entweder a) der tatsächlich Ρ. in einem historisch gegebenen Fall von einem Handelnden oder χ. durchschnittlich und annähernd in einer gegebenen Masse von Fällen von den Handelnden oder b) in einem begrifflich konstruierten reinen Typus von dem oder den als Typus gedachten Handelnden subjektiv gemeinte Sinn. Nicht etwa irgendein objektiv »richtiger« oder ein metaphysisch ergründeter »wahrer« Sinn. Darin liegt der Unterschied der empirischen Wissenschaften vom Handeln: der Soziologie und der Geschichte, gegenüber allen dogmatischen: Jurisprudenz, Logik, Ethik, Aesthetik, welche an ihren Objekten den »richtigen«, »gültigen«, Sinn erforschen wollen.
2. Die Grenze sinnhaften Handelns gegen ein bloß (wie wir hier sagen wollen:) reaktives, mit einem subjektiv gemeinten Sinn nicht verbundenes, Sichverhalten ist durchaus flüssig. Ein sehr bedeutender Teil alles soziologisch relevanten Sichverhaltens, insbesondere das rein traditionale Handeln (s.u.) steht auf der Grenze beider. Sinnhaftes, d.h. verstehbares, Handeln liegt in manchen Fällen psychophysischer Vorgänge gar nicht, in anderen nur für den Fachexperten vor; mystische und daher[542] in Worten nicht adäquat kommunikable Vorgänge sind für den solchen Erlebnissen nicht Zugänglichen nicht voll verstehbar. Dagegen ist die Fähigkeit, aus Eignem ein gleichartiges Handeln zu produzieren, nicht Voraussetzung der Verstehbarkeit: »man braucht nicht Cäsar zu sein, um Cäsar zu verstehen.« Die volle »Nacherlebbarkeit« ist für die Evidenz des Verstehens wichtig, nicht aber absolute Bedingung der Sinndeutung. Verstehbare und nicht verstehbare Bestandteile eines Vorgangs sind oft untermischt und verbunden.
3. Alle Deutung strebt, wie alle Wissenschaft überhaupt, nach »Evidenz«. Evidenz des Verstehens kann [a)] entweder: rationalen (und alsdann entweder logischen oder mathematischen), [b)] oder: einfühlend nacherlebenden (emotionalen, künstlerischrezeptiven) Charakters sein. Rational evident ist auf dem Gebiet des Handelns vor allem das in seinem gemeinten Sinnzusammenhang restlos und durchsichtig intellektuell Verstandene. Einfühlend evident ist am Handeln das in seinem erlebten Gefühlszusammenhang voll Nacherlebte. Rational verständlich, d.h. also hier: unmittelbar und eindeutig intellektuell sinnhaft erfaßbar, sind im Höchstmaß vor allem die im Verhältnis mathematischer oder logischer Aussagen zueinander stehenden Sinnzusammenhänge. Wir verstehen ganz eindeutig, was es sinnhaft bedeutet, wenn jemand den Satz 2 x 2 = 4 oder den pythagoreischen Lehrsatz denkend oder argumentierend verwertet, oder wenn er eine logische Schlußkette – nach unseren Denkgepflogenheiten: – »richtig« vollzieht. Ebenso, wenn er aus uns als »bekannt« geltenden »Erfahrungstatsachen« und aus gegebenen Zwecken die für die Art der anzuwendenden »Mittel« sich (nach unseren Erfahrungen) eindeutig ergebenden Konsequenzen in seinem Handeln zieht. Jede Deutung eines derart rational orientierten Zweckhandelns besitzt – für das Verständnis der angewendeten Mittel – das Höchstmaß von Evidenz. Mit nicht der gleichen, aber mit einer für unser Bedürfnis nach Erklärung hinlänglichen Evidenz verstehen wir aber auch solche »Irrtümer« (einschließlich der »Problemverschlingungen«), denen wir selbst zugänglich sind oder deren Entstehung einfühlend erlebbar gemacht werden kann. Hingegen manche letzten »Zwecke« und »Werte«, an denen das Handeln eines Menschen erfahrungsgemäß orientiert sein kann, vermögen wir sehr oft nicht voll evident zu verstehen, sondern unter Umständen zwar intellektuell[543] zu erfassen, dabei aber andrerseits, je radikaler sie von unsren eigenen letzten Werten abweichen, desto schwieriger uns durch die einfühlende Phantasie nacherlebend verständlich zu machen. Je nach Lage des Falles müssen wir uns dann begnügen, sie nur intellektuell zu deuten, oder unter Umständen, wenn auch das mißlingt, geradezu: sie als Gegebenheiten einfach hinzu nehmen, und aus ihren soweit als möglich intellektuell gedeuteten oder soweit möglich einfühlend annäherungsweise nacherlebten Richtpunkten den Ablauf des durch sie motivierten Handelns uns verständlich machen. Dahin gehören z.B. viele religiöse und karitative Virtuosenleistungen für den dafür Unempfänglichen. Ebenso auch extrem rationalistische Fanatismen (»Menschenrechte«) für den, der diese Richtpunkte seinerseits radikal perhorresziert. – Aktuelle Affekte (Angst, Zorn, Ehrgeiz, Neid, Eifersucht, Liebe, Begeisterung, Stolz, Rachedurst, Pietät, Hingabe, Begierden aller Art) und die (vom rationalen Zweckhandeln aus angesehen:) irrationalen aus ihnen folgenden Reaktionen vermögen wir, je mehr wir ihnen selbst zugänglich sind, desto evidenter emotional nachzuerleben, in jedem Fall aber, auch wenn sie ihrem Grade nach unsre eignen Möglichkeiten absolut übersteigen, sinnhaft einfühlend zu verstehen und in ihrer Einwirkung auf die Richtung und Mittel des Handelns intellektuell in Rechnung zu stellen.
Für die typenbildende wissenschaftliche Betrachtung werden nun alle irrationalen, affektuell bedingten, Sinnzusammenhänge des Sichverhaltens, die das Handeln beeinflussen, am übersehbarsten als »Ablenkungen« von einem konstruierten rein zweckrationalen Verlauf desselben erforscht und dargestellt. Z.B. wird bei Erklärung einer »Börsenpanik« zweckmäßigerweise zunächst festgestellt: wie ohne Beeinflussung durch irrationale Affekte das Handeln abgelaufen wäre, und dann werden jene irrationalen Komponenten als »Störungen« eingetragen. Ebenso wird bei einer politischen oder militärischen Aktion zunächst zweckmäßigerweise festgestellt: wie das Handeln bei Kenntnis aller Umstände und aller Absichten der Mitbeteiligten und bei streng zweckrationaler, an der uns gültig scheinenden Erfahrung orientierter, Wahl der Mittel verlaufen wäre. Nur dadurch wird alsdann die kausale Zurechnung von Abweichungen davon zu den sie bedingenden Irrationalitäten möglich. Die Konstruktion eines streng zweckrationalen Handelns also dient[544] in diesen Fällen der Soziologie, seiner evidenten Verständlichkeit und seiner – an der Rationalität haftenden – Eindeutigkeit wegen, als Typus (»Idealtypus«), um das reale, durch Irrationalitäten aller Art (Affekte, Irrtümer) beeinflußte Handeln als »Abweichung« von dem bei rein rationalem Verhalten zu gewärtigenden Verlaufe zu verstehen.
