Das Drama Verhaerens

[139] Toute la vie est dans l'essor!

E. V.


Die Dramen Emile Verhaerens scheinen außerhalb seines Werkes zu stehen. Verhaeren ist eigentlich Nurlyriker. Sein ganzes Empfinden ruht auf lyrischer Begeisterung, und alle Nachbargebiete sind bloß Quellen, die ihre Kraft dem einen inneren Triebe nährend zuführen. Das Dramatische wie das Epische hat Verhaeren fast immer nur als Mittel, nie als Selbstzweck verwendet, er hat vom Epischen die breite, die ruhige Entwicklung, die Architektonik des Aufbaues in seine weitausladenden dithyrambischen Gedichte übernommen, von der Dramatik den jähen, abrupten Kontrast der Übergänge. Das Dramatische wie das Epische dient ihm nur als Tonikum, als Blutkräftigung seiner lyrischen Kunst. Wenn nun Verhaeren außer seiner Lyrik auch noch Dramen – bisher vier – geschrieben hat, so müssen sie im Gefüge seines künstlerischen Gesamtwerkes von einem anderen Gesichtspunkte aus gewertet werden: von einem architektonischen. Denn die Dramen sind ihm in gewissem Sinne nur Übersichten, Konzentrationen einzelner lyrischer Kreise, Zusammenschluß gewisser ideeller Komplexe, die einen Augenblick seiner Vergangenheit beschäftigten, sie sind Abrechnungen, Schlußpunkte von Entwicklungen, Meilensteine einzelner Epochen. Was damals in den lyrischen Gedichten, die ja nie ganz systematisch ein Gebiet umgrenzen, auseinanderfiel, ist hier programmatisch in einen Brennpunkt zusammengeführt. Das lyrische Nebeneinander ist in innere Beziehung gebracht, der Ideenkreis im Rahmen eines Stückes bildmäßig geordnet. Die vier Tragödien Verhaerens stellen vier Sphären der Weltbetrachtung dar, die religiöse, die[139] soziale, die nationale und die ethische. »Le Cloître« ist eine Neuschöpfung des Versbuches »Les Moines«, die Tragödie des Katholizismus »Les Aubes« eine Komprimierung der soziologischen Trilogie »Les Villes Tentaculaires«, »Les Campagnes Hallucinées«, »Les Villages Illusoires«. In »Philipp II.« gestaltet sich die Tragödie des Antichrist von Flandern, der Kontrast von Spanien und Belgien, von Sinnlichkeit und Askese. Und »Hélène de Sparte«, die schon äußerlich eine Annäherung zum Klassizismus bekundet, enthält die Auseinandersetzung mit rein moralischen, mit den ewigen Problemen. In stofflicher Beziehung bedeuten die Dramen Verhaerens also keine Abweichung, keine Veränderung des inneren Schwerpunktes, und auch sein neuer dramatischer Stil ist in vollkommener Harmonie mit seinem neuen lyrischen. Denn so wie er einerseits das Dramatische nur als Substanz des Lyrismus verwertete, hat er hier in seinen Dramen den Lyrismus zum Dramatischen umgewandelt. Auch hier sind es immer nur Visionen, die sich zu Exaltationen steigern. Hier wie immer kann Verhaeren nur aus Begeisterung schaffen. Was ihn anstachelt, ist das Lyrische im Enthusiasmus, jene Sekunde höchster Anspannung, wo die Leidenschaft explosive Worte braucht, um die Brust nicht zu zersprengen. Die Menschen seiner Dramen sind immer nur Symbole großer Leidenschaften, die Brücke für jenen Aufschwung in die Exaltation. Die Handlung bedeutet ihm nur den Weg zu den Höhepunkten, zu jenen Sekunden, wo diese Menschen irgend etwas Gewaltiges überfällt und zum Schrei zwingt. Ganze Szenen scheinen nur ein Warten auf den Moment, wo einer sich erhebt und gegen eine Menge wendet, wo er mit ihr kämpft, sie in die Knie preßt oder von ihr zerschmettert wird.[140]

