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[42] Kasperle und sein neuer Herr wachten kurz vor dem Abendessen auf. Mister Stopps tat es zuerst. »Hm«, stöhnte er, »hier knurren ein Hund.«
»Nä«, rief Kasperle, den die Worte munter gemacht hatten, »hier knurren mein Magen.«
»O komisch, sehr komisch!«
»Ich hab Hunger!«
»Ich auch!« Mister Stopps merkte nun, daß auch sein Magen ein Loch hatte, er stand also auf und sagte: »Kahspärle uir uollen essen.«
Dagegen hatte Kasperle nichts einzuwenden. Ja, es fand, Mister Stopps wäre sehr vernünftig, und vergnügt trabte es hinter ihm die Treppe hinab, und beide betraten zufrieden und hungrig die Gaststube. Der Arzt saß als einziger Gast darin, und Mister Stopps machte ihm sehr höflich eine tiefe Verbeugung. Kasperle machte die Verbeugung nach, aber so tief, daß es mit dem Kopf auf den harten Fußboden aufbumste.
»Je, das hat ein Loch gegeben!« rief der Arzt ganz erschrocken.
Ach, was wußte der von einem Kasperlekopf, der hielt schon was aus. Kasperle grinste vergnügt. Es kletterte auf einen Stuhl, schlug mit beiden Füßen auf den Tisch und schrie: »Ich will essen!«
»Schocking!« rief Mister Stopps.
»Nä, das will ich nicht, ich will Kalbsbraten!« rief Kasperle.[42]
»Schock, schock, das gibt es bei mir nicht«, sagte der Wirt höflich.
Der Arzt lachte, Mister Stopps sah sich verwundert um, bis ihm ein Licht aufging und er Kasperles und des Wirtes Irrtum verstand und wieder sein himmelblaues Taschentuch herauszog, denn das brauchte er, wenn er lachen wollte.
Es wurde eine vergnügte Mahlzeit. Kasperle fand Mister Stopps sehr nett, weil er nicht einmal sagte: »Iß nicht zuviel«, und weil er alles Kompott Kasperle überließ. Und dann unterhielt sich der Arzt mit dem weitgereisten Fremden, und Kasperle konnte tun, was es wollte. Nach dem reichlichen Essen war es gut aufgelegt und zu allerlei dummen Streichen bereit. Es hatte am Mittag die Köchin flüchtig gesehen. Unwirsch und verdrossen sah sie drein, und Kasperle dachte, sie muß ein bißchen geneckt werden, damit sie lacht. Mit diesem guten Vorsatz ging es in die Küche.
Die Köchin Amanda saß auf einem Stuhl. Zwei Mägde[43] standen neben ihr, und Kasperle hörte sie gerade sagen: »Heute nacht kommen die widerlichen Räuber sicher wieder. Alles fressen sie an. Greulich!«
»Wenn sie nur nicht auch in die Fremdenzimmer gingen, das Gesindel!« rief eine Magd. »Neulich waren zwei unter einem Bett.«
»Ach was, dem Fremden würde die Störung nichts schaden, der gefällt mir gar nicht. Na, und den dummen Kerl, den Kasperle, mögen die Russen meinetwegen beißen und zwicken«, sagte die zweite Magd.
Rutsch, lief Kasperle aus der Küche hinaus. Es hatte genug gehört. In Torburg hatte man viel von den Kriegsjahren 1813 und 1814 erzählt, und die alte Apfelfrau hatte einmal gesagt: »Die Russen waren zwar unsere Freunde, aber für die Sorte Freunde danke ich.«
»Sind sie greulich?« hatte Kasperle gefragt. – »Ja, greulich und arg schlimm!«
Und solche Russen sollten nun zur Nachtzeit in das Gasthaus kommen. Kasperle glitt in einen Flurwinkel. Dort setzte es sich auf einen Schemel, auf dem etwas stand. Ein bißchen weich und naß war es, aber das kümmerte Kasperle weiter nicht. Kasperle mußte nachdenken, und wenn es nachdachte, sah und hörte es sonst nichts.
Kasperle hatte in Torburg zum Abschied allerlei Räubergeschichten erzählt bekommen, und seine gute Freundin, die Apfelfrau, hatte es ermahnt: »Sieh in Gasthöfen immer unter die Betten, manchmal stecken da Räuber drunter.«
Und sicher waren die Russen solche Räuber. Was sollte Kasperle tun? Mister Stopps davon erzählen? Aber der redete gerade mit dem Wirt, und sicherlich steckte der Wirt auch mit den schlimmen Russen unter einer Decke.
Dem Kasperle wurde es übel vor Angst. Aber auf einmal[44] fiel ihm etwas ungeheuer Kluges ein. Es rutschte von seinem Sitz herab und merkte dabei erst, daß es auf einer Schüssel mit Heringssalat gesessen hatte. Doch das war ihm gleichgültig, jetzt galt es Hilfe zu holen. Wutsch, war das Kasperle im Flur, schlich aus dem Haus, und draußen prallte es mit demjenigen zusammen, den es gerade suchen wollte.
Klirr, fiel etwas zu Boden, und der Herr Bürgermeister rief: »Welcher Esel stößt mich da so an? Nun ist mein neuer Pfeifenkopf kaputt.«
»Ich bin's«, stotterte Kasperle. »Ich will zum Herrn Bürgermeister.«
»Zu mir? Wer ist denn da?« Es war nämlich stockdunkel, und der Herr Bürgermeister konnte das Kasperle nicht erkennen.
»Ich, Kasperle!«
»O du unnützes Ding, von dir habe ich schon gehört. Was treibst du dich denn hier draußen herum? Du gehörst doch ins Bett«, rief der Bürgermeister. Der kam nämlich, um den Wirt vom Goldenen Knopf nach dem neuen Gast zu fragen.
»Nä, da liegen Räuber drunter.«
»Räu – – – ber?«
Dem Bürgermeister blieb vor Erstaunen das Wort im Halse stecken.
»Ja, Räuber, Russen sind's«, ächzte Kasperle. Ich wollte gerade Hilfe holen.«
Nun war der gute Bürgermeister weder sehr klug noch sehr mutig, und statt stipp – stapp in das Wirtshaus zu gehen und dort zu fragen, was Kasperles Gerede bedeuten sollte, flüsterte er scheu: »Erzähl mal!«
Und Kasperle erzählte.
Der Schlingel merkte, wie der Bürgermeister beinahe noch mehr Angst hatte als er, und darum schmückte er seinen Bericht[45] noch etwas aus. Und je mehr der Bürgermeister zitterte, desto furchtbarer schilderte Kasperle die Angst der Mädchen.
Dem Bürgermeister fiel auf einmal etwas ein. Da war doch neulich ein Fremder in die Stadt gekommen, hatte sich beim Schneider einen neuen Anzug machen lassen und war auf einmal verschwunden. Bei Nacht ausgerückt, hatte der Wirt gemeint.
»Den haben die Russen sicher auch umgebracht«, sagte stöhnend der Bürgermeister.
»Wen?« Kasperle klapperte plötzlich vor Angst.
»Den Fremden von neulich. Die Sache mit dem Wirt ist mir immer schon unheimlich gewesen.«
»Hach, haaaach«, kreischte Kasperle.
»Sei doch still, ums Himmels willen, wenn uns jemand drinnen hört!« Der Bürgermeister konnte kaum stehen, so war ihm die Angst in die Knie gefahren.
Kasperle hielt sich erschrocken mit beiden Händen den Mund zu und setzte sich auf ein Mäuerchen.
»Fall nicht 'rein, das ist der Brunnen!« meinte der Bürgermeister.
»Nä!« rief Kasperle wieder viel zu laut für ein heimliches Gespräch.