Insofern und nur aus diesem methodischen Zweckmäßigkeitsgrunde ist die Methode der »verstehenden« Soziologie »rationalistisch«. Dies Verfahren darf aber natürlich nicht als ein rationalistisches Vorurteil der Soziologie, sondern nur als methodisches Mittel verstanden und also nicht etwa zu dem Glauben an die tatsächliche Vorherrschaft des Rationalen über das Leben umgedeutet werden. Denn darüber, inwieweit in der Realität rationale Zweckerwägungen das tatsächliche Handeln bestimmen und inwieweit nicht, soll es ja nicht das Mindeste aussagen. (Daß die Gefahr rationalistischer Deutungen am unrechten Ort naheliegt, soll damit nicht etwa geleugnet werden. Alle Erfahrung bestätigt leider deren Existenz.)
4. Sinnfremde Vorgänge und Gegenstände kommen für alle Wissenschaften vom Handeln als: Anlaß, Ergebnis, Förderung oder Hemmung menschlichen Handelns in Betracht. »Sinnfremd« ist nicht identisch mit »unbelebt« oder »nichtmenschlich«. Jedes Artefakt, z.B. eine »Maschine«, ist lediglich aus dem Sinn deutbar und verständlich, den menschliches Handeln (von möglicherweise sehr verschiedener Zielrichtung) der Herstellung und Verwendung dieses Artefakts verlieh (oder verleihen wollte); ohne Zurückgreifen auf ihn bleibt sie gänzlich unverständlich. Das Verständliche daran ist also die Bezogenheit menschlichen Handelns darauf, entweder als »Mittel« oder als »Zweck«, der dem oder den Handelnden vorschwebte und woran ihr Handeln orientiert wurde. Nur in diesen Kategorien findet ein Verstehen solcher Objekte statt. Sinnfremd bleiben dagegen alle – belebten, unbelebten, außermenschlichen, menschlichen – Vorgänge oder Zuständlichkeiten ohne gemeinten Sinngehalt, soweit sie nicht in die Beziehung vom »Mittel« und »Zweck« zum Handeln treten, sondern nur seinen Anlaß, seine Förderung oder Hemmung darstellen. Der Einbruch des Dollart ausgangs des 13. Jahrhunderts [1277] hat (vielleicht!) »historische« Bedeutung als Auslösung gewisser Umsiedlungsvorgänge von beträchtlicher geschichtlicher Tragweite. Die Absterbeordnung[545] und der organische Kreislauf des Lebens überhaupt: von der Hilflosigkeit des Kindes bis zu der des Greises, hat natürlich erstklassige soziologische Tragweite durch die verschiedenen Arten, in welchen menschliches Handeln sich an diesem Sachverhalt orientiert hat und orientiert. Eine wiederum andere Kategorie bilden die nicht verstehbaren Erfahrungssätze über den Ablauf psychischer oder psycho-physiologischer Erscheinungen (Ermüdung, Uebung, Gedächtnis usw., ebenso aber z.B. typische Euphorien bei bestimmten Formen der Kasteiung, typische Unterschiede der Reaktionsweisen nach Tempo, Art, Eindeutigkeit usw.). Letztlich ist der Sachverhalt aber der gleiche wie bei anderen unverstehbaren Gegebenheiten: wie der praktisch Handelnde, so nimmt die verstehende Betrachtung sie als »Daten« hin, mit denen zu rechnen ist.
Die Möglichkeit ist nun gegeben, daß künftige Forschung auch unverstehbare Regelmäßigkeiten für sinnhaft besondertes Verhalten auffindet, so wenig dies bisher der Fall ist. Unterschiede des biologischen Erbguts (der »Rassen«) z.B. würden – wenn und soweit der statistisch schlüssige Nachweis des Einflusses auf die Art des soziologisch relevanten Sichverhaltens, also: insbesondre des sozialen Handelns in der Art seiner Sinnbezogenheit, erbracht würde, – für die Soziologie als Gegebenheiten ganz ebenso hinzunehmen sein, wie die physiologischen Tatsachen etwa der Art des Nahrungsbedarfs oder der Wirkung der Seneszenz auf das Handeln. Und das Anerkenntnis ihrer kausalen Bedeutung würde natürlich die Aufgaben der Soziologie (und der Wissenschaften vom Handeln überhaupt): die sinnhaft orientierten Handlungen deutend zu verstehen, nicht im mindesten ändern. Sie würde in ihre verständlich deutbaren Motivationszusammenhänge an gewissen Punkten nur unverstehbare Tatsachen (etwa: typische Zusammenhänge der Häufigkeit bestimmter Zielrichtungen des Handelns, oder des Grades seiner typischen Rationalität, mit Schädelindex oder Hautfarbe oder welchen andren physiologischen Erbqualitäten immer) einschalten, wie sie sich schon heute (s. o.) darin vorfinden.
5. Verstehen kann heißen: 1. das aktuelle Verstehen des gemeinten Sinnes einer Handlung (einschließlich: einer Aeußerung). Wir »verstehen« z.B. aktuell den Sinn des Satzes 2 x 2 = 4, den wir hören oder lesen (rationales aktuelles Verstehen von Gedanken) oder einen Zornausbruch, der sich in Gesichtsausdruck,[546] Interjektionen, irrationalen Bewegungen manifestiert (irrationales aktuelles Verstehen von Affekten) oder das Verhalten eines Holzhackers oder jemandes, der nach der Klinke greift, um die Tür zu schließen, oder der auf ein Tier mit dem Gewehr anlegt (rationales aktuelles Verstehen von Handlungen). – Verstehen kann aber auch heißen: 2. erklärendes Verstehen. Wir »verstehen« motivationsmäßig, welchen Sinn derjenige, der den Satz 2 x 2 = 4 ausspricht, oder niedergeschrieben hat, damit verband, daß er dies gerade jetzt und in diesem Zusammenhang tat, wenn wir ihn mit einer kaufmännischen Kalkulation, einer wissenschaftlichen Demonstration, einer technischen Berechnung oder einer anderen Handlung befaßt sehen, in deren Zusammenhang nach ihrem uns verständlichen Sinn dieser Satz »hineingehört«, das heißt: einen uns verständlichen Sinnzusammenhang gewinnt (rationales Motivationsverstehen). Wir verstehen das Holzhacken oder Gewehranlegen nicht nur aktuell, sondern auch motivationsmäßig, wenn wir wissen, daß der Holzhacker entweder gegen Lohn oder aber für seinen Eigenbedarf oder zu seiner Erholung (rational), oder etwa »weil er sich eine Erregung abreagierte« (irrational), oder wenn der Schießende auf Befehl zum Zweck der Hinrichtung oder der Bekämpfung von Feinden (rational) oder aus Rache (affektuell, also in diesem Sinn: irrational) diese Handlung vollzieht. Wir verstehen endlich motivationsmäßig den Zorn, wenn wir wissen, daß ihm Eifersucht, gekränkte Eitelkeit, verletzte Ehre zugrunde liegt (affektuell bedingt, also: irrational motivationsmäßig). Alles dies sind verständliche Sinnzusammenhänge, deren Verstehen wir als ein Erklären des tatsächlichen Ablaufs des Handelns ansehen. »Erklären« bedeutet also für eine mit dem Sinn des Handelns befaßte Wissenschaft soviel wie: Erfassung des Sinnzusammenhangs, in den, seinem subjektiv gemeinten Sinn nach, ein aktuell verständliches Handeln hineingehört. (Ueber die kausale Bedeutung dieses »Erklärens« s. Nr. 6.) In allen diesen Fällen, auch bei affektuellen Vorgängen, wollen wir den subjektiven Sinn des Geschehens, auch des Sinnzusammenhanges als »gemeinten« Sinn bezeichnen (darin also über den üblichen Sprachgebrauch hinausgehend, der von »Meinen« in diesem Verstand nur bei rationalem und zweckhaft beabsichtigtem Handeln zu sprechen pflegt).
6. »Verstehen« heißt in allen diesen Fällen: deutende Erfassung:[547] a) des im Einzelfall real gemeinten (bei historischer Betrachtung) oder b) des durchschnittlich und annäherungsweise gemeinten (bei soziologischer Massenbetrachtung) oder c) des für den reinen Typus (Idealtypus) einer häufigen Erscheinung wissenschaftlich zu konstruierenden (»idealtypischen«) Sinnes oder Sinnzusammenhangs. Solche idealtypische Konstruktionen sind z.B. die von der reinen Theorie der Volkswirtschaftslehre aufgestellten Begriffe und »Gesetze«. Sie stellen dar, wie ein bestimmt geartetes, menschliches Handeln ablaufen würde, wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört, und wenn es ferner ganz eindeutig nur an einem Zweck (Wirtschaft) orientiert wäre. Das reale Handeln verläuft nur in seltenen Fällen (Börse) und auch dann nur annäherungsweise so, wie im Idealtypus konstruiert2.
Jede Deutung strebt zwar nach Evidenz [Nr. 3]. Aber eine sinnhaft noch so evidente Deutung kann als solche und um dieses Evidenzcharakters willen noch nicht beanspruchen: auch die kausal gültige Deutung zu sein. Sie ist stets an sich nur eine besonders evidente kausale Hypothese. a) Es verhüllen vorgeschobene »Motive« und »Verdrängungen« (d.h. zunächst: nicht eingestandene Motive) oft genug gerade dem Handelnden selbst den wirklichen Zusammenhang der Ausrichtung seines Handelns derart, daß auch subjektiv aufrichtige Selbstzeugnisse nur relativen Wert haben. In diesem Fall steht die Soziologie vor der Aufgabe, diesen Zusammenhang zu ermitteln und deutend festzustellen, obwohl er nicht, oder meist: nicht voll, als in concreto »gemeint« ins Bewußtsein gehoben wurde: ein Grenzfall der Sinndeutung. b) Aeußeren Vorgängen des Handelns, die uns als »gleich« oder »ähnlich« gelten, können höchst verschiedene Sinnzusammenhänge bei dem oder den Handelnden zugrunde liegen, und wir »verstehen« auch ein sehr stark abweichendes, oft sinnhaft geradezu gegensätzliches Handeln gegenüber Situationen, die wir als unter sich »gleichartig« ansehen (Beispiele bei Simmel, Probl. der Geschichtsphil.). c) Die handelnden Menschen sind gegebenen Situationen gegenüber sehr oft gegensätzlichen, miteinander kämpfenden Antrieben ausgesetzt, die wir sämtlich »verstehen«. In welcher relativen Stärke aber die verschiedenen im »Motivenkampf« liegenden, uns untereinander gleich verständlichen Sinnbezogenheiten im Handeln[548] sich auszudrücken pflegen, läßt sich, nach aller Erfahrung, in äußerst vielen Fällen nicht einmal annähernd, durchaus regelmäßig aber nicht sicher, abschätzen. Der tatsächliche Ausschlag des Motivenkampfes allein gibt darüber Aufschluß. Kontrolle der verständlichen Sinndeutung durch den Erfolg: den Ausschlag im tatsächlichen Verlauf, ist also, wie bei jeder Hypothese, unentbehrlich. Sie kann mit relativer Genauigkeit nur in den leider wenigen und sehr besondersartigen dafür geeigneten Fällen im psychologischen Experiment erreicht werden. Nur in höchst verschiedener Annäherung in den (ebenfalls begrenzten) Fällen zählbarer und in ihrer Zurechnung eindeutiger Massenerscheinungen durch die Statistik. Im übrigen gibt es nur die Möglichkeit der Vergleichung möglichst vieler Vorgänge des historischen oder Alltagslebens, welche sonst gleichartig, aber in dem entscheidenden einen Punkt: dem jeweils auf seine praktische Bedeutsamkeit hin untersuchten »Motiv« oder »Anlaß«, verschieden geartet sind: eine wichtige Aufgabe der vergleichenden Soziologie. Oft freilich bleibt leider nur das unsichere Mittel des »gedanklichen Experiments«, d.h. des Fortdenkens einzelner Bestandteile der Motivationskette und der Konstruktion des dann wahrscheinlichen Verlaufs, um eine kausale Zurechnung zu erreichen.
Das sog. »Greshamsche Gesetz« z.B. ist eine rational evidente Deutung menschlichen Handelns bei gegebenen Bedingungen und unter der idealtypischen Voraussetzung rein zweckrationalen Handelns. Inwieweit tatsächlich ihm entsprechend gehandelt wird, kann nur die (letztlich im Prinzip irgendwie »statistisch« auszudrückende) Erfahrung über das tatsächliche Verschwinden der jeweils in der Geldverfassung zu niedrig bewerteten Münzsorten aus dem Verkehr lehren: sie lehrt tatsächlich seine sehr weitgehende Gültigkeit. In Wahrheit ist der Gang der Erkenntnis der gewesen: daß zuerst die Erfahrungsbeobachtungen vorlagen und dann die Deutung formuliert wurde. Ohne diese gelungene Deutung wäre unser kausales Bedürfnis offenkundig unbefriedigt. Ohne den Nachweis andrerseits, daß der – wie wir einmal annehmen wollen – gedanklich erschlossene Ablauf des Sichverhaltens auch wirklich in irgendeinem Umfang eintritt, wäre ein solches an sich noch so evidentes »Gesetz« für die Erkenntnis des wirklichen Handelns eine wertlose Konstruktion. In diesem Beispiel ist die Konkordanz von Sinnadäquanz[549] und Erfahrungsprobe durchaus schlüssig und sind die Fälle zahlreich genug, um die Probe auch als genügend gesichert anzusehen. Die sinnhaft erschließbare, durch symptomatische Vorgänge (Verhalten der hellenischen Orakel und Propheten zu den Persern) gestützte geistvolle Hypothese Ed. Meyers über die kausale Bedeutung der Schlachten von Marathon, Salamis, Plataiai für die Eigenart der Entwicklung der hellenischen (und damit der okzidentalen) Kultur ist nur durch diejenige Probe zu erhärten, welche an den Beispielen des Verhaltens der Perser im Falle des Sieges (Jerusalem, Aegypten, Kleinasien) gemacht werden kann und in vieler Hinsicht notwendig unvollkommen bleiben muß. Die bedeutende rationale Evidenz der Hypothese muß hier notgedrungen als Stütze nachhelfen. In sehr vielen Fällen sehr evident scheinender historischer Zurechnung fehlt aber jede Möglichkeit auch nur einer solchen Probe, wie sie in diesem Fall noch möglich war. Alsdann bleibt die Zurechnung eben endgültig »Hypothese«.
7. »Motiv« heißt ein Sinnzusammenhang, welcher dem Handelnden selbst oder dem Beobachtenden als sinnhafter »Grund« eines Verhaltens erscheint. »Sinnhaft adäquat« soll ein zusammenhängend ablaufendes Verhalten in dem Grade heißen, als die Beziehung seiner Bestandteile von uns nach den durchschnittlichen Denk- und Gefühlsgewohnheiten als typischer (wir pflegen zu sagen: »richtiger«) Sinnzusammenhang bejaht wird. »Kausal adäquat« soll dagegen ein Aufeinanderfolgen von Vorgängen in dem Grade heißen, als nach Regeln der Erfahrung eine Chance besteht: daß sie stets in gleicher Art tatsächlich abläuft. (Sinnhaft adäquat in diesem Wortverstand ist z.B. die nach den uns geläufigen Normen des Rechnens oder Denkens richtige Lösung eines Rechenexempels. Kausal adäquat ist – im Umfang des statistischen Vorkommens – die nach erprobten Regeln der Erfahrung stattfindende Wahrscheinlichkeit einer – von jenen uns heute geläufigen Normen aus gesehen – »richtigen« oder »falschen« Lösung, also auch eines typischen »Rechenfehlers« oder einer typischen »Problemverschlingung«). Kausale Erklärung bedeutet also die Feststellung: daß nach einer irgendwie abschätzbaren, im – seltenen – Idealfall: zahlenmäßig angebbaren, Wahrscheinlichkeitsregel auf einen bestimmten beobachteten (inneren oder äußeren) Vorgang ein bestimmter anderer Vorgang folgt (oder: mit ihm gemeinsam auftritt).
[550] Eine richtige kausale Deutung eines konkreten Handelns bedeutet: daß der äußere Ablauf und das Motiv zutreffend und zugleich in ihrem Zusammenhang sinnhaft verständlich erkannt sind. Eine richtige kausale Deutung typischen Handelns (verständlicher Handlungstypus) bedeutet: daß der als typisch behauptete Hergang sowohl (in irgendeinem Grade) sinnadäquat erscheint wie (in irgendeinem Grade) als kausal adäquat festgestellt werden kann. Fehlt die Sinnadäquanz, dann liegt selbst bei größter und zahlenmäßig in ihrer Wahrscheinlichkeit präzis angebbarer Regelmäßigkeit des Ablaufs (des äußeren sowohl wie des psychischen) nur eine unverstehbare (oder nur unvollkommen verstehbare) statistische Wahrscheinlichkeit vor. Andererseits bedeutet für die Tragweite soziologischer Erkenntnisse selbst die evidenteste Sinnadäquanz nur in dem Maß eine richtige kausale Aussage, als der Beweis für das Bestehen einer (irgendwie angebbaren) Chance erbracht wird, daß das Handeln den sinnadäquat erscheinenden Verlauf tatsächlich mit angebbarer Häufigkeit oder Annäherung (durchschnittlich oder im »reinen« Fall) zu nehmen pflegt. Nur solche statistische Regelmäßigkeiten, welche einem verständlichen gemeinten Sinn eines sozialen Handelns entsprechen, sind (im hier gebrauchten Wortsinn) verständliche Handlungstypen, also: »soziologische Regeln«. Nur solche rationalen Konstruktionen eines sinnhaft verständlichen Handelns sind soziologische Typen realen Geschehens, welche in der Realität wenigstens in irgendeiner Annäherung beobachtet werden können. Es ist bei weitem nicht an dem: daß parallel der erschließbaren Sinnadäquanz immer auch die tatsächliche Chance der Häufigkeit des ihr entsprechenden Ablaufs wächst. Sondern ob dies der Fall ist, kann in jedem Fall nur die äußere Erfahrung zeigen. – Statistik gibt es (Absterbestatistik, Ermüdungsstatistik, Maschinenleistungsstatistik, Regenfallstatistik) von sinnfremden Vorgängen genau im gleichen Sinn wie von sinnhaften. Soziologische Statistik aber (Kriminalstatistik, Berufsstatistik, Preisstatistik, Anbaustatistik) nur von den letzteren (Fälle, welche beides enthalten: etwa Erntestatistik, sind selbstredend häufig).
8. Vorgänge und Regelmäßigkeiten, welche, weil unverstehbar, im hier gebrauchten Sinn des Wortes nicht als »soziologische Tatbestände« oder Regeln bezeichnet werden, sind natürlich um[551] deswillen nicht etwa weniger wichtig. Auch nicht etwa für die Soziologie im hier betriebenen Sinne des Wortes (der ja eine Begrenzung auf »verstehende Soziologie« enthält, welche niemandem aufgenötigt werden soll und kann). Sie rücken nur, und dies allerdings methodisch ganz unvermeidlich, in eine andere Stelle als das verstehbare Handeln: in die von »Bedingungen«, »Anlässen«, »Hemmungen«, »Förderungen« desselben.
9. Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen.
Für andre Erkenntniszwecke mag es nützlich oder nötig sein, das Einzelindividuum z.B. als eine Vergesellschaftung von »Zellen« oder einen Komplex biochemischer Reaktionen, oder sein »psychisches« Leben als durch (gleichviel wie qualifizierte) Einzelelemente konstituiert aufzufassen. Dadurch werden zweifellos wertvolle Erkenntnisse (Kausalregeln) gewonnen. Allein wir verstehen dies in Regeln ausgedrückte Verhalten dieser Elemente nicht. Auch nicht bei psychischen Elementen, und zwar: je naturwissenschaftlich exakter sie gefaßt werden, desto weniger: zu seiner Deutung aus einem gemeinten Sinn ist gerade dies niemals der Weg. Für die Soziologie (im hier gebrauchten Wortsinn, ebenso wie für die Geschichte) ist aber gerade der Sinnzusammenhang des Handelns Objekt der Erfassung. Das Verhalten der physiologischen Einheiten, etwa: der Zellen oder irgendwelcher psychischer Elemente, können wir (dem Prinzip nach wenigstens) zu beobachten oder aus Beobachtungen zu erschließen suchen, Regeln (»Gesetze«) dafür gewinnen und Einzelvorgänge mit deren Hilfe kausal »erklären«, d.h.: unter Regeln bringen. Die Deutung des Handelns nimmt jedoch von diesen Tatsachen und Regeln nur soweit und nur in dem Sinn Notiz, wie von irgendwelchen anderen (z.B. von physikalischen, astronomischen, geologischen, meteorologischen, geographischen, botanischen, zoologischen, physiologischen, anatomischen, von sinnfremden psychopathologischen oder von den naturwissenschaftlichen Bedingungen von technischen) Tatbeständen.
Für wiederum andere (z.B. juristische) Erkenntniszwecke oder für praktische Ziele kann es andererseits zweckmäßig und geradezu unvermeidlich sein: soziale Gebilde (»Staat«, »Genossenschaft«, »Aktiengesellschaft«, »Stiftung«) genau so zu behandeln,[552] wie Einzelindividuen (z.B. als Träger von Rechten und Pflichten oder als Täter rechtlich relevanter Handlungen). Für die verstehende Deutung des Handelns durch die Soziologie sind dagegen diese Gebilde lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen, da diese allein für uns verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln sind. Trotzdem kann die Soziologie auch für ihre Zwecke jene kollektiven Gedankengebilde anderer Betrachtungsweisen nicht etwa ignorieren. Denn die Deutung des Handelns hat zu jenen Kollektivbegriffen folgende drei Beziehungen: a) Sie selbst ist oft genötigt, mit ganz ähnlichen (oft mit ganz gleichartig bezeichneten) Kollektivbegriffen zu arbeiten, um überhaupt eine verständliche Terminologie zu gewinnen. Die Juristen- sowohl wie die Alltagssprache bezeichnet z.B. als »Staat« sowohl den Rechtsbegriff wie jenen Tatbestand sozialen Handelns, für welchen die Rechtsregeln gelten wollen. Für die Soziologie besteht der Tatbestand »Staat« nicht notwendig nur oder gerade aus den rechtlich relevanten Bestandteilen. Und jedenfalls gibt es für sie keine »handelnde« Kollektivpersönlichkeit. Wenn sie von »Staat« oder von »Nation« oder von »Aktiengesellschaft« oder von »Familie« oder von »Armeekorps« oder von ähnlichen »Gebilden« spricht, so meint sie damit vielmehr lediglich einen bestimmt gearteten Ablauf tatsächlichen, oder als möglich konstruierten sozialen Handelns Einzelner, schiebt also dem juristischen Begriff, den sie um seiner Präzision und Eingelebtheit willen verwendet, einen gänzlich anderen Sinn unter. – b) Die Deutung des Handelns muß von der grundlegend wichtigen Tatsache Notiz nehmen: daß jene dem Alltagsdenken oder dem juristischen (oder anderem Fach-)Denken angehörigen Kollektivgebilde Vorstellungen von etwas teils Seiendem, teils Geltensollendem in den Köpfen realer Menschen (der Richter und Beamten nicht nur, sondern auch des »Publikums«) sind, an denen sich deren Handeln orientiert und daß sie als solche eine ganz gewaltige, oft geradezu beherrschende, kausale Bedeutung für die Art des Ablaufs des Handelns der realen Menschen haben. Vor allem als Vorstellungen von etwas Gelten- (oder auch: Nicht-Gelten-)Sollendem. (Ein moderner »Staat« besteht zum nicht unerheblichen Teil deshalb in dieser Art: – als Komplex eines spezifischen Zusammenhandelns von Menschen, – weil bestimmte Menschen ihr Handeln an der Vorstellung[553] orientieren, daß er bestehe oder so bestehen solle: daß also Ordnungen von jener juristisch-orientierten Art gelten. Darüber später.) Während für die eigene Terminologie der Soziologie (litt. a) es möglich, wennschon äußerst pedantisch und weitläufig, wäre: diese von der üblichen Sprache nun einmal nicht nur für das juristische Geltensollen, sondern auch für das reale Geschehen gebrauchten Begriffe ganz zu eliminieren und durch ganz neu gebildete Worte zu ersetzen, so wäre, wenigstens für diesen wichtigen Sachverhalt, natürlich selbst dies ausgeschlossen. – c) Die Methode der sogenannten »organischen« Soziologie (klassischer Typus: Schäffles geistvolles Buch: Bau und Leben des sozialen Körpers) sucht das gesellschaftliche Zusammenhandeln durch Ausgehen vom »Ganzen« (z.B. einer »Volkswirtschaft«) zu erklären, innerhalb dessen dann der Einzelne und sein Verhalten ähnlich gedeutet wird, wie etwa die Physiologie die Stellung eines körperlichen »Organs« im »Haushalt« des Organismus (d.h. vom Standpunkt von dessen »Erhaltung« aus) behandelt. (Vgl. das berühmte Kolleg-Diktum eines Physiologen: »§ x: Die Milz. Von der Milz wissen wir nichts, meine Herren. Soweit die Milz!« Tatsächlich »wußte« natürlich der Betreffende von der Milz ziemlich viel: Lage, Größe, Form usw. – nur die »Funktion« konnte er nicht angeben, und dies Unvermögen nannte er »Nichtswissen«). Inwieweit bei anderen Disziplinen diese Art der funktionalen Betrachtung der »Teile« eines »Ganzen« (notgedrungen) definitiv sein muß, bleibe hier unerörtert: es ist bekannt, daß die biochemische und biomechanische Betrachtung sich grundsätzlich nicht damit begnügen möchte. Für eine deutende Soziologie kann eine solche Ausdrucksweise: 1. praktischen Veranschaulichungs- und provisorischen Orientierungszwecken dienen (und in dieser Funktion höchst nützlich und nötig – aber freilich auch, bei Ueberschätzung ihres Erkenntniswerts und falschem Begriffsrealismus: höchst nachteilig – sein). Und 2.: Sie allein kann uns unter Umständen dasjenige soziale Handeln herausfinden helfen, dessen deutendes Verstehen für die Erklärung eines Zusammenhangs wichtig ist. Aber an diesem Punkt beginnt erst die Arbeit der Soziologie (im hier verstandenen Wortsinn). Wir sind ja bei »sozialen Gebilden« (im Gegensatz zu »Organismen«) in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (»Gesetzen«) hinaus etwas aller[554] »Naturwissenschaft« (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der »Erklärung« der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das »Verstehen« des Verhaltens der beteiligten Einzelnen, während wir das Verhalten z.B. von Zellen nicht »verstehen«, sondern nur funktionell erfassen und dann nach Regeln seines Ablaufs feststellen können. Diese Mehrleistung der deutenden gegenüber der beobachtenden Erklärung ist freilich durch den wesentlich hypothetischeren und fragmetarischeren Charakter der durch Deutung zu gewinnenden Ergebnisse erkauft. Aber dennoch: sie ist gerade das dem soziologischen Erkennen Spezifische.
