[111] Lassé des mots, lassé des livres
Je cherche en ma fierté
L'acte, qui sauve et qui délivre.
E. V.
Das Urgedicht, jenes, das längst entstand vor Schrift und Druck, war nichts als ein modulierter, kaum Sprache gewordener Schrei, aus Lust oder Schmerz, aus Trauer oder Verzagung, aus Erinnerung oder Beschwörung gewonnen, aber immer aus dem Überschwang einer Empfindung. Es war pathetisch, weil es aus Leidenschaft entstanden war, pathetisch, weil es Leidenschaft erzeugen wollte. Das Gedicht jener Großen und Fernen, die zuerst aus dem aufspringenden Schrei des Gefühls Wort und Rede fanden, war eine Ansprache an die Menge, eine Mahnung, eine Anfeuerung, eine Ekstatik, eine direkte elektrische Entladung von Gefühl zu Gefühl. Der Dichter sprach zu den anderen, ein Einzelner zu einem Kreise. Die Hörer standen vor ihm in Erwartung – etwa wie Max Klinger in seinem neuen Gemälde sie vor Homer, dem Blinden, versammelt sein ließ –, warteten, harrten, hörten, gaben nach, ließen sich mitreißen oder leisteten Widerstand. Jenes Gedicht und sein Vortrag war nicht zur Prüfung gebotene Vorzeigung eines Fertigen, ein Gerät oder ein Schmuck, schon gehämmert und ganz gefügt, sondern ein noch Entstehendes, ein im Augenblick neu Werdendes, ein Kampf mit dem Hörer, ein Ringen um seine Leidenschaft.
Diesen innigen, glühenden Kontakt mit der Masse haben die Dichter seit der Schrift verloren. Was die Verbreitung des geschriebenen Wortes und noch mehr dann die unendliche Vervielfältigung des Druckes ihnen an neuem Raum und an neuer Wirkung verlieh; daß[111] in Ländern ihre Worte lebendig wurden, zu denen sie niemals selbst gezogen waren; daß Menschen aus ihrem Worte Kraft, Begeisterung und Lebensmut noch saugten, als ihr eigener Leib schon längst zerfallen war, dieses Ungeheure und Gewaltige war nur gewonnen worden durch einen Verzicht auf diese andere und vielleicht nicht geringere Wirkung: auf den Dialog, das Augin-Auge-stehen mit der Menge. Langsam wurde das Publikum für die Dichter etwas Imaginäres. Wenn sie sprachen, hörten sie eigentlich nur sich selbst zu, ihr Gedicht wurde immer mehr einsame Zwiesprache, Monolog aus der Anrede, immer mehr lyrisch in einem neuen Sinne und immer weniger pathetisch. Immer mehr entfernte sich ihr Gedicht von der Rede, immer mehr verlor es von jenem geheimnisvollen pathetischen Feuer, das nur genährt wird vom Augenblick, vom Gegenüberstehen einer erregten Menge, durch die magische Einströmung von Anspannung und Reiz aus dem Herzen des Hörers in das eigene Wort. Denn jeder Zuhörer tut mit seiner Erwartung, mit seinem Blick, mit seiner Spannung und aufschäumender Erregung ein Gewisses für den Sprechenden, er stachelt ihn an, er drängt etwas von seiner erwartenden Unruhe wie eine Frage in die noch nicht gegebene Antwort hinein. Im Augenblicke aber, wo der Dichter nicht mehr zur Menge sprach, nicht mehr zu einem Kreise, sondern das Wort für den Druck und für die Schrift schuf, entwickelte sich in ihm ein Eigengefühl. Er gewöhnte sich daran, eigentlich nur für sich zu sprechen, sein eigenes Empfinden, ohne Hinblick auf Wirkung und Gewalt, als wichtig zu empfinden, Zwiesprache nur mit sich selbst und mit dem Schweigen zu führen. Und immer mehr wandelte sich das Gedicht. Seit der Dichter nicht mehr das große, atmende[112] Rauschen der Antwort, den Schrei der Leidenschaft, den Jubel der Begeisterung als Finale seiner Dichtung hatte, als den letzten, gleichsam noch zu seiner Musik gehörenden Akkord, suchte er den Klang im Verse aus ihnen selbst zu ergänzen. Die Dichter rundeten ihr Gedicht wie Tongefäße, sorgsam und künstlerisch, ließen es voll Farben sein wie ein Bild, füllten es an mit Musik, immer mehr verzichteten sie darauf, zu überreden, zu überführen und zu begeistern. Sie ließen es fühllos sein für die anderen und gaben ihm nur das Stimmungsleben seiner eigenen Welt. In jener Zeit des Überganges entstand wohl zuerst die »poetische« Sprache, jene Sprache neben der lebendigen, die oft und öfter erstarrte zu einem weltfremden Dialekt, die Marmor ist und nicht mehr Blut. Früher war die poetische Sprache nicht eine neben der wirklichen, sondern nur ihre letzte Steigerung. Durch den Rhythmus der höheren Leidenschaft, durch das Feuer der Ansprache wurde sie ein heiliges Fieber, ein seliger Rausch, ein Festliches im Alltag. So als gesteigerte Lebendigkeit konnte die Sprache anders sein, ohne je unverständlich zu werden, konnte mit dem Volke bleiben und doch über dem Volk, während die Lyrik von heute zum größten Teil den Tätigen, den Wirklichen, dem Arbeiter und dem Werkmann fremd und wertlos geworden ist.
Aber eben in unseren Tagen scheint sich wieder eine Rückkehr zu diesem ursprünglichen, innigen Kontakt zwischen dem Dichter und dem Hörer vorzubereiten, ein neues Pathos wieder zu entstehen. Das Theater war die erste Brücke zwischen der Poesie und der Menge. Aber noch war hier der Schauspieler Mittler des gesprochenen Wortes, war das rein Lyrische nicht Selbstzweck, sondern nur Hilfe im Trug für[113] drei oder vier Stunden. Aber die Zeit der Absonderung des Dichters von der Menge, die einst bedingt war durch die großen Distanzen der Nationen, scheint heute überwunden durch die neue Annäherung, durch die Industrialisierung der Städte. Die Dichter lesen heute wieder selbst in Sälen ihre Verse vor, in den Volksuniversitäten Amerikas, selbst in den Kirchen klingen die Verse Walt Whitmans zu amerikanischem Bewußtsein, und was sonst nur die heißen Sekunden politisch bewegter Tage schufen – man möge an Petöfi denken, wie er sein Nationallied »Talpra magyar« vor den Stufen der Universität zur revolutionären Menge deklamierte – das gibt nun fast jeder Tag. Wieder wie einst scheint heute der lyrische Dichter befähigt, wenn nicht der geistige Führer der Zeit, so doch der Bändiger und Erreger ihrer Leidenschaften zu werden, der Rhapsode, der Anrufende, Befeuernde, der Entfachende des heiligen Feuers: der Energie. Ein Warten scheint für ihn zu sein, der das ganze Leben im Blitze zusammenfaßt und über die Dunkelheiten sprühen läßt.
»Il monte – et l'on croirait que le monde l'attend,
Si large est la clameur des cœurs battants
A l'unisson de ses paroles souveraines.