»Still doch!« Der Bürgermeister wollte dem Schlingel eins auf den Mund geben, aber plumps fiel der kopfüber in den Brunnen.
Heiliger Bimbam! Dem Bürgermeister wurde es himmelangst. Ein Kasperle kostete ungeheuer viel Geld, der Postillon hatte es in Amberg erzählt. Wenn es nun Schaden genommen hätte! Und drinnen im Wirtshaus saß der reiche Fremde und die russischen Räuber dazu.
Was zuviel ist, ist zuviel. Der Bürgermeister verlor allen[46] Verstand. Er brüllte, so laut er konnte: »Nachtwächter, Nachtwächter, Sturm blasen!«
Der alte Nachtwächter Buchholz war eben aus seinem Hause, das neben dem Wirtshaus lag, herausgekommen. Der Ruf fuhr ihm in die Glieder, er setzte erschrocken sein Horn an und blies aus Leibeskräften den Feuerruf in die Nacht hinaus.
»Nicht Feuer, Sturm mußt du blasen!« schrie der Bürgermeister.
Aber wenn Buchholz einmal beim Feuerblasen war, gab es kein Aufhören. Feuer blies der Nachtwächter am liebsten. »Feuer, Feuer!« tutete er.
»Sturm, Sturm!« schrie der Bürgermeister. »Kasperle ist in den Brunnen gefallen, und da drinnen sind Räuber.«
»Wo brennt es? Was ist geschehen?« Aus allen Häusern stürzten die Menschen heraus. Der Wirt kam auch auf die Straße gelaufen. Ihm folgten bedachtsam Mister Stopps und der Arzt.
»Wo brennt es denn Buchholz?«
»Der Bürgermeister liegt unter dem Bett und die Räuber sind in den Brunnen gefallen«, rief der Nachtwächter verwirrt von den vielen Fragen.
»Unsinn, da steht doch unser Bürgermeister«, rief der Wirt.
»Ja, ich stehe hier, aber bei Ihnen liegen Räuber unter dem Bett, und Kasperle liegt im Brunnen.«
»Mein Kahs – pärle?« rief Mister Stopps erschrocken.
»Räuber, Räuber!« schrien die Köchin und die Mägde vom Gasthof.
»Ja, bei Ihnen unter dem Bett!«
»Kahs – pärle, o mein geliebtes Kahs – pärle!«
»Ach was, hier sind keine Räuber.«
»No, no, Kahspärle sein nicht hier.« Das gab ein schreckliches[47] Hin und Her. Die Feuerwehr, die Bürgerwehr, alles lief zusammen, und der Bürgermeister rief: »Wir müssen die Räuber fangen.« Mister Stopps schrie: »Mein Kahspärle.« Die Köchin, die ins Haus gelaufen war, jammerte: »Ein Räuber hat in meinem Heringssalat gesessen, den ich für die Hochzeit der Jungfer Habertanz angemacht habe.«
»Räuber, Heringssalat, Kasperle, das ist ja eine aufregende Geschichte.«
Der Arzt war ein besonnener Herr, dem kam das alles äußerst seltsam vor, er packte den Bürgermeister beim Rockknopf und fragte: »Wer hat was von Räubern erzählt? Und wieso ist Kasperle in den Brunnen gefallen?«
»Weil er auf dem Rand gesessen hat.«
»Kasperle? Na, wenn das nur kein Streich von ihm ist!«
»Es ist kein Streich, sie liegen unter den Betten, Russen sind's, und die Köchin hat es selbst erzählt.«
»Was, ich hätte von Räubern erzählt? Ich bin eine ehrliche Jungfer.«
»Jawohl! Russen sollen es sein«, rief der Bürgermeister.
»Russen?« Die Köchin sah die beiden Mägde an, die sahen die Köchin an, und plötzlich prusteten sie vor Lachen los: »Das sind doch Käfer, wir haben von den widerlichen schwarzen Käfern geredet!«
»Jaaso!« Der Bürgermeister faßte sich an der Nase. »Oh, Schockschwerenot, ja. In manchen Orten heißen die schwarzen Küchenkäfer Schaben, hier in Amberg nennt man sie Russen.« In seiner Verlegenheit schrie er: »Aber Kasperle ist in den Brunnen gefallen.«
»Das ist schlimmer als die Russen unter dem Bett. Hoffentlich ist es nicht bis ganz nach unten gefallen«, meinte der Arzt.
»Die Feuerwehr muß das Kasperle herausholen«, rief der[48] Wirt. Laternen wurden gebracht, Fackeln erhellten den Platz, Mister Stopps beugte sich über den Brunnenrand und klagte: »Kahspärle, o mein Kahspärle!«
Drunten blieb alles still. Nun stieg ein Feuerwehrmann mit einer Laterne in die Tiefe, und von oben riefen sie hinterher: »Ist er unten?«
»Nä!« Es dauerte ein paar Minuten, da kam der Mann wieder herauf geklettert.
»Drunten ist er nicht, aber er war drunten. An einem Eimerhaken in der Mauer hab ich das gefunden. Gelt, das gehört doch dem Kasperle?« Und der Feuerwehrmann hielt Mister Stopps einen grün-rot-seidenen Fetzen unter die Nase.
»Der gehören Kahspärle. Uo kann es sein?« fragte Mister Stopps bebend vor Angst.
»Drunten kann es liegen, dann ist es tot.«
»Das kommt von der hirnverbrannten Geschichte mit den Russen«, schrie der Wirt und sah den Bürgermeister scharf an.
Der wurde gelb vor Ärger und rannte erschrocken davon, weil Mister Stopps drohte: »Sie müssen bezahlen mein Kahspärle, zwei Millionen haben es gekosten.«
»So viel haben wir alle miteinander nicht«, brummte der Nachtwächter, nahm sein Horn und blies: »Hört, ihr Leute, laßt euch sagen.«
»Schafskopf, hör doch mit Blasen auf! Um so ein Kasperle ist es himmelschade«, rief der Arzt. »Wer steigt noch einmal in den Brunnen?« Es meldeten sich gleich drei, doch sie fanden kein Kasperle, nur noch einen grünen Fetzen, an dem klebte Heringssalat. Da wußte die Köchin wenigstens, wer in ihrem Salat gesessen hatte Aber was half das alles? Kasperle war und blieb verschwunden, und alle riefen:[49] »Das Kasperle ist ertrunken, es liegt da unten auf dem Brunnenboden.«
»Uer steigt nach unten? Ich geben viel Geld.« Mister Stopps hatte sein himmelblaues Taschentuch vorgeholt und weinte so bitterlich, daß selbst die brummige Köchin Amanda das größte Mitleid mit ihm fühlte. Ganz hinunter wagte sich aber niemand zu steigen, soviel Mister Stopps auch bot und flehte. Der stand am Brunnenrand und schluchzte: »Oh, mein Kahs – pärle!«
»Es ist zu rührend!« Die dicke Köchin begann auch zu schluchzen, alle Frauenzimmer taten es ihr nach, und selbst der Wirt wischte sich über die Augen. »Sicher ist es tot«, brummte er.
»Kann ein Kasperle so schnell tot sein?« Dem Arzt kam die Sache merkwürdig vor, und er meinte, es wäre gut, den Brunnen zu bewachen. Vielleicht komme das Kasperle doch wieder zum Vorschein. Man könne es nicht wissen.
Der Nachtwächter setzte sich also auf den Brunnenrand, drei Männer von der Feuerwehr und zwei von der Bürgerwehr gesellten sich dazu. Sie wollten warten und versicherten, wenn sie Kasperle schreien hörten, dann würden sie es lebendig oder tot herausholen.
Das war wenigstens ein Trost. Mister Stopps versprach ihnen eine hohe Belohnung und der Wirt jedem ein großes Glas Punsch, dafür ließ es sich schon gut Wache halten.[50]
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