Inwieweit auch das Verhalten von Tieren uns sinnhaft »verständlich« ist und umgekehrt: – beides in höchst unsicherrn Sinn und problematischem Umfang –, und inwieweit also theoretisch es auch eine Soziologie der Beziehungen des Menschen zu Tieren (Haustieren, Jagdtieren) geben könne (viele Tiere »verstehen« Befehl, Zorn, Liebe, Angriffsabsicht und reagieren darauf offenbar vielfach nicht ausschließlich mechanisch-instinktiv, sondern irgendwie auch bewußt sinnhaft und erfahrungsorientiert), bleibt hier völlig unerörtert. An sich ist das Maß unsrer Einfühl barkeit bei dem Verhalten von »Naturmenschen« nicht wesentlich größer. Wir haben aber sichere Mittel, den subjektiven Sachverhalt beim Tier festzustellen, teils gar nicht, teils in nur sehr unzulänglicher Art: die Probleme der Tierpsychologie sind bekanntlich ebenso interessant wie dornenvoll. Es bestehen insbesondere bekanntlich Tiervergesellschaftungen der verschiedensten Art: monogame und polygame »Familien«, Herden, Rudel, endlich funktionsteilige »Staaten«. (Das Maß der Funktionsdifferenzierung dieser Tiervergesellschaftungen geht keineswegs parallel mit dem Maß der Organ- oder der morphologischen Entwicklungs-Differenzierung der betreffenden Tiergattung. So ist die Funktionsdifferenzierung bei den Termiten und sind infolgedessen deren Artefakte weit differenzierter als bei den Ameisen und Bienen). Hier ist selbstverständlich die rein funktionale Betrachtung: die Ermittlung der für die Erhaltung, d.h. die Ernährung, Verteidigung, Fortpflanzung, Neubildung der betreffenden Tiergesellschaften entscheidenden Funktionen der einzelnen Typen von Individuen (»Könige«, »Königinnen«, »Arbeiter«, »Soldaten«, »Drohnen«, »Geschlechtstiere«, »Ersatz-Königinnen« usw.) sehr oft mindestens für jetzt das Definitive,[555] mit dessen Feststellung sich die Forschung begnügen muß. Was darüber hinausging, waren lange Zeit lediglich Spekulationen oder Untersuchungen über das Maß, in welchem Erbgut einerseits, Umwelt andererseits an der Entfaltung dieser »sozialen« Anlagen beteiligt sein könnten. (So namentlich die Kontroversen zwischen Weismann – dessen »Allmacht der Naturzüchtung« in ihrem Unterbau stark mit ganz außerempirischen Deduktionen arbeitete – und Götte.) Darüber aber, daß es sich bei jener Beschränkung auf die funktionale Erkenntnis eben um ein notgedrungenes und, wie gehofft wird, nur provisorisches Sichbegnügen handelt, ist sich die ernste Forschung natürlich völlig einig. (S. z.B. für den Stand der Termiten-Forschung die Schrift von Escherich, 1909.) Man möchte eben nicht nur die ziemlich leicht erfaßbare »Erhaltungswichtigkeit« der Funktionen jener einzelnen differenzierten Typen einsehen und die Art, wie, ohne Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften oder umgekehrt im Falle dieser Annahme (und dann: bei welcher Art von Deutung dieser Annahme), jene Differenzierung erklärlich ist, dargelegt erhalten, sondern auch wissen: 1. was denn den Ausschlag der Differenzierung aus dem noch neutralen, undifferenzierten, Anfangsindividuum entscheidet, – 2. was das differenzierte Individuum veranlaßt, sich (im Durchschnitt) so zu verhalten, wie dies tatsächlich dem Erhaltungsinteresse der differenzierten Gruppe dient. Wo immer die Arbeit in dieser Hinsicht fortschritt, geschah dies durch Nachweis (oder Vermutung) von chemischen Reizen oder physiologischen Tatbeständen (Ernährungsvorgänge, parasitäre Kastration usw.) bei den Einzelindividuen auf experimentellem Wege. Inwieweit die problematische Hoffnung besteht, experimentell auch die Existenz »psychologischer« und »sinnhafter« Orientierung wahrscheinlich zu machen, könnte heute wohl selbst der Fachmann kaum sagen. Ein kontrollierbares Bild der Psyche dieser sozialen Tierindividuen auf der Basis sinnhaften »Verstehens« erscheint selbst als ideales Ziel wohl nur in engen Grenzen erreichbar. Jedenfalls ist nicht von da aus das »Verständnis« menschlichen sozialen Handelns zu erwarten, sondern grade umgekehrt: mit menschlichen Analogien wird dort gearbeitet und muß gearbeitet werden. Erwartet darf vielleicht werden, daß diese Analogien uns einmal für die Fragestellung nützlich werden: wie in den Frühstadien der menschlichen sozialen Differenzierung[556] der Bereich rein mechanisch-instinktiver Differenzierung im Verhältnis zum individuell sinnhaft Verständlichen und weiter zum bewußt rational Geschaffenen einzuschätzen ist. Die verstehende Soziologie wird sich selbstverständlich klar sein müssen: daß für die Frühzeit auch der Menschen die erstere Komponente schlechthin überragend ist und auch für die weiteren Entwicklungsstadien sich ihrer steten Mitwirkung (und zwar: entscheidend wichtigen Mitwirkung) bewußt bleiben. Alles »traditionale« Handeln (§ 2) und breite Schichten des »Charisma«3 als des Keims psychischer »Ansteckung« und dadurch Trägers soziologischer »Entwicklungsreize« stehen solchen nur biologisch begreifbaren, nicht oder nur in Bruchstücken verständlich deutbaren und motivationsmäßig erklärbaren, Hergängen mit unmerklichen Uebergängen sehr nahe. Das alles entbindet aber die verstehende Soziologie nicht von der Aufgabe: im Bewußtsein der engen Schranken, in die sie gebannt ist, zu leisten, was eben wieder nur sie leisten kann.