Der Stil der Verhaeren-Dramen ist ein rein lyrischer, das Tempo ein unablässig leidenschaftliches und fieberndes, und diese allen dramatischen Gesetzen schroff widersprechende Art mußte sich notwendig organisch eine neue Technik erzeugen. Das französische Drama kannte bisher nur den gereimten Alexandriner oder die Prosa. In den Dramen Verhaerens ist nun – ich glaube zum ersten Male – Prosa und der freie, rhythmisch gereimte Vers unablässig durcheinander gemengt. Gemengt, aber nicht wie bei Shakespeare, wo sich Vers und Prosa auf einzelne Szenen verteilen und gewissermaßen eine soziale Schichtung herstellen, wo die Bedienten in Prosa und die Herren in Versen reden, sondern bei Verhaeren sind die Prosastellen die breiten, ruhenden Fundamente der Handlung, gewissermaßen die gewölbten Schalen, aus denen dann das heilige Feuer der Exaltationen flammt. Seine Menschen drücken ihre Ruhe in Prosa aus, werden dann erregt, und in dieser Steigerung geht ihre Sprache unmerklich in ein Gedicht über. Erst ihre leidenschaftlichen Ausbrüche werden Verse, gewissermaßen jene Sekunden, wo sie seelisch in Schwung geraten, und man muß bei diesen Stellen an den Moment denken, wo der Aeroplan, der zuerst am Boden hingehetzt wird und in immer schnellere Bewegung gerät, sich plötzlich in die Luft erhebt. Verhaerens Menschen reden im Drama, je poetischer sie werden, eine immer reinere Sprache, mit Leidenschaft bricht gleichsam Musik aus ihren Seelen, so wie manche Menschen, die sich plump und schwerfällig im Leben benehmen, in großen Momenten plötzlich schöne, heroische Gesten gewinnen. Es verkörpert sich hier die Idee, daß der Mensch im Enthusiasmus eine andere, edlere Sprache in sich entdecke, daß die Leidenschaft[141] und die Sehnsucht des Abtuns eines irdisch Unermeßlichen und Unerträglichen aus jedem Menschen einen Dichter mache. Diese Idee hängt mit der ganzen Weltanschauung Verhaerens zusammen, daß der leidenschaftliche, der begeisterte Mensch höher steht als der Kritische und Temperamentlose, daß gewissermaßen die Empfänglichkeit für große Gefühle eine Stufenleiter der moralischen Werte ausmacht. Und die Aufführungen haben gezeigt, daß dieser neue Stil seine Berechtigung hat, daß der Übergang von Prosa zum Vers, weil er gleichzeitig vor sich geht mit jenem Aufschwung von Ruhe zur Leidenschaft, im Publikum fast unbemerkt blieb, also als notwendig anerkannt wurde.

Und von Leidenschaft, dieser innersten Flamme des Verhaerenschen Gedichtes, leben auch seine Dramen. Ihre Vorzüge sind die des lyrischen Werkes, vor allem jene ungeheure visionäre Kraft, die hinter das Drama »Philipp II.« die tragische Landschaft Spaniens stellt, über dem Helenadrama blau, sanft und blühend den griechischen Himmel wölbt, hinter der Tragödie der modernen Städte die feurige Kulisse des Himmels mit dem schwarzen Arm der Rauchfänge aufrollt. Und dann die ungeheure Inbrunst der Ekstase, die nicht in langsamer, regelmäßiger Bewegung, sondern in wilden, zuckenden Stößen die Handlung aufwirbelt bis zu den Augenblicken der letzten Entscheidung.

