Dürfen

[1616] Dürfen, verb. irreg. neutr. welches das Hülfswort haben erfordert. Ich darf, du darfst, er darf, wir dürfen, ihr dürfet oder dürft, sie dürfen; Conjunct. ich dürfe. Imperf. ich durfte; Conjunct. ich dürfte. Mittelwort gedurft.

1. Sich erkühnen, sich unterstehen, mit dem Infinitive, ohne zu. Wie darfst du denn sagen? Jer. 2, 23. Warum darfst du weissagen? Kap. 26, 9. Wer ist dieser, der solches sagen darf? Judith 5, 25.


[1616] Noch blähen sie sich auf und dörfen sich erheben,

Alls jeder, gebe Gott, müßt ihrer Gnade Leben,

Opitz.


Im Hochdeutschen ist diese Bedeutung größten Theils veraltet; doch sagt man noch hin und wieder: und du darfst dich noch verantworten? Wer bist du, daß du mir solche Dinge sagen darfst? u.s.f.


Er verlästert alle Sachen,

Die nicht sein Gehirn gebiert,

Und darf selbst darüber lachen,

Wie dein Arm den Scepter führt,

Can.


Besonders kommt diese Bedeutung bey dem Hagedorn sehr oft vor, vermuthlich, weil dieses Wort bey seiner Kürze für die Dichtkunst bequemer ist, als die längern Ausdrücke, sich erkühnen, es wagen u.s.f.

Das Lob nährt seinen Stolz, so wie sein Grimm die Noth; Mit beyden durfte nur die kühne Mücke scherzen, Haged. Ich sahe jüngst das Glück, und durft' ihm kühnlich sagen: Bereue deinen falschen Tand, ebend.


Was du am Morgen kaum verliehen,

Darfst du am Abend schon entziehen,

Haged.


Diese Bedeutung scheinet die älteste des Wortes dürfen zu seyn. Das Griech. θαρρειν, das Ulphilanische dauran, das Fränk. und Alemann. durren und thorren, und noch bey dem Hornegk geturren, das Angels. dyrran, dearran, das Schwed. töras, das Isländ. thora, das Engl. dare, das Schottländ. daren, haben eben dieselbe Bedeutung. Im Imperf. und in einigen Ableitungen nahm dieses Wort ein st an; daher heißt das Imperf. bey dem Ulphilas gadaursta, im Angels. dorste, im Engl. durst, und im Fränk. und Alem. gidorste. S. Durstig. Im Wallis. ist dewr kühn, und im Isländ. Thör die Kühnheit. S. Theuer. Das f ist spätern Ursprunges, kommt aber doch in den folgenden Bedeutungen frühe genug vor. Die Niedersachsen versetzen das r, und brauchen dräfen, dröven, für dürfen.

2. Macht, Erlaubniß haben, gleichfalls mit dem Infinitive des folgenden Verbi, ohne zu. Esaias aber darf wohl sagen, Röm. 10, 20. Oder wie darfst du sagen zu deinem Bruder, halt, ich will dir den Splitter aus deinen Augen ziehen, Matth. 7, 4. Mache doch, daß er mitgehen darf. Darf ich fragen, wer er ist? Ein Vater darf wohl wissen, was seiner Tochter Kummer macht. Am häufigsten aber mit einer Verneinung. Darf ich nicht wissen wer du bist? Es ist wohl wahr, aber man darf es nur nicht sagen. Daran durften wir nicht einmahl denken. Oft wird auch der folgende Infinitiv verschwiegen. Ich wollte wohl, aber ich darf nicht. Sie darf vor der Mutter nicht. Er darf nicht in das Haus. Kein Fremder darf ohne Paß in die Stadt. Wenn er nur Ein Mahl ja sagt, so darf er nicht wieder zurück. In dieser Bedeutung kommt so wohl gidurran, als auch thurfan, schon bey dem Ottfried vor.

3. Nöthig haben. 1) Mit einem Nennworte, so daß dürfen die zweyte oder vierte Endung des Hauptwortes regieret. Bithiu ni durafun thera sun, daher durften sie keiner Versöhnung, Ottfr. Uueiz iuuar Fater uuas ir thurftist, euer Vater weiß, waß ihr dürfet, Tatian. Darzu dorfft er ewr hilff und stewr, Theuerd. Daß sie keiner Hülfe dazu durften, Hiob 30, 13. Wer sie gern bald hätte, darf nicht viel Mühe, Weish. 6, 15. Die Gesunden dürfen des Arztes nicht, Luc. 5, 31. Was dürfen wir weiter Zeugniß? Kap. 22, 71. Was darf Gott eines Starken, Hiob 22, 2. Ich bin reich und habe gar satt und darf nichts, Offenb. 3, 17.


[1617] Der Mensch liebt Gold so sehr,

Und darf der Luft noch mehr;

Der Dieb, der dieß bedenkt,

Wird selten aufgehenkt,

Logau.