Die verschiedenen Arbeiten von Othmar Spann, oft reich an guten Gedanken neben freilich gelegentlichen Mißverständnissen und, vor allem, Argumentationen auf Grund nicht zur empirischen Untersuchung gehöriger reiner Werturteile, haben also unzweifelhaft recht mit der freilich von niemand ernstlich bestrittenen Betonung der Bedeutung der funktionalen Vorfragestellung (er nennt dies: »universalistische Methode«) für jede Soziologie. Wir müssen gewiß erst wissen: welches Handeln funktional, vom Standpunkt der »Erhaltung« (aber weiter und vor allem eben doch auch: der Kultureigenart!) und: einer bestimmt gerichteten Fortbildung eines sozialen Handelnstyps wichtig ist, um dann die Frage stellen zu können: wie kommt dies Handeln zustande? welche Motive bestimmen es? Man muß erst wissen: was ein »König«, »Beamter«, »Unternehmer«, »Zuhälter«, »Magier« leistet: – welches typische »Handeln« (das allein ja ihn zu einer dieser Kategorien stempelt) also für die Analyse wichtig ist und in Betracht kommt, ehe man an diese Analyse gehen kann (»Wertbezogenheit« im Sinn H. Rickerts). Aber erst diese Analyse leistet ihrerseits das, was das soziologische Verstehen des Handelns von typisch differenzierten einzelnen Menschen (und: nur bei den Menschen) leisten kann und also: soll. Das ungeheure Mißverständnis jedenfalls,[557] als ob eine »individualistische« Methode eine (in irgendeinem möglichen Sinn) individualistische Wertung bedeute, ist ebenso auszuschalten, wie die Meinung: der unvermeidlich (relativ) rationalistische Charakter der Begriffsbildung bedeute den Glauben an das Vorwalten rationaler Motive oder gar: eine positive Wertung des »Rationalismus«. Auch eine sozialistische Wirtschaft müßte soziologisch genau so »individualistisch«, d.h.: aus dem Handeln der Einzelnen: – der Typen von »Funktionären«, die in ihr auftreten, – heraus deutend verstanden werden, wie etwa die Tauschvorgänge durch die Grenznutzlehre (oder eine zu findende »bessere«, aber in diesem Punkt ähnliche Methode). Denn stets beginnt auch dort die entscheidende empirisch-soziologische Arbeit erst mit der Frage: welche Motive bestimmten und bestimmen die einzelnen Funktionäre und Glieder dieser »Gemeinschaft«, sich so zu verhalten, daß sie entstand und fortbesteht? Alle funktionale (vom »Ganzen« ausgehende) Begriffsbildung leistet nur Vorarbeit dafür, deren Nutzen und Unentbehrlichkeit – wenn sie richtig geleistet wird – natürlich unbestreitbar ist.
10. Die »Gesetze«, als welche man manche Lehrsätze der verstehenden Soziologie zu bezeichnen gewohnt ist, – etwa das Greshamsche »Gesetz« – sind durch Beobachtung erhärtete typische Chancen eines bei Vorliegen gewisser Tatbestände zu gewärtigenden Ablaufes von sozialem Handeln, welche aus typischen Motiven und typisch gemeintem Sinn der Handelnden verständlich sind. Verständlich und eindeutig sind sie im Höchstmaß soweit, als rein zweckrationale Motive dem typisch beobachteten Ablauf zugrunde liegen (bzw. dem methodisch konstruierten Typus aus Zweckmäßigkeitsgründen zugrunde gelegt werden), und als dabei die Beziehung zwischen Mittel und Zweck nach Erfahrungssätzen eindeutig ist (beim »unvermeidlichen« Mittel). In diesem Fall ist die Aussage zulässig: daß, wenn streng zweckrational gehandelt würde, so und nicht anders gehandelt werden müßte (weil den Beteiligten im Dienste ihrer – eindeutig angebbaren – Zwecke aus »technischen« Gründen nur diese und keine anderen Mittel zur Verfügung stehen). Gerade dieser Fall zeigt zugleich: wie irrig es ist, als die letzte »Grundlage« der verstehenden Soziologie irgendeine »Psychologie« anzusehen. Unter »Psychologie« versteht[558] heute jeder etwas anderes. Ganz bestimmte methodische Zwecke rechtfertigen für eine naturwissenschaftliche Behandlung gewisser Vorgänge die Trennung von »Physischem« und »Psychischem«, welche in diesem Sinn den Disziplinen vom Handeln fremd ist. Die Ergebnisse einer wirklich nur das im Sinn naturwissenschaftlicher Methodik »Psychische« mit Mitteln der Naturwissenschaft erforschenden und also ihrerseits nicht – was etwas ganz andres ist – menschliches Verhalten auf seinen gemeinten Sinn hindeutenden psychologischen Wissenschaft, gleichviel wie sie methodisch geartet sein möge, können natürlich, genau ebenso wie diejenigen irgendeiner anderen Wissenschaft, im Einzelfall Bedeutung für eine soziologische Feststellung gewinnen und haben sie oft in hohem Maße. Aber irgendwelche generell näheren Beziehungen als zu allen anderen Disziplinen hat die Soziologie zu ihr nicht. Der Irrtum liegt im Begriff des »Psychischen«: Was nicht »physisch« sei, sei »psychisch«. Aber der Sinn eines Rechenexempels, den jemand meint, ist doch nicht »psychisch«. Die rationale Ueberlegung eines Menschen: ob ein bestimmtes Handeln bestimmt gegebenen Interessen nach den zu erwartenden Folgen förderlich sei oder nicht, und der entsprechend dem Resultat gefaßte Entschluß werden uns nicht um ein Haar verständlicher durch »psychologische« Erwägungen. Gerade auf solchen rationalen Voraussetzungen aber baut die Soziologie (einschließlich der Nationalökonomie) die meisten ihrer »Gesetze« auf. Bei der soziologischen Erklärung von Irrationalitäten des Handelns dagegen kann die verstehende Psychologie in der Tat unzweifelhaft entscheidend wichtige Dienste leisten. Aber das ändert an dem methodologischen Grundsachverhalt nichts.