So nährt das erste Drama Verhaerens seine Kraft aus der lyrischen Quelle einer Selbstanklage. »Le Cloître« ist eine Paraphrase der »Moines«, des Buches der Mönche. Auch hier sind wieder alle die Gestalten in den kühlen Klostergängen versammelt, der sanfte, der wilde, der feudale, der zornige, der kindliche, der gelehrte Mönch, nur wirken sie hier nicht isoliert, sondern mit allen ihren Kräften gegeneinander. Sie[142] kämpfen um den Priorsitz, der eigentlich das Symbol eines Höheren ist. Denn so wie hier jeder einzelne Mönch symbolisch eine Tugend des Katholizismus und eine eigene Idee Gottes ausdrückt, so entscheidet hier der Priorsitz die Frage, wer Gott am meisten verdiene. Der alte Prior hat Balthasar, einen Edelmann, den das Kloster seit Jahren beherbergt, als Nachfolger bestimmt. Er aber, der nur ins Kloster flüchtete, weil er seinen Vater getötet und sich so der irdischen Gerechtigkeit entzogen hatte, fühlt brennend sein Schuldbewußtsein, fühlt den erbitterten Kampf zwischen dem eigenen Gewissen und dem leichteren Gewissen der anderen, die ihm längst verziehen haben. Und nicht früher empfindet er sich frei, als bis er das Geständnis vor allen Mönchen abgelegt hat, und auch dann nicht, erst bis er das Geständnis gegen den Willen des Klosters vor dem Volke wiederholt hat und sich selbst den irdischen Richtern übergeben. Wunderbar ist hier der katholische Beichtgedanke vereint mit der Idee Dostojewskis, sich durch das Geständnis zu erlösen, sich zu befreien durch das gewollte Leiden. In drei gleichen Steigerungen in allen drei Akten flammt am Ende das tragische Geständnis auf: zuerst aus Angst geboren, dann aus Gerechtigkeitsgefühl und schließlich geradezu als Lust; und hier in diesen herrlichen lyrischen Ekstasen ruhen die starken Schwingen, die die Tragödie tragen.

In der zweiten, der sozialen Tragödie »Les Aubes«, ist die Gegenwart das Szenarium. Sie hat die purpurne Kulisse der »Villes tentaculaires«, der Städte mit den Polypenarmen, die das arme, sterbende Land aussaugen. Die Bettler, die Armen, die Hungernden, die vom Lande Vertriebenen ziehen nach Oppidomagnum, der modernen Industriestadt, und belagern sie. Die[143] Vergangenheit stürmt noch einmal gegen die Zukunft an. In der lyrischen Trilogie war dieser Kampf in hundert Beispielen visionär gestaltet, hier aber wölbt sich über dem Kampf die Versöhnung, über den Wirklichkeiten der Traum. Denn hier versöhnt sich die Zukunft mit der Gegenwart. Der große Tribun Herenien zerbricht diesen Kampf, er ist Heros einer neuen Moral, indem er – im alten Sinne ein Verräter – die Feinde heimlich einläßt in die Stadt, indem er durch Nachgiebigkeit den Kampf verwandelt in eine Versöhnung. Er ist der tragische Träger der moralischen Idee, durch Güte alles Feindliche zu überwinden, und fällt als der erste Märtyrer seines Glaubens. Der soziale Gedanke Verhaerens, die herrliche Schilderung der Wirklichkeiten geht hier langsam über in Utopie, die neuen Morgenröten beginnen zu leuchten über den Vergangenheiten, die Harmonie läßt den Lärm der Revolte verklingen. Auch dieses Drama ist weit weg von den Möglichkeiten der meisten Bühnen, weil auch hier eine rein ethische Idee mit all der Glut und Ekstase vorgetragen ist, die sich sonst bei modernen Dramen nur in den erotischen Begehrungen findet.

Die dritte Tragödie »Philipp II.« ist ein nationales Drama, obwohl es nicht in Flandern spielt. So wie Charles Decoster in seinem »Tijl Uylenspieghel«, im ewigen Epos Flanderns, Philipp II. als den Erbfeind der Freiheit mit dem geradezu tödlichen Hasse des Flämen gesehen hat, so schildert auch Verhaeren, der lyrisch mit seinem »Toute la Flandre« der repräsentative Sänger seiner Heimat wurde, in seiner Tragödie mit Gehässigkeit die finstere Gestalt. Philipp II. ist hier, wie in »Till Uylenspiegel« der harte, unbeugsame König, der das Leben auslöschen will, weil es ihm zu rot brennt, der die Welt kühl und marmorn haben[144] will wie die Gemächer des Eskurial. Hier ist mit einem Male die Rückseite des Katholizismus, dessen Glut verewigt war im »Cloître«, aufgerissen, seine Unbarmherzigkeit und Askese, sein gegen die unsterbliche Lebensfreude gerichteter Wille. Don Carlos aber ist der begeisterte Freund der Menge, der Freund Flanderns, er ist der Wille zum Genuß, zur Heiterkeit und zur Leidenschaft. Und dieses Ringen zwischen dem Ja und Nein des Lebens, dieser Kampf der lyrischen Krise Verhaerens, der Kampf zwischen der Verneinung und der leidenschaftlichen Bejahung des Genusses – im Innersten auch tiefste Ursache des Krieges zwischen Spanien und den Niederlanden - symbolisiert sich hier in Gestalten. Natürlich fällt noch immer der Vergleich mit dem ungleich mehr dramatisch und großzügig komponierten Don Carlos Schillers zuungunsten des Verhaerenschen Werkes aus; aber Verhaeren wollte gar nicht die ganze Rundung, die Fülle der Menschen, er wollte nur diese beiden Gefühle in ihrem Kampf, den Enthusiasmus des Lebens und seine gewaltsame Unterdrückung. Gerade im Vergleich mit dem Schillerschen Drama spürt man die Entfremdung von den dramatischen Gesetzen und gleichzeitig die ungeheure neue lyrische Gewalt. Denn Spanien ist hier gesehen mit einer Kraft und Intensität der Vision, wie kaum bisher jemals in einer Tragödie. Man fühlt die kalte, heuchlerische Atmosphäre und sieht den Charakter Philipps in der einen stummen Szene besser als in allen Worten, in jener Szene, wo er, plötzlich auf leisen Sohlen auftauchend, seinen Sohn in den Armen der Komtesse belauscht und schweigend, ohne einen Glanz im starren Auge, ohne eine Regung des Zornes wieder im Dunkel verschwindet. Hinter ihm aber, dem Lauscher und[145] Horcher, gleitet noch ein Schatten, der Mönch der Inquisition, der Lauscher ist selbst belauscht, der Herrscher selbst beherrscht. Solche Visionen und die Ekstatik einiger Szenen sind die stärkste Triebkraft des dichterischen Aufbaues bei Verhaeren. Seine dichterische Kunst geht wie seine lyrische nicht in sicherer Steigerung empor, sondern in jähen, wilden Ansprüngen.

Erst in seinem letzten Drama »Hélène de Sparte« ist Verhaeren dem Begriffe des Dramatischen etwas näher gekommen. Das ist charakteristisch für seine organische Entwicklung. Denn nun, da er in den Jahren ist, wo sich die Leidenschaft notwendigerweise kühlt, wird ihm die Harmonie teuer und er, der in allen Jahren seiner Jugend und seines Manneswerkes revolutionär war, erkennt nun die Notwendigkeit innerer Gesetze. Schon durch ihren geistigen Inhalt drückt diese Tragödie die Umkehr aus, sie ist nichts anderes als die Sehnsucht aus der Leidenschaft zur Harmonie, die Flucht Helenas von den Abenteuern zur Ruhe. Und andererseits ist wieder im Verse die Rückkehr, denn Verhaeren nimmt zum ersten Male hier das traditionelle französische Versmaß auf, nähert sich in freier Form dem Alexandriner. Die Tragödie Helenas ist die Tragödie der Schönheit. Helena ist einer jener antiken Charaktere, die in der griechischen Literatur nur in ganz leisen Linien angedeutet waren und die jetzt mit eigenem Schicksal zu erfüllen das Anrecht eines modernen Dichters ist. Denn von den griechischen Quellen wußten wir eigentlich nichts über ihr eigenes Schicksal, wußten immer nur ihren Effekt, nur den Reflex ihrer Persönlichkeit auf die anderen, nicht den der andern auf sie. Sie war die Königin, die alle Männer entflammte, die größten Kriege schuf, der zuliebe Mord um Mord geschah, die von einem Bett[146] ins andere gerissen wurde, um derentwillen Achill von den Toten aufstieg, die umkreist von unseliger Leidenschaft ihr Leben verbrachte. Aber wie sie diese Leidenschaften empfand, ob sie an ihnen aufwuchs oder an ihnen litt, sie wollte oder verachtete, davon berichten die Dichter nichts. Verhaeren nun hat in seinem Drama die Tragödie der Frau zu schildern gesucht, die furchtbar darunter leidet, immer nur begehrt zu sein, die verbrennt an der Qual, immer nur geraubt zu werden, nie einen reinen Blick, ein ruhiges Gespräch, ein Aufatmen zu kennen, die verflucht ist, immer am Holzstoß der Leidenschaft zu stehen, von den Flammen der Männer umlodert. Wer sie ansieht, begehrt sie schon, reißt sie mit sich, keiner wartet und fragt, ob er ihrem Willen dient, sie wird geraubt wie ein Ding, gleitet von Hand zu Hand. Bei Verhaeren ist die heimgekehrte Helena eine müde Frau, müde aller Unrast, aller Erfolge, müde der Liebe, eine Frau, die ihre eigene Schönheit haßt, weil sie Unruhe erzeugt, die sich nur nach dem Alter sehnt, wo keiner sie begehren wird und ihre Tage still sein werden. Menelaus hat sie heimgeholt, zurückgeführt aus jenem Qualm der Leidenschaft und Verbrechen, nun will sie ruhig atmen, stille Tage leben und ihm treu sein. Nichts will sie mehr. Keine Leidenschaft kann sie mehr reizen. »So viele Flammen sah ich flackern, daß ich die Herdglut nur mehr liebe und die Lampe« ist ihre ergreifende Resignation. Aber noch läßt das Schicksal nicht von ihr ab. Verhaeren hat hier die große griechische Idee aufgenommen, daß alles Übernatürliche auf Erden, jeder übergroße Besitz, also auch der der Schönheit, als Hybris vom Neid der Götter verfolgt ist und mit Schmerz bezahlt sein will. Übergroße Schönheit ist kein Gewinn, sondern eine tragische[147] Gabe. Und kaum kehrt Helena nun zurück, selig zu ruhen, zu sein wie alle anderen, so ballt sich schon neues Gewölk über ihrem Haupte. Der eigene Bruder begehrt sie und die Feindin Elektra, ihr Mann wird ermordet um ihretwillen, und aufs neue droht jener fürchterliche Kampf um ihren Körper zu entbrennen. Da flüchtet sie fort, hinweg von den Menschen, hinaus in die Natur. Und hier wieder nähert sich Verhaeren in genialer Vision dem griechischen Gefühl. Der Wald ist ihm nicht tot, sondern belebt, das Leben hört bei den Menschen nicht auf, Faune tauchen aus den Sträuchern, Najaden aus den Flüssen, Bacchantinnen von den Höhen, alles umlagert Helena, die Verzweifelte, mit Lockung und Inbrunst, bis sie zu Zeus in den Tod flüchtet.

Es ist charakteristisch für Verhaeren, daß er selbst dieses Drama, die Tragödie Helenas, die eine Tragödie der Liebe erwarten ließe, anerotisch oder besser antierotisch gestaltet hat. Vielleicht ist das geringe Interesse, das sich so lange für die Dramen Verhaerens und zum Teil auch für sein ganzes Werk bekundete, darauf zurückzuführen, daß es im Vergleich zu dem der anderen Dichter unserer Zeit sehr wenig erotisch ist, daß ihn erst jetzt, in den Jahren der Reife, das Problem der Liebe künstlerisch zu interessieren beginnt. Verhaeren hat von je alle Leidenschaft, die andere an das Erotische verschwendet haben, im rein Geistigen, im Enthusiasmus, in der Bewunderung zusammengehalten. In seinem Drama spielt die Frau eine fast untergeordnete Rolle, und »Le Cloître« ist vielleicht das einzige Drama von Bedeutung aus unseren Tagen, das unter seinen Personen und auch in seinem inneren Problemkreise keine einzige Frauengestalt aufweist. Und damit entfernt sich schon seine dramatische Absicht zu sehr[148] von den Interessen unseres Publikums. Denn Verhaeren sucht aus einem rein geistigen Konflikt jene Höhe und Hitze der Leidenschaft herbeizuführen, die bisher nur in der Erotik bekannt war, und darum berührt jene Exaltation die meisten der Hörer fremd und teilnahmlos. Alle die von heute, die sich einzig im Theater die Kunst suchen, sind zu flau und zag, um sich für ein rein ethisches Problem in eine solche brennende, mit steten Blitzen zuckende Ekstase aufreißen zu lassen. Nur so kann ich mir den Widerstand gegen Verhaerens Dramen erklären, die voll sind von Schönheit und lebendigen dramatischen, leidenschaftlichen Situationen und die vor allem ein Neues in sich bergen, einen neuen dramatischen Stil. Schon dieses Sichentflammen der Prosa zum Vers, schon dies war neuartig. Aber die ganze dramatische Absicht ist eine andere bei Verhaeren als die gewöhnlich - theatralische. Seine Absicht ist nicht das Interessierenwollen, nicht die Erzeugung von Furcht und Mitleid, sondern von Begeisterung. Er will die Hörer im Theater nicht beschäftigen, sondern will sie in einen Rhythmus reißen. Er will sie trunken machen mit den großen Erregungen, weil nur der begeisterte Betrachter fähig ist, jene letzten Leidenschaften zu erkennen, er will die Menschen fiebern lassen so wie jene Gestalten oben, er will ihr Blut feurig machen, will sie hinausheben über alle kühle, ruhige und kritische Betrachtung. Sein Temperament, das ganz auf Überschwenglichkeit gerichtet ist, seine Kunst, die erst in der Ekstase sich ganz auslebt, will leidenschaftliche Darsteller und leidenschaftliche Hörer. Und nur wenn ein kongenialer Schauspieler, ohne Furcht, ein Pathetiker genannt zu werden, diese Verse wie Sturzbäche niederschleudern würde, wenn er das Demagogische und gleichzeitig das Musikalische[149] des Rhythmus in aller seiner Pracht aufschießen ließe, würde vielleicht jene ideelle Stimmung eintreten können, die Verhaeren für seine Dramen verlangt. Denn er will nichts als ein begeistertes Gefühl, das seinem urschöpferischen entspricht. Er will nicht durch Logik überzeugen, nicht durch Bilder blenden, sondern aufreißen, mit sich reißen, in jenes letzte schwindlige Gefühl, das ihm einzig identisch ist mit der höchsten Form des Lebensgefühles: in die Leidenschaft.


*


In Deutschland hat sich vor allem »Das Kloster« in einer Darstellung bei Max Reinhardt und im Deutschen Volkstheater in Wien das Interesse eines literarischen Publikums erobert und über die Hemmung des Ungewohnten siegreich triumphiert. »Philipp II.« hat im Münchner Künstlertheater eine mustergültige Darstellung erfahren, »Helenas Heimkehr« dagegen noch nicht den richtigen Rahmen gefunden. In Paris von Ida Rubinstein verkörpert, mit grandios barbarischen Dekorationen von Bakst geschmückt, untermalt mit Musik, wirkte es mehr durch die äußere Pracht dieser etwas sensationell affichierten Inszenierung als durch seine dichterischen Qualitäten, die vom Dekor erdrückt wurden. Eine Darstellung, die seine reine lyrische Linie unverstellt, ohne aufgeschminkte Arabesken siegreich zur Geltung bringt, harrt noch als Aufgabe des genialen Regisseurs, der jene höchste und seltenste Qualität besitzt, sich selber dem Worte unterzuordnen und eine edle Einfachheit nicht durch falsche Fülle zu zerstören.[150]

Quelle:
Insel Verlag, Leipzig, 1913, S. 139-151.
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