[99] Die Reformation (Geschichte). Wir verstehen unter der Reformation jene wichtige Veränderung, welche im 16. Jahrhundert die Denkart der meisten Europäischen Völker in religiöser Hinsicht erlitt. Gewöhnlich schränkt man diesen Begriff auf die Entstehung und Bildung der Lutherischen Kirchenpartei ein; allein diese war, ungeächtet ihres großen und wohlthätigen Einflusses, doch nur ein einzelner Strahl des wohlthätigen Lichtes, das schon etwas früher begonnen harte, und das die allgemeine Nacht des Irrthums und des Aberglaubens erhellen sollte. Es ist nicht unsere Absicht, hier ein Gemählde des traurigen Zustandes der Religion, der groben Unwissenheit und des unmoralischen Verhaltens der Priester, der Anmaßungen der Päpste, der drückenden Hierarchie jener finstern Zeiