Die Ordalien

[307] Die Ordalien, (ein altdeutsches Wort, das so viel als Urtheile bedeutet) oder die Gottesurtheile, waren ein Product des ehemahligen Aberglaubens und des Mangels an Aufklärung in der Rechtsi gelehrsamkeit. Man glaubte nehmlich, nicht bloß beden Deutschen (die uns übrigens in diesem Artikel fast ausschließlich beschäftigen werden) sondern auch bei [307] den Engländern, Dänen, Norwegen und mehrern Europäischen Nationen, daß da, wo dem menschlichen Richter alle Beweise für Recht oder Unrecht, Unschuld oder Strafbarkeit verborgen seien, die Gottheit selbst die Wahrheit durch ein Wunder an den Tag bringen werde. Man ließ also denjenigen, wider den Verdacht da war, gewisse Handlungen, die dem Handelnden ihrer Natur nach schaden, feierlich in Gegenwart der Priester vornehmen, und hielt ihn dann, wenn ihm diese nichts schadeten, für unschuldig. Diese Handlungen nennt man Ordalien oder Urtheile Gottes, und sie waren bei den Deutschen besonders üblich. Da das Gelingen oder Mißlingen derselben bloß Werk des Zufalls oder der Pfaffentücke war, so wurden tausende von Unschuldigen Opfer der Strafgerechtigkeit, während die abscheulichsten Verbrecher derselben triumphirend entrannen. Wir befolgen das neueste und beste Werk über diesen Gegenstand, Friedrich Maiers Geschichte der Ordalien, insbesondre der gerichtlichen Zweikämpfe in Deutschland, Jena, 1795. Es waren in Deutschland vorzüglich folgende Gottesurtheile üblich: der gerichtliche Zweikampf, in welchem der Besiegte für strafbar gehalten wurde, die Feuerprobe, die Wasserprobe, der geweihte Bissen, das Abendmahl, das Kreuzgericht und das Bahrrecht. In peinlichen Fällen bediente man sich, wenn man den Thäter nicht gewiß ausfündig machen konnte, aller dieser Mittel, und einiger derselben auch in bürgerlichen, so daß der Beklagte sich dadurch von des Gegners nicht ganz erwiesenen Ansprüchen befreien konnte. Ihr Gebrauch ward bald ganz allgemein, da theils der Reinigungseid wenig oder gar nicht bekannt war, theils die Geistlichkeit durch die Ordalien Gelegenheit bekam, Rechtshändel aller Art ihrer Entscheidung zu unterwerfen; und Geistliche waren es besonders, die zur Ausbreitung derselben beitrugen. Schon unter unsern heidnischen Vorfahren waren Ordalien einiger Maßen bekannt; und die Celten sollen Kinder, deren Mutter wegen Ehebruch verdächtig war, in einem Schilde auf den Rhein gesetzt und aus dessen Untersinken gefolgert haben, daß die Mutter eine Ehebrecherin sei. Die Salfranken [308] hatten zu Anfang des 5. Jahrhunderts die Probe des heißen Wassers, und späterhin kam auch die Probe des kalten Wassers vor. Am meisten kamen aber die Ordalien nach Einführung des Christenthums auf. Ein andres Gottesurtheil, die Feuerprobe, ist schon erwähnt worden (s. Feuerprobe): sie bestand außer den dort angeführten Arten auch manchmahl darin, daß man dem Beklagten glühende Kohlen auf den bloßen Busen legte, oder ihn durch ein Feuer gehen ließ, bei welchem letztern Versuche ihm oft ein mit Wachs überzogenes Hemde angezogen wurde (die Probe des wächsernen Hemdes); wenn man nun keine Verletzung durch das Feuer wahrnahm, so erklärte man ihn für schuldlos, im entgegengesetzten Falle aber folgte die Strafe. In andern Fällen gab ein Geistlicher dem Angeklagten einen geweihten Bissen unter vielen Verwünschungen in den Mund; und derjenige, welcher ihn sogleich ohne Mühe hinterschlucken konnte, und nachher keine Krankheit oder Schmerzen empfand, wurde von der Strafe befreit. Eine ähnliche Bewandniß hatte es mit der Probe des heiligen Abendmahls, die besonders unter Geistlichen und Mönchen gebräuchlich war, aber auch mit weltlichen Personen vorgenommen wurde: sie nahmen nehmlich zum Beweise ihrer Unschuld das Abendmahl; und man glaubte, daß Gott den Schuldigen nach dessen Genuß sogleich tödten oder krank machen werde. Ein andres Gottesurtheil war das Kreuzgericht, über dessen eigentliche Erklärung noch viel Dunkelheit herrscht. Nach Maier war es doppelt. Entweder man stellte den Kläger und den Beklagten mit ausgestreckten oder kreuzweis ausgebreiteten Armen eine bestimmte Zeit hindurch unter ein Kreuz; und der, welcher die Hände zuerst bewegte oder sinken ließ, wurde zur Strafe verurtheilt: oder man führte den angeblichen Verbrecher zu Reliquien oder in die Kirche, bezeichnete von zwei Würfeln einen mit einem Kreuz, und zog einen von beiden; hatte nun dieser das Zeichen des Kreuzes, so folgte die Befreiung von der Strafe. Endlich bediente man sich, und zwar schon in den frühesten Zeiten, bei Erforschung der Mörder des Bahrrechts, d. i. man legte den Ermordeten auf eine Bahre, und ließ den vorgeblichen Mörder die Leiche und besonders [309] den Nabel und die Wunden derselben berühren. Floß nun Blut, oder kam Schaum aus dem Munde, oder veränderte und bewegte sich der todte Körper; so bestrafte man den Verdächtigen als Mörder. Manchmahl nahm man hierbei an Statt der ganzen Leiche bloß die Hand; und dieses hieß das Scheingehen. – Aberglaube und Betrug hatten diese vernunftlosen Gebräuche auf den höchsten Gipfel erhoben; und selbst die Verbote aufgeklärter Kaiser, die von Ludwig dem Frommen an (im 9. Jahrhundert) bisweilen erlassen wurden, konnten ihnen wenig Einhalt thun. Stärker wirkte denselben der päpstliche Stuhl durch häufige Untersagungen und durch Einführung einer bessern Gerichtsverfassung entgegen; viele Obrigkeiten sahen auch selbst das Abgeschmackte und Abscheuliche derselben ein. Die Ordalien wurden daher seit dem vierzehnten Jahrhundert seltner; und im funfzehnten fingen sie an, durch den zunehmenden Gebrauch des canonischen Rechts, welches zur Ablehnung des Verdachts andre Mittel, besonders den Reinigungseid, einführte, und noch mehr durch den allgemein verbreiteten Gebrauch des Römischen Rechts, nach und nach zu erlöschen: so hörten z. B. die Feuerprobe, die Wasserprobe u, a. m. auf. Indeß bedieute man sich selbst in dem weit aufgeklärtern sechzehnten Jahrhundert, sogar noch im siebzehnten und den ersten Jahren des achtzehnten, des Bahrrechts noch ziemlich häufig; und der fortdauernde Glaube an Zauberei erhielt die Probe des kalten Wassers bei Hexen. Sie wurden nehmlich auf das Wasser gelegt, und, wenn sie schwammen, für überführt erklärt: ja es wurde bei den selben außer dieser Probe (die man das Hexenbad nannte, und die im 17. Jahrhundert, in Preußen und den benachbarten Gegenden noch in der ersten Hälfte des gegenwärtigen, angetroffen wird) zuweilen auf die Hexenwage erkannt; man wog sie nehmlich, und wenn sie ein ungewöhnlich leichtes Gewicht hatten, wurden sie für schuldig erklärt. Lächerlich ist der Aberglaube einiger Gerichte, bei denen manche angebliche Hexen anderthalb Quentchen oder ein Paar Loth wogen! Diese Albernheiten hörten zu Ende des vorigen Jahrhunderts gänzlich auf, da der unsterbliche Thomasius den Glauben an Hexen fast ganz verbannte; [310] und nur als eine Seltenheit verdient bemerkt zu werden, daß noch 1728 zu Szegedin in Ungarn eine Wägung mehrerer Hexen vorgenommen wurde. – Wir können also, diese wenigen jetzt ebenfalls erloschenen Reste der Ordalien abgerechnet, das Ende des 15. und den Anfang des 16. Jahrhunderts als den letzten Zeitpunkt des Ordalienunfugs festsetzen; aber leider führte das Römische Recht, das zu ihrem Sturz ungemein viel beitrug, an ihre Stelle ein eben so abscheuliches Beweismittel in peinlichen Prozessen, nehmlich die Tortur, ein, welche anfänglich nur an Leibeignen, nachher aber auch an freigebornen Personen vollzogen wurde. – Uebrigens findet man, in Ermangelung andrer Beweise, bei vielen Völkern in andern Welttheilen noch Gottesurtheile. So halten die Senegambier in Afrika den wegen Verbrechen verdächtigen Personen ein glühendes Eisen an die Zunge; einige Neger auf der Küste von Guinea geben denselben Kräuter und Rinden von gewisser Art in die Hände, und glauben, daß die Schuldigen sich daran verbrennen; die Einwohner von Siam und Pegn haben die Probe des kalten Wassers; die Tschuwaschen und Ostiaken im Asiatischen Rußland verbinden das Gottesurtheil des geweihten Bissens mit einem Schwure; die Chinesen haben, ungeachtet ihrer so gepriesenen Aufklärung, dennoch die Feuer- und Wasserprobe: die allermeisten Ordalien aber sind bei den Hindus.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809, S. 307-311.
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