Die Verpflanzung

[230] Bisher wurde nur gezeigt, wie die Auswanderung ohne wirtschaftliche Erschütterung durchzuführen ist. Aber bei einer solchen Auswanderung gibt es auch viele starke, tiefe Gemütsbewegungen. Es gibt alte Gewohnheiten, Erinnerungen, mit denen wir Menschen an den Orten haften. Wir haben Wiegen, wir haben Gräber, und man weiß, was dem jüdischen Herzen die Gräber sind. Die Wiegen nehmen wir mit – in ihnen schlummert rosig und lächelnd unsere Zukunft. Unsere teueren Gräber müssen wir zurücklassen – ich glaube, von denen werden wir habsüchtiges Volk uns am schwersten trennen. Aber es muß sein.

Schon entfernt uns die wirtschaftliche Not, der politische Druck, der gesellschaftliche Haß aus unseren Wohnorten und von unseren Gräbern. Die Juden ziehen schon jetzt jeden Augenblick aus einem Land ins andere; eine starke Bewegung geht sogar übers Meer nach den Vereinigten Staaten – wo man uns auch nicht mag. Wo wird man uns denn mögen, solange wir keine eigene Heimat haben?

Wir wollen aber den Juden eine Heimat geben. Nicht, indem wir sie gewaltsam aus ihrem Erdreich herausreißen. Nein, indem wir sie mit ihrem ganzen Wurzelwerk vorsichtig ausheben und in einen besseren Boden übersetzen. So wie wir im Wirtschaftlichen und Politischen neue Verhältnisse schaffen wollen, so gedenken wir im Gemütlichen alles Alte heiligzuhalten. Darüber nur wenige Andeutungen. Hier ist die Gefahr am größten, daß der Plan für eine Schwärmerei gehalten werde.

Und doch ist auch das möglich und wirklich, nur kommt es in der Wirklichkeit als etwas Verworrenes und Hilfloses vor. Durch die Organisierung kann es vernünftig werden.

Quelle:
Athenäum Verlag, Königstein, 1985, S. 230.
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