[64] Die Maratten, welche in den ältern Zeiten unbekannt waren und sich auf einmahl aus der Dunkelheit zu einer äußerst furchtbaren Macht erhoben, wohnen in Hindostan, der westlichen Halbinsel von Ostindien, von der sie mehr als die Hälfte, und zwar die schönsten und reichsten Landesstriche, erobert haben1). Dieses Volk, das zu den Hindus gehört und auch ihre Religion hat, übertrifft an Tapferkeit und Kriegsruhm fast alle jetzigen Nationen Asiens, und bleibt, der ganz unermeßlichen Reichthümer und herrlichsten Naturproducte des Landes ungeachtet, dennoch den angeerbten Gewohnheiten und Sitten und der alten edlen Simplicität und Mäßigkeit treu; doch giebt man ihnen allgemein einen großen Grad von Treulosigkeit Schuld. Ihre Landschaften bestehen aus den Provinzen des Oberregenten, den Ländereien der verbündeten oder Vasallenstaaten und einigen verbündeten Districten; das Band aber, welches alle diese weitläuftigen Districte vereinigt, ist sehr locker, da zwischen den einzelnen Provinzen nicht sowohl Unterthänigkeit als vielmehr bloße Bundesfreundschaft, die sich auf keine feste Constitution gründet und nie lange Dauer hat, eingeführt [64] ist. Die Maratten ziehen daher oft gegen einander zu Felde, oder einige streiten, andere bleiben neutral: und so verhindern sie selbst das Wachsthum ihrer Macht. Die Residenzstadt ist Punah unweit Bombay (ehedem war es Sitterah). Das Oberhaupt des Bundes heißt Mar-Rajah oder Maha-Rajah; allein seine Macht ist durch die zu große Gewalt des Peischwa oder ersten Ministers, der jetzt, seit dem Tode des letzten Maha-Rajah 1777 und schon vorher, die ganze Regierung an sich gerissen hatte, schon längst vernichtet worden: jetzt herrscht daher der Peischwa nebst einigen Braminen. Die Maratten leiten ihren Ursprung aus den Gebirgen der Provinz Marwa oder Malva, und waren vor ihrem großen Anführer Sevagi in der Mitte des 17. Jahrhunderts kaum dem Namen nach bekannt; dieser aber benutzte die Unruhen unter dem Großmogul Aurungzeb, seinem Beherrscher, verband sich mit mehrern Rajahs, und eroberte bis an seinen Tod, 1680, verschiedene Provinzen des Mongolischen Reichs. Seine Nachfolger machten sich noch gefürchteter, entrissen den Großmoguls eine Provinz nach der andern, besonders in Decan, bekamen von ihren Nachbarn ungeheure Summen als Tribut, und griffen selbst die Portugiesen und Engländer mit großem Vortheil an. Die innern Händel der Maratten veranlaßten 1772 die Regierung der Englisch-Ostindischen Compagnie zu Bombay zu einem Kriege mit dem größten Theile derselben: allein der ganze Vortheil, den England nach einem vierjährigen sehr blutigen und kostbaren Kampfe errang, bestand in einer unbedeutenden Erweiterung des Gebiets von Bombay; und die Maratten wurden den Engländern immer gefährlicher. Selbst Hyder Aly (s. dies. Art.), ihr heftigster Feind in Süden, konnte sie durch verschiedene Kriege zwar in Schranken halten aber nicht entkräften; und auch ein neuer Krieg, den die Engländer 1778 – 1782 gegen sie mit äußerster Anstrengung führten, schadete ihrer Macht nichts, und brachte vielmehr die Englisch-Ostindische Compagnie, die Hauptanstifterin desselben, an den Rand des Abgrunds. Zwar durchstreifte ein siegreiches Englisches Heer unter Goddards Befehlen ihr ganzes Land; zwar wurden die festesten Plätze erobert oder zerstört, [65] und die Beute war unermeßlich: allein nach jeder Niederlage wuchsen sie mit neuer Kraft hervor (da sie mehrere hundert tausende von Truppen, besonders Reiterei, die beste im Orient, zu stellen im Stande sind), alliirten sich mit dem Snbah oder Statthalter von Decan und selbst mit ihrem Erbfeinde Hyder Aly, drohten besonders den westlichen und südlichen Besitzungen der Britten den Untergang, und erhielten zuletzt im Frieden 1782 zu Bombay von ihren außerordentlich geschwächten Feinden alles Verlorne wieder, bis auf die Insel Salsette bei Bombay und wenige benachbarte Plätze. Im Jahr 1785 bekam ihr Reich einen neuen Zuwachs durch die gänzliche Ueberwältigung der großen Stadt Delhi, des letzten Restes des von ihnen schon längst geschwächten Mongolischen Reichs, unter ihrem großen Feldherrn und Anführer Madajee Scindia, der 1794 starb, und durch die Gefangennehmung des letzten Großmoguls Schah Allum. Mehreres hierüber siehe in dem Artikel Mongolen. Auch eroberten sie 1788 einen großen Theil des nordwärts von Delhi gelegenen Gebiets des vormahligen Zabeda Chans, indem sie dessen Sohne und Nachfolger, Cholam Kandir, eine gänzliche Niederlage beibrachten. In den neuesten Zeiten verbanden sie sich mit den Engländern und dem Subah von Decan gegen den furchtbaren Tippo Saib, halfen ihn überall schlagen und bekamen von ihm 1792, da er, bis auf seine Hauptstadt Seringapatam zurückgedrängt, einen sehr nachtheiligen Frieden machte, ein sehr großes Stück Land. Da sie den Bund mit den Engländern bloß aus Furcht vor Tippo Saib eingingen, dieser aber nun gedemüthiget ist, so dürfte wohl ihre Freundschaft mit denselben bald aufhören. Die Herrschaft über Hindostan ist also größten Theils in ihren Händen; und bloß die Engländer und die im nördlichen Theile sehr mächtig gewordenen Seiks (s. Ostindien), die oft ihre Feinde waren, machen ihnen dieselbe noch streitig. Allein ihre Tapferkeit, treffliche Kriegsdisciplin und Reiterei würden wahrscheinlich bald alle diese Hindernisse besiegen und sogar alle Europäer aus Hindostan vertreiben, wenn nicht innerliche Unruhen und Kriege sie fast unaufhörlich von einander trennten und entkräfteten, [66] welche Unruhen auch daher von ihren Feinden beständig unterhalten werden.
1 Sie besitzen jetzt die Provinzen Guzurate, Malba, Kandisch, Visapur, Berar, den besten Theil von Orixa, ein Stück von Golconda, ein großes Stück von Tippo Saibs Landen, ferner Delhi, Agra, einen beträchtlichen Theil des Landes des ehemahligen Zabeda Chaus und verschiedene kleinere Länder im eigentlichen Hindostan und Decan oder dem südlichen Theile der Halbinsel, folglich das Meiste von Hindostanan sich selbst und von Decan – ein Reich von 28,000 Quadratmeilen. Ihre Gränzen sind das Land der Seiks, Aude, Benares, Bahar, Bengalen, der Bengalische Meerbusen, Golconda, das Reich des Tippo Saib, das Indische Meer und der Meerbusen von Camboya. (Man sehe darüber Rennels Karte von Ostindien, bisher beinahe die einzige richtige.)