Il est effroi, danger, affre, fureur,
Il est ordre, silence, amour et volonté et haine,
Il scelle en lui tous les violences lyriques.«
Freilich, anders muß das Gedicht sein, das zur Menge sprechen will. Es muß vor allem selbst ein Wille, selbst eine Absicht, eine Energie, eine Evokation sein. Was die Zeiten der Absonderung erzeugt haben an technischen Fähigkeiten und Werten, an süßer Musik, an schwingender Rhythmik, an Geschmeidigkeit und Biegsamkeit der Sprache, darf hier nicht mehr Selbstzweck sein, sondern nur Mittel zur Erregung von[114] Enthusiasmus. Ein solches Gedicht darf nicht mehr sentimentaler Dialog des Einsamen mit irgendeinem unbekannten Einsamen irgendwo in der Ferne sein, darf nicht die kurze, flüchtig zitternde Stimme sein, die schon verlischt, ehe die Flamme des Wortes in ihr emporgeschlagen hat, dieses neue Gedicht muß stark jubelnd und beseelt sein, weit ausholend und hinstürmend in raschem Schwung. Nicht für leise Stimmen ist es geschrieben, sondern für laute, hallende Worte. Wer die Menge zwingen will, muß den Rhythmus ihres neuen und unruhigen Lebens in sich haben, wer zu ihr spricht, muß beseelt sein von neuem Pathos. Und dieses neue Pathos, das »ja sagende Pathos par excellence« im Sinne Nietzsches, ist vor allem Lust, Kraft und Wille, Ekstase zu erzeugen. Nicht sensitiv und wehleidig darf dieses Gedicht sein, nicht ein persönliches Leid ausdrücken, damit ein anderer sich darin einfühle, sondern beseelt von Freude und Überschwang, von dem Willen aus Freude wieder Schwung und Leidenschaft erzeugen. Nur große Gefühle tragen das Wort zur Menge hin, kleine, die nur im Schweigen wie in unbewegter Luft auffliegen können, stürzen hin. Das neue Pathos muß den Willen nicht zu einer seelischen Vibration, zu einem feinen ästhetischen Wohlgefühl enthalten, sondern zu einer Tat. Es muß mitreißen, muß die zersprengten Kräfte des Dichters von einst wieder in sich versammeln, muß im Dichter den Demagogen, den Musiker, den Schauspieler, den Redner für eine Stunde wiedererschaffen, muß das Wort vom Papier wieder aufreißen in die Luft, das Gefühl nicht sorgfältig als eine Heimlichkeit dem einzelnen anvertrauen, sondern in den Gischt einer Masse schleudern. Gedichte von solchem neuen Pathos können nicht schwache,[115] passive Menschen schaffen, deren Stimmung von der Umwelt in jeder Minute gewandelt wird, sondern nur Kampfnaturen, die beherrscht sind von einer Idee, vom Gedanken einer Pflicht, die ihre Empfindung aufzwingen wollen, ihre Begeisterung zur Begeisterung der ganzen Welt erheben.
Dieses neue lyrische Pathos will in unserer Zeit wieder lebendig werden. Durch Jahrzehnte hindurch hat man die Rhetoriker verspottet. Die Wertwandlung Schiller gegenüber ist dauernde Probe. Und erinnern wir uns, daß Nietzsche, der einzige in Deutschland, der in den letzten Jahren Weltwirkung gewann, dies nur vermochte, weil er einen neuen rednerischen Stil erzeugte – »ich bin der Erfinder des Dithyrambus« – weil sein »Zarathustra« ein Predigerbuch ist, das ungestüm nach der lauten, tönenden Stimme verlangt. In Frankreich war es Victor Hugo, der zum ersten Male die Notwendigkeit der Ansprache erkannte. Aber er, der gerade an jener haarscharfen Grenze steht zwischen Genie und Talent, er, von dem man entweder sagen kann, daß er einer der Geringsten war unter den ewigen, unter den monumentalen Dichtern, oder der Größte unter den kleinen, unter den epigonischen – er beschränkte sich nur auf Frankreich, dachte nur immer an die französische Nation – so wie Walt Whitman immer nur an die amerikanische – und vor allem, er hatte nicht den hohen Platz, zu ihr zu sprechen. Er wäre größer geworden, hätte er wahrhaft die Tribüne gehabt, von der sein Donner und Blitz zu einer Menge gefahren wäre, statt ewig nur das finstere Grollen aus dem Hintergrunde des Exils zu sein. Von seinem hundertbändigen Werke wird vielleicht nichts übrigbleiben als eben jene beschwörende Geste des Sprechenden, wie sie Rodin auf seinem Denkmal[116] festgehalten hat, die nichts anderes ist als der Wille zum Pathos. Diesen Willen hat er erschaffen, nicht das Pathos selbst, und schon die Anstrengung ist eine große und unvergeßliche.
Sein Erbe, das schlecht verwaltet war von den Schwätzern und Patrioten, von Deroulède und ähnlichen Trommel- und Fanfarendichtern, hat heute in Frankreich Verhaeren übernommen. Und er ist der erste, dessen Wort wieder zur Menge geht, die erste französische Gestaltung eines Pathos, das durchaus künstlerisch und dichterisch wirkt. Wie keiner war er, dessen tiefste Lust das Bändigen eines grandiosen Widerstandes ist, er, der »évocateur prodigieux«, wie ihn Berseaucourt nannte, zum lebendigen Wort befähigt. Wenn ich ein Gedicht Verhaerens lese, so überrascht es mich immer selbst wieder, wie ich, der ich es stumm lesend begonnen habe, plötzlich die Worte laut und lauter sprechen muß, wie unwillkürlich in meiner Hand, in meinem ganzen Körper das drängende Bedürfnis nach einer beschwörenden oder aufreißenden Geste erwacht. Denn so stark ist die Leidenschaftlichkeit des ursprünglichen Gefühles, der innere Schrei und Anruf in ihnen, daß er noch durchschlägt in der Reproduktion, noch laut wird aus den toten Lettern. Alle großen Gedichte Verhaerens haben die Sehnsucht, laut, stark, glühend, in Leidenschaft gesagt zu sein. Spricht man sie leise, so scheinen sie ganz ohne Melodie, liest man sie ruhig und gelassen, so erscheinen sie manchmal hart, holprig und unvermittelt. Manche Bilder wiederholen sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit, manche Adjektiva scheinen erstarrt zu Begriffen – der Kunstgriff des Redners, der das Wichtigste durch ständige Formel einprägen will – aber im Momente,[117] wo das Gedicht laut gelesen wird, ist es ganz wieder Lebendigkeit, die Wiederholung offenbart sich plötzlich als grandioses Moment der einschlagenden Erregung, die wiederholten Bilder werden zu regelmäßigen Meilensteinen längs des wild ins Unendliche hinausstürmenden Weges. Das Gedicht Verhaerens ist Mitteilung einer Ekstase, Mitteilung aber nicht im Sinne eines Geheimnisses an einen einzelnen, sondern der Anfeuerung zur Menge. Seine Gedichte scheinen nie ganz fertig zu sein, sondern während man sie liest erst entstanden, wie ja auch jede gute, leidenschaftliche Rede den Eindruck der Improvisation macht; sie sind immer das Aufrollen eines Zustandes, die leidenschaftliche Analyse, die wie eine Entdeckung wirkt. Sie sind pathetisch, nicht harmonisch. So wie der Redner eine Versammlung nicht gleich mit der Schlußfolgerung überrascht, sondern sie erst aus allen ihren Bedingungen langsam und logisch entstehen läßt, so wachsen diese Gedichte auf, sie sind aufgebaut aus Visionen, zuerst in Ruhe, dann in der Steigerung, dann mit den brennenden Horizonten immer wild und wilder in Bildern überschäumend. Und diese Bilder wieder sind rednerische, sie sind nicht Gleichnisse, die erst auf dem Umwege des Nachdenkens in ihrer Gänze voll erfaßt werden können, sondern grelle Blitze. Das pathetische Gedicht braucht Bilder, die nicht nur das Gefühl treffen, sondern es sofort tödlich treffen müssen. Sie müssen grell sein, weil sie in einer blitzschnellen Sekunde die ganze Empfindung im Ausdruck zwingen müssen. So erzeugt das pathetische Gedicht eine andere Form der Versinnlichung, und ebenso erzeugt es sich selbst einen neuen Rhythmus der Steigerung. Zuerst beleuchtet Verhaeren mit den Blitzen seiner Bilder die ungeheure Leidenschaft der Visionen, dann steigert er[118] das Staunen und die Erregung durch eine gewisse Monotonie des Rhythmus zur höchsten Ekstase. Immer schon glaubt man bei den Absätzen seiner großen Gedichte auf dem Höhepunkt angelangt zu sein, da aber hetzt er wie mit einem Peitschenschlag immer noch zu höherem Sprung empor, zu höherem Ausblick. »Il faut en tes élans te dépasser toi-même«, dieses sein moralisches Gebot ist ihm auch das höchste dichterische. Aufpeitschen, Hinaufhetzen, Mitreißen ist der tiefste Wille seines pathetischen Gedichtes. »Dites!« dieser Anruf, der wie eine Geste ist, das drängende »encore, encore!« sind als Anrufe in seinen Gedichten schon so zu Rufen erstarrt, wie jeder Reiter für sein Pferd gewisse Worte hat, um aus ihm die letzte Kraft herauszuholen. Solche Worte sind nichts anderes als umgesetzte rednerische Gesten. Das dumpfe »oh!« ist die Geste der Beschwörung, das kurze »qu'importe« die Geste des Wegschleuderns einer aufgetürmten Last, das langsame, wölbende, weit ausholende »immensement« die Auftürmung der ganzen Unendlichkeit. Bis zur Fieberhitze sind diese Gedichte emporgetrieben. Denn nicht nur selbst wollen sie fliegen wie die anderen, die harmonischen, die eigentlich lyrischen, die mit ausgebreiteten Flügeln den Wolken nahe zu schweben scheinen, sondern sie wollen noch die ganze träge, schwere Masse der Zuhörer gewaltsam aufreißen. Darum immer und immer die Wiederholung in dem oft überlangen Gedichte, als wäre noch irgendein Letzter zu überzeugen, als wäre noch irgendeinem Letzten die Begeisterung ins Blut zu sprengen. Vorwärts, vorwärts strebt alles und schleift den Widerstrebenden mit ekstatischer Gewalt nach.