In dieser Verbindung ist es im Hochdeutschen veraltet, seitdem Bedürfen üblicher geworden, S. dieses Wort. Nur im Oberdeutschen wird es häufig noch so gebraucht. 2) Mit dem Infinitive, ohne zu; in welcher Verbindung es, in weiterer Bedeutung, auch im Hochdeutschen überall üblich ist. Du darfst es mir ja nur sagen, d.i. es ist weiter nichts nöthig, als daß du mir es sagest. Man wird ihn nur besser berichten dürfen. Man darf nur sein Vaterland lieben, um die Widerwärtigkeiten mit ihm zu theilen, Sonnenf. Sie dürfen nur befehlen. Ich habe, gottlob, so viel, daß ich niemanden ein gutes Wort geben darf. Ich durfte nur erröthen, so vergabest du mir, durfte nur wünschen, so war mein Wunsch erhöret, Dusch. Daß ich ihn doch nimmermehr wieder sehen dürfte! Less. In dieser dritten Bedeutung findet sich thaurban schon bey dem Ulphilas, der in der zweyten Person auch tharft für du darfst gebraucht. Thes mera ih sagen nu nit tharf, Ottfr. Das Schwed. töra bedeutet gleichfalls bedürfen. Darben ist mit diesem dürfen genau verwandt, und scheinet bloß nach einer andern Mundart gemodelt zu seyn, ob es gleich nur noch in der engsten Bedeutung von dem Mangel an der Nothdurft üblich ist. Bey dem Kero kommt auch duruftigan, als Frequentativum von dürfen, für darben, Mangel leiden, vor. S. auch Dürftig.

4. Ursache haben, gleichfalls mit dem Infinitive, ohne das Wörtchen zu. Darf ich mich auf dich verlassen? Du darfst dich nicht fürchten. Dürfen wir uns wundern, unglückliche Männer und Greise zu sehen, wenn die Jünglinge nicht glücklich waren? Dusch. Er darf sich eben nicht über Überfluß an Vernunft beklagen. Das hättet ihr eben nicht thun dürfen.

5. Wird dieses Verbum auch gebraucht, wenn ein wahrscheinlicher Erfolg, eine vermuthliche Begebenheit ausgedruckt werden soll, in welchem Falle es aber nur im Imperfecto Conjunctivi üblich ist. Man vermuthet, daß dieses erst morgen geschehen dürfte. Es dürfte ein leichtes seyn, ihn hierher zu bringen. Ich dürfte nicht König seyn, ich ließe keinen einzigen am Leben. Ich dürfte bald das Loos nicht verkaufen, weil die Tugend darauf stehet, Gell. Ich dürfte es bald selbst glauben, ebend. Ich dürfte es bald nicht annehmen, ebend. Thie ìe geboren thorften werthen, heißt es schon in dem alten Fragmente eines Gedichtes auf den Spanischen Krieg bey dem Schilter. Die Schweden gebrauchen ihr töra auf eben die Art. Han tör komma, es ist möglich, daß er kommt. Über die Figur, welche an dieser Bedeutung Schuld ist, darf man sich eben so wenig wundern, als daß mögen, können, sollen, auf eine eben so ungewisse Art gebraucht werden, ungeachtet ihre eigentliche Bedeutung sehr positiv und bestimmt ist.

Anm. 1. Es ist doch merkwürdig, daß dieses Wort im Hochdeutschen nicht in allen den Verbindungen mehr üblich ist, in welchen man es im Oberdeutschen gebraucht. Auch der Imperativ ist von demselben eben so ungewöhnlich, als das Participium der gegenwärtigen Zeit dürfend, obgleich bedürfen dasselbe hat. Die alte Form darren, durren, ist noch nicht ganz veraltet. In Preußen sagt man noch jetzt dären für dürfen, und ich däre für ich darf. In den ersten Ausgaben von Luthers Deutscher Bibel schrieb er noch beständig ich tar, für ich darf.

Anm. 2. In den meisten Oberdeutschen Gegenden gehet dieses Wort auf folgende Art: ich darf, du darfst, er darf, wir dörfen, ihr dörfet, sie dörfen, in Schwaben wir darfen u.s.f. Conj. ich dörfe Imperf. ich dorfte; Conj. ich dörfte. Ein sonderbarer[1618] Einfall war es wohl, als sich jemand einfallen ließ, diese Conjugation auch in das Hochdeutsche einzuführen.

Anm. 3. Da dürfen das Zeitwort jederzeit im Infinitive ohne zu bey sich hat, so verwandelt es in den zusammen gesetzten Zeiten sein Mittelwort selbst in den Infinitiv. Du hättest es mir nur sagen dürfen, für sagen gedurft. Er hat es nicht thun dürfen. Wenn wir nur die Wahrheit hätten schreiben dürfen. Zwar heißt es ein Mahl bey dem Opitz: Da keiner sich gedurft des Judenthumes schämen; allein das ist vermuthlich auf Verleitung des Sylbenmaßes geschehen. Wenn aber der Infinitiv durch eine Ellipse ausgelassen wird, so tritt auch gedurft in seine alten Rechte wieder ein. Er wäre gern gekommen, allein er hat nicht gedurft. Dürfen hat dieses mit wollen, sollen, mögen, können, hören, sehen, lernen, lassen und noch einigen andern gemein, welche gleichfalls den bloßen Infinitiv nach sich haben; aber wie man es um deßwillen für ein Hülfswort ausgeben können, wie von einigen Sprachlehrern wirklich geschehen, ist nicht zu begreifen.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 1. Leipzig 1793, S. 1616-1619.
Lizenz:
Faksimiles:
1616 | 1617 | 1618 | 1619
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Nachkommenschaften

Nachkommenschaften

Stifters späte Erzählung ist stark autobiografisch geprägt. Anhand der Geschichte des jungen Malers Roderer, der in seiner fanatischen Arbeitswut sich vom Leben abwendet und erst durch die Liebe zu Susanna zu einem befriedigenden Dasein findet, parodiert Stifter seinen eigenen Umgang mit dem problematischen Verhältnis von Kunst und bürgerlicher Existenz. Ein heiterer, gelassener Text eines altersweisen Erzählers.

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon