Streichen

[434] Streichen, verb. irregul. Imperf. ich strích, Mittelw. gestríchen, Imperat. streíche oder streich. Es ist ursprünglich, so wie alle Zeitwörter, eine Onomatopöie, welche einen gewissen bestimmten diesem Worte eigenthümlichen Laut nachahmte, und hernach von allen den verschiedenen Veränderungen oder Handlungen gebraucht wurde, welche mit diesem Laute verbunden sind, oder unter demselben gedacht werden. Daher kommt es denn, daß dieses Wort, wie so viele andere, in so verschiedenen einander dem Scheine nach sehr unähnlichen Bedeutungen gebraucht wird. Es ist in doppelter Gestalt üblich.

I. Als ein Neutrum, mit dem Hülfsworte seyn, und wenn die Bewegung mit mehr eigener Thätigkeit verbunden ist, auch mit haben. 1. Als eine Onomatopöie einer schnellen von oben herab gerichteten Bewegung, für niederfahren, ablaufen; eine noch im Niederdeutschen übliche Bedeutung, Nieders. striken. Daher rufen daselbst die Arbeitsleute bey dem Auf- oder Abwinden; laß streichen, laß los, laß ablaufen. Von dieser Bedeutung rühret noch der auch im Hochdeutschen übliche active Gebrauch her, die Segel streichen, S. sogleich im Activo.

2. Als eine Onomatopöie einer schnellen in horizontaler Linie ohne merkliche Zwischenräume fortgehenden Bewegung, wo es doch nur in verschiedenen einzelnen Fällen üblich ist.

(a) Eigentlich. Man gebraucht es hier, 1. von der schnellen einem Zuge ähnlichen Bewegung der Luft und des Windes. Die Luft streicht durch die Zimmer. Der Wind streicht durch die Fenster herein.


Die Lüfte, so hier streichen,

Sind immer ungesund,

Opitz.


2. Von dem schnellen in gerader Linie gehenden Fluge mancher Vögel. Bey den Jägern streicht das Auergeflügel nach dem Geäße, wenn es darnach fliegt.


Tief um das Schilfgras streicht,

Die Erdschwalb und der Spatz,

Hag.


Besonders gebraucht man streichen von denjenigen Vögeln, welche gegen den Herbst in wärmere Länder ziehen, und im Frühlinge wieder kommen. Die Vögel streichen oder streichen weg, wenn sie wegziehen; sie streichen zurück, sie streichen wieder, wenn sie zurückkommen. Daher der Strich, der Zug solcher Vögel, der Wegstrich, Wiederstrich. S. auch Abstreichen. 3. Von andern Thieren und Menschen für schnell gehen, wandern, laufen; Nieders. striken, Angels. strican, Engl. to strike, Schwed. stryka, Ißländ. striuka, Daher ist im Schwed. Strok, ein gebahnter Weg, eine Straße, wovon vielleicht auch unser Strauchdieb abstammet. Bey den Schwäbischen Dichtern wird strichen mehrmals für reisen, und bestrichen für bereisen gebraucht. Ich bin verre her gestrichen, gekommen, in dem alten Fragmente auf Carln den Großen, bey dem Schilter. Ain Arczt chom gestrichen, gegangen, Horneck. Sie strichen hinter ihnen her im Streit, 1. Sam. 14, 22. Streichen gehn, im Nieders. davon gehen. Jetzt braucht man es im Hochdeutschen nur im verächtlichen Verstande. Im Lande herumstreichen, wo es das Hülfswort seyn erfordert. Er[434] ist zehn Jahr herum gestrichen; aber er hat das ganze Land durchstrichen. Den ganzen Tag auf den Gassen herumstreichen. S. Landstreicher. Im Oberdeutschen in dieser verächtlichen Bedeutung auch streinen, stranzen, sterzen, störzen, Figürlich kommt es auch in verstreichen, schnell vergehen, vor.

