Zweite Diskussionsrede zu E. Troeltschs Vortrag über »Das stoisch-christliche Naturrecht« auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910.

[469] Ich wollte nur noch einige Worte zu dem sagen, was Simmel2 ausgeführt hat. Die Frage nach dem eigentlichen Sinn der christlichen Religiosität steht ja heute nicht zur Diskussion. Trotz alledem sind wir gewiß glücklich gewesen, diese Ausführungen gemacht zu bekommen. Da sie teilweise gegen mich gerichtet gewesen sind, so erlaube ich mir, darauf in Kürze zu antworten.

Die These, daß nach dem metaphysischen Sinn des Christentums nichts sich zwischen die Seele und ihren Gott zu schieben habe, vollständig zugegeben, so liegen die Dinge doch so, daß für die empirischen Verhältnisse, mit denen es die Soziologie zu tun hat, davon auszugehen ist, daß jede religiös gläubige Seele, daß die Mehrzahl auch der religiös noch so hochgestimmten Seelen im Urchristentum und in allen Zeiten religiöser Erregung das Bedürfnis empfinden mußten, dessen, daß sie auch wirklich ihrem Gott gegenübergestanden hatten und nicht etwas anderem, in irgendeiner Weise auch in ihrem Alltag sicher zu bleiben, die »certitudo salutis« zu haben. Diese Sicherheit nun kann auf verschiedene Weise gewonnen werden. Es ist zunächst noch keine soziologische, sondern eine rein psychologische Frage, die damit berührt wird, aber eine solche, die soziologisch interessierende Konsequenzen hat. – Die beiden extremsten Gegenpole, die es da gibt, sind auf der einen Seite jene die Formung der Welt ablehnenden Religiositäten, wie wir sie auch in der modernen Zeit erleben, die in denjenigen geistigen Bewegungen, von denen ich früher sprach, noch forterhalten sind und sicherlich auch gewissen Teilen des Urchristentums eigentümlich gewesen sind: eine Art »akosmistischer«[469] Menschenliebe – das ist die eine Möglichkeit, – und auf der andern ihr extremstes Gegenbild: die calvinistische Religiosität, die in der ad majorem dei gloriam zu gewinnenden »Bewährung« innerhalb der gegebenen und geordneten Welt die Sicherheit fühlt, Gottes Kind zu sein. Auf der einen Seite die völlige amorphe Formlosigkeit des Liebes-Akosmismus, auf der anderen Seite jenes eigentümliche und für die Geschichte der Sozialpolitik praktisch äußerst wichtige Verhalten, daß der einzelne sich hineingestellt fühlt in die sozialen Gemeinschaften zu dem Zwecke, darin zum Heile seiner Seele »Gottes Ruhm« zu verwirklichen. Diese letztere Eigentümlichkeit des Calvinismus bedingt dem Sinne nach die gesamte innere Gestaltung der sozialen Gebilde, die wir auf diesem Boden ent stehen sehen. Immer steckt in diesen Gebilden ein eigentümliches Moment der Gesellschaftsbildung auf egozentrischer Grundlage; immer ist es der einzelne, der sich sucht, indem er der Gesamtheit, heiße diese wie immer, dient: immer ist es – um die Gegensätze zu gebrauchen, die in einem der Grundbücher unserer modernen sozial-philosophischen Betrachtungsweise, in Ferdinand Tönnies' Werk über »Gemeinschaft und Gesellschaft« gebraucht worden sind – immer ist die auf diesem Boden erwachsende menschliche Beziehungsweise eine »Gesellschaft«, eine »Vergesellschaftung«, ein Produkt der das »Menschliche« abstreifenden »Zivilisation«, Tausch, Markt, sachlicher Zweckverband, statt persönlicher Verbrüderung, immer ist dagegen jenes andere, jener Liebesakosmismus »Gemeinschaft« auf rein menschlicher Grundlage der »Brüderlichkeit«. Der Kommunismus des Urchristentums und seine Derivate haben empirisch die allerverschiedensten Motive, Motive, die aber immer – so im Urchristentum – an die alte Tradition der naturgewachsenen Brüderschaftsverhältnisse anknüpften, in denen die Gemeinschaft von Speise und Trank familienartige Gemeinschaft begründete, wie ja auch das Zinsverbot für Christen noch in der Zeit von Clemens von Alexandrien mit dem alten Satz motiviert wird, daß man unter Brüdern nicht feilscht, unter Brüdern kein Herrenrecht gebraucht – und Zins ist Herrenrecht –, unter Brüdern seinen Vorteil nicht übt, sondern Brüderlichkeit übt. Alles also, was Simmel sagt, für den Sinn der religiösen Attitüde zugegeben, so muß vom Standpunkt der Soziologie doch stets die psychologische Frage gestellt werden, und sie ist auch in der Realität von allen Seiten, auch den extremsten und deshalb vom religiösen Standpunkt aus vielleicht höchsten Formen der Mystik gestellt worden: wie, durch welches Medium wird der einzelne seiner Beziehung zum Ewigen gewiß?

PROFESSOR SIMMEL: Ratio!

MAX WEBER: Das ist vollständig richtig, gewiß, es ist unzweifelhaft lediglich ein Erkenntnisgrund, nicht ein Realgrund der Seligkeit.[470]


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitk. Hrsg. von Marianne Weber. Tübingen 21988, S. 469-471.
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