11. Die Soziologie bildet – wie schon mehrfach als selbstverständlich vorausgesetzt – Typen-Begriffe und sucht generelle Regeln des Geschehens. Im Gegensatz zur Geschichte, welche die kausale Analyse und Zurechnung individueller, kulturwichtiger, Handlungen, Gebilde, Persönlichkeiten erstrebt. Die Begriffsbildung der Soziologie entnimmt ihr Material, als Paradigmata, sehr wesentlich, wenn auch keineswegs ausschließlich, den auch unter den Gesichtspunkten der Geschichte relevanten Realitäten des Handelns. Sie bildet ihre Begriffe und sucht nach ihren Regeln vor allem auch unter dem Gesichtspunkt: ob sie damit der historischen kausalen[559] Zurechnung der kulturwichtigen Erscheinungen einen Dienst leisten kann. Wie bei jeder generalisierenden Wissenschaft bedingt die Eigenart ihrer Abstraktionen es, daß ihre Begriffe gegenüber der konkreten Realität des Historischen relativ inhaltsleer sein müssen. Was sie dafür zu bieten hat, ist gesteigerte Eindeutigkeit der Begriffe. Diese gesteigerte Eindeutigkeit ist durch ein möglichstes Optimum von Sinnadäquanz erreicht, wie es die soziologische Begriffsbildung erstrebt. Diese kann – und das ist bisher vorwiegend berücksichtigt – bei rationalen (wert- oder zweckrationalen) Begriffen und Regeln besonders vollständig erreicht werden. Aber die Soziologie sucht auch irrationale (mystische, prophetische, pneumatische, affektuelle) Erscheinungen in theoretischen und zwar sinnadäquaten Begriffen zu erfassen. In allen Fällen, rationalen wie irrationalen, entfernt sie sich von der Wirklichkeit und dient der Erkenntnis dieser in der Form: daß durch Angabe des Maßes der Annäherung einer historischen Erscheinung an einen oder mehrere dieser Begriffe diese eingeordnet werden kann. Die gleiche historische Erscheinung kann z.B. in einem Teil ihrer Bestandteile »feudal«, im anderen »patrimonial«, in noch anderen »bürokratisch«, in wieder anderen »charismatisch« geartet sein. Damit mit diesen Worten etwas Eindeutiges gemeint sei, muß die Soziologie ihrerseits »reine« (»Ideal«-)Typen von Gebilden jener Arten entwerfen, welche je in sich die konsequente Einheit möglichst vollständiger Sinnadäquanz zeigen, eben deshalb aber in dieser absolut idealen reinen Form vielleicht ebensowenig je in der Realität auftreten wie eine physikalische Reaktion, die unter Voraussetzung eines absolut leeren Raums errechnet ist. Nur vom reinen (»Ideal«-)Typus her ist soziologische Kasuistik möglich. Daß die Soziologie außerdem nach Gelegenheit auch den Durchschnitts-Typus von der Art der empirisch-statistischen Typen verwendet: – ein Gebilde, welches der methodischen Erläuterung nicht besonders bedarf, versteht sich von selbst. Aber wenn sie von »typischen« Fällen spricht, meint sie im Zweifel stets den Idealtypus, der seinerseits rational oder irrational sein kann, zumeist (in der nationalökonomischen Theorie z.B. immer) rational ist, stets aber sinnadäquat konstruiert wird.
Man muß sich klar sein, daß auf soziologischem Gebiete »Durchschnitte« und also »Durchschnittstypen« sich nur da[560] einigermaßen eindeutig bilden lassen, wo es sich nur um Gradunterschiede qualitativ gleichartigen sinnhaft bestimmten Verhaltens handelt. Das kommt vor. In der Mehrzahl der Fälle ist aber das historisch oder soziologisch relevante Handeln von qualitativ heterogenen Motiven beeinflußt, zwischen denen ein »Durchschnitt« im eigentlichen Sinn gar nicht zu ziehen ist. Jene idealtypischen Konstruktionen sozialen Handelns, welche z.B. die Wirtschaftstheorie vornimmt, sind also in dem Sinn »wirklichkeitsfremd«, als sie – in diesem Fall – durchweg fragen: wie würde im Fall idealer und dabei rein wirtschaftlich orientierter Zweckrationalität gehandelt werden, um so das reale, durch Traditionshemmungen, Affekte, Irrtümer, Hineinspielen nicht wirtschaftlicher Zwecke oder Rücksichtnahmen mindestens mitbestimmte Handeln 1. insoweit verstehen zu können, als es tatsächlich ökonomisch zweckrational im konkreten Falle mitbestimmt war, oder – bei Durchschnittsbetrachtung – zu sein pflegt, 2. aber auch: gerade durch den Abstand seines realen Verlaufes vom idealtypischen die Erkenntnis seiner wirklichen Motive zu erleichtern. Ganz entsprechend würde eine idealtypische Konstruktion einer konsequenten mystisch bedingten akosmistischen Haltung zum Leben (z.B. zur Politik und Wirtschaft) zu verfahren haben. Je schärfer und eindeutiger konstruiert die Idealtypen sind: je weltfremder sie also, in diesem Sinne, sind, desto besser leisten sie ihren Dienst, terminologisch und klassifikatorisch sowohl wie heuristisch. Die konkrete kausale Zurechnung von Einzelgeschehnissen durch die Arbeit der Geschichte verfährt der Sache nach nicht anders, wenn sie, um z.B. den Verlauf des Feldzuges von 1866 zu erklären, sowohl für Moltke wie für Benedek zunächst (gedanklich) ermittelt (wie sie es schlechthin tun muß): wie jeder von ihnen, bei voller Erkenntnis der eigenen und der Lage des Gegners, im Fall idealer Zweckrationalität disponiert haben würde, um damit zu vergleichen: wie tatsächlich disponiert worden ist, und dann gerade den beobachteten (sei es durch falsche Information, tatsächlichen Irrtum, Denkfehler, persönliches Temperament oder außerstrategische Rücksichten bedingten) Abstand kausal zu erklären. Auch hier ist (latent) eine idealtypische zweckrationale Konstruktion verwendet. –
Idealtypisch sind aber die konstruktiven Begriffe der Soziologie nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Das reale[561] Handeln verläuft in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines »gemeinten Sinns«. Der Handelnde »fühlt« ihn mehr unbestimmt, als daß er ihn wüßte oder »sich klar machte«, handelt in der Mehrzahl der Fälle triebhaft oder gewohnheitsmäßig. Nur gelegentlich, und bei massenhaft gleichartigem Handeln oft nur von Einzelnen, wird ein (sei es rationaler, sei es irrationaler) Sinn des Handelns in das Bewußtsein gehoben. Wirklich effektiv, d.h. voll bewußt und klar, sinnhaftes Handeln ist in der Realität immer nur ein Grenzfall. Auf diesen Tatbestand wird jede historische und soziologische Betrachtung bei Analyse der Realität stets Rücksicht zu nehmen haben. Aber das darf nicht hindern, daß die Soziologie ihre Begriffe durch Klassifikation des möglichen »gemeinten Sinns« bildet, also so, als ob das Handeln tatsächlich bewußt sinnorientiert verliefe. Den Abstand gegen die Realität hat sie jederzeit, wenn es sich um die Betrachtung dieser in ihrer Konkretheit handelt, zu berücksichtigen und nach Maß und Art feststellen.
Man hat eben methodisch sehr oft nur die Wahl zwischen unklaren oder klaren, aber dann irrealen und »idealtypischen«, Termini. In diesem Fall aber sind die letzteren wissenschaftlich vorzuziehen4.
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