(b) Figürlich, mit dem Hülfsworte haben. 1. Sich nach der Begattung sehnen, und sich wirklich begatten, wo es bey den Jägern von Hunden, Wölfen, Luchsen und Füchsen üblich ist, ohne Zweifel als eine Figur der vorigen Bedeutung, so wie laufen und läufisch seyn, in eben diesem Verstande üblich sind. Die Hündinn streicht, will laufen; sie hat gestrichen, hat sich belaufen. Mit einander streichen, sich belaufen. Ferner gebraucht man es von Fischen, wenn sie sich begatten und in und nach der Begattung den Samen und die junge Brut fahren lassen, für leichen. Die Fische streichen, wenn sie leichen. S. Streichkarpfen und Streichteich, ingleichen Strich.

2. Sich in die Länge ausdehnen, sich erstrecken, welches strecken und erstrecken, ein Intensivum von streichen in dieser Bedeutung ist. Ir pris kan so hohe strichen, Burckart von Hohenfels, kann so hoch reichen, sich so hoch erstrecken. Der Garten streicht bis an den Fluß, in einigen Provinzen. Im Hochdeutschen ist es hier im bergmännischen Verstande am üblichsten, wo ein Gang streicht, wenn er sich in die Länge d.i. nach einer der Weltgegenden ausdehnet. Das Streichen des Ganges, oder sein Streichendes, seine Ausdehnung nach einer der Weltgegenden, zum Unterschiede von seinem Fallen, d.i. seiner Richtung gegen die Horizontal-Linie. Der Gang gewinnet ein anderes Streichen, wenn er diese Richtung ändert. Er streicht von Morgen in (gegen) Abend; von Mitternacht in Mittag u.s.f. S. Strich.

(1) In der schnellen Bewegung die Oberfläche eines andern Körpers berühren, wo es eine gelindere Berührung ausdruckt als streifen, und eine eigene Onomatopöie dieser Berührung zu seyn scheint. Mit dem Kleide, mit der Hand an die Mauer streichen. Es leidet hier beyde Hülfsworte seyn und haben, je nachdem die Berührung mit mehr oder weniger vorsetzlichen Thätigkeit verbunden ist.

(2) Scheinet es ehedem auch eine Onomatopöie einer gedehnten oder mit vollem Munde ausgesprochenen Rede gewesen zu seyn; wenigstens setzet die folgende thätige Bedeutung, etwas herausstreichen, mit aufgeblasenen Backen loben, eine solche neutrale Bedeutung voraus, sie müßte denn eine Figur einer andern thätigen Bedeutung seyn.

II. Als ein Activum, wo es besonders in einer doppelten Bedeutung üblich ist, welche sich auf zwey besondere Onomatopöien zu gründen scheinet.

1. Von oben an einem Seile niederfallen lassen; eine nur noch in der Seefahrt übliche Bedeutung, wo es das Activum von dem vorigen Neutro streichen, niederfahren, ist, eigentlich, niederfahren??? machen. Die Flagge streichen, sie zum Zeichen der Ehrerbiethung an dem Flaggenstocke herunter fallen lassen. So auch die Segel streichen, so bald man sie als ein Zeichen der Ehrerbietung fallen lässet. Da denn auch das Zeitwort streichen in beyden Fällen absolute und allein gebraucht wird; vor einem streichen, die Segel oder die Flagge. Ein Schiff zum Streichen zwingen.

2. Mit der Oberfläche eines Dinges auf der Oberfläche eines andern in die Länge hinfahren. Das Gesicht mit der Hand streichen. Das Papier glatt streichen. Etwas gerade streichen. Einem den Bart streichen. Eine Katze streichen. Den Fuchsschwanz streichen, einen andern nach dem Munde reden, im Theuerdanke den Falben streichen. Im Nieders. wird striken, streichen,[435] auch absolute in diesem Verstande gebraucht. Er kann gut streichen, andern gut nach dem Munde reden. So fern streichen eine Art der Liebkosung ist, ist streicheln das verkleinernte Iterativum davon. Besonders werden eine Menge mit einem solchen Streichen verbundene Handlungen oder Bearbeitungen nur streichen genannt. Den Schweiß von dem Gesichte, den Staub von dem Tische streichen, streichend von dem Körpern wegschieben. Das Geld zusammen streichen, einstreichen. Einem Kinde den Brey in den Mund streichen. Die Violine streichen, mit dem Bogen auf den Saiten streichen. Eine gute Violine streichen, für spielen. Butter auf das Brot streichen; so auch von allen weichen und flüssigen Körpern, wenn sie durch ein Streichen auf der Oberfläche des andern Körpers ausgedehnet werden, für das niedrigere schmieren. Ein Pflaster streichen. Eydotter auf das Brot streichen, bey den Bäckern. Ziegel streichen, sie machen, weil der weiche Thon in der Form eben gestrichen wird. Das Messer auf dem Stahle, auf dem Wetzsteine, auf der Thürschwelle streichen, es zu schärfen. Die Sense streichen, mit dem Streichholze. In Niedersachsen wird das Plätten oder Bügeln streichen genannt. Gold und Silber auf dem Probierstein streichen, an den zurückgebliebenen Theilen dessen Güte zu erkennen. Das Getreide im Schäffel streichen, oder den Schäffel streichen, mit dem Streichholze das Getreide abstreichen, so daß es nicht über den Rand des Schäffels hervor rage. Ein gestrichener Schäffel. Bey den Zeug- und Tuchmachern wird die Wolle gestrichen, wenn sie gekämmet wird. Die Weißgärber streichen die gewalkten Felle, wenn sie den Kalk mit dem Streicheisen heraus streichen, dagegen das Streichen der Lohgärber die Haare wegnimmt. Die Hutmacher streichen die Hüte, wenn sie selbige in heißes Wasser tauchen und hernach mit demselben die überflüßige Farbe heraus streichen. Die Böttcher streichen die Dauben, wenn sie selbige mit dem Schnittmesser aushöhlen. Lerchen streichen, sie mit Netzen oder Garnen, welche auf der Erde über sie hin gezogen werden, fangen; daher das Lerchenstreichen. S. Streichgarn. Mit dem Netze gestrichen, kommt schon im Schwabenspiegel vor. Ingleichen einen Strich ziehen, wo es doch nur in den Zusammensetzungen ausstreichen, durchstreichen, unterstreichen üblich ist, S. auch Strich. In der Landwirthschaft einiger Gegenden ist streichen, Nieders. streken, zum ersten Mahle pflügen. Mit Ruthen streichen, hauen. Ein Kind streichen, mit der Ruthe. S. auch Ausstreichen. Ehedem gebrauchte man es von allen mit einer schwingenden Bewegung oder einem Hiebe verbundenen Schlägen oder Hieben, so fern das Werkzeug nach dem Schlage zugleich auf der Oberfläche an sich gezogen wird. So auch jemand in das Angesicht streichet, 2 Cor. 11, 20; für schlägt. Ich fechte also, nicht als der in die Luft streichet, 1 Cor. 9, 26; in welchen Fällen, die Züchtigung mit der Ruthe ausgenommen, es wenig mehr gebraucht wird, obgleich das Hauptwort Streich in dieser Bedeutung noch völlig gangbar ist.

3. Heraus streichen, zur Ungebühr loben. Etwas heraus streichen S. das vorige Neutrum in der letzten Bedeutung, Jetzt gebraucht man es nur im verächtlichen Verstande, von einem ungebührlichen Lobe; allein bey dem Opitz kommt es noch im edlern für preisen vor.


Du, des Levi werthes Haus,

Streich des Herren Lob heraus,

Opitz, Ps. 135.


Streicht löblich aus dem Herren seine Werke,

Opitz.


So auch das Streichen, von der Handlung. S. auch Streich und Strich.

Anm. Im Niedersächs. striken, im Engl. to strike, im Schwed. stryka, im Ital. striccare, strisciare, im Latein. mit dem eingeschobenen[436] Nasenlaute stringere. Strecken ist in einigen Bedeutungen das Intensivum davon.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 434-437.
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