Und hier zeigen sich die Gefahren des Pathos. Die erste, etwa die Victor Hugos, war die Leere, die Hohlheit[119] des Gefühles, das Überdecken eines Nichts durch eine große Geste, das Begeistern aus bloßer Technik und nicht aus innerer Nötigung. Die Phrase ist und bleibt die erste Gefahr des pathetischen Gedichtes. Die Banalisierung der Worte »plus sonores que solides« (Mockel) ist die andere. Hier aber, in diesem neuen Pathos, ist dazu noch eine neue, die der Überhitzung des Gefühls, die der übermäßigen, ungesunden Exaltation, die dann notwendig einer Abspannung weichen muß. Man kann nicht konstant fiebern in Erregung, nicht ununterbrochen begeistert sein. Und in diesen Gedichten ist der Wille zu einer unaufhörlichen Ekstase. Ebenso geraten auch die rein lyrischen Werte des Gedichtes durch das Pathos oft in Gefahr. Der Wille, deutlich zu sein, drängt zur Banalität des Wortes, die Prägnanz bedingt häufige Wiederholung, der Trieb, organisch eine Ekstase aufzubauen, Überlänge. Durch die grellen, klaren Farben verliert sich aus der Sprache jenes Mystische im Lyrischen – das Inkommensurable, wie es Goethe nannte – jenes Magische des Geheimnisses, das vor der Menge und vor dem Tageslichte flieht. Aber gleichzeitig bedeutet dieses Pathos auch eine ungeheure Bereicherung des Lyrischen, eine Umwertung des Wortes dadurch, daß es nicht ausschließlich für den Druck, sondern auch für die Deklamation bestimmt ist. Das pathetische Gedicht ruht nicht wie das lyrische auf sich selbst, es ist sich nicht selbst Frage und Antwort zugleich, sondern Erwartung einer Antwort. Das große Pathos wächst daher am Erfolg, mengt die Begehrung und die Antwort seiner Zeit unwillkürlich in das Gedicht. Die Stimme des Dichters ist immer so stark wie der Ruf, der an ihn ergeht. Verhaeren hat dieses neue Pathos aus einer Entwicklung gefunden, weil er die Stimme der[120] Menge, der Städte und all der neuen Dinge nicht mehr als lyrisch - dichterische Hemmung empfand, sondern als Anruf, als rednerische Mahnung. Und je mehr unsere Umwelt wuchtig, grandios und leidenschaftlich wird, je mehr sie durch die Zusammendrängung ihrer Kraft heroisch wird – heroisch in jenem neuen Sinne Emersons – um so mehr muß auch die Lyrik im neuen Sinn, vielleicht in dem Verhaerens, pathetisch werden. Gigantische Impressionen lassen sich nicht in kleine Eindrücke, in zersplitterte Formen zwingen, lauter Anruf braucht laute Antwort. Mehr als wir es wissen ist jede Kunst von ihrer Epoche abhängig. Auch im Künstlerischen scheint die geheimnisvolle Abhängigkeit zwischen Bedarf und Produktion zu bestehen, Gesetze jenseits unserer Erkenntnisse, die manchmal in flüchtigen Beispielen unsicher wie eine Ahnung aufschimmern, aber jeder Formel entfliehen.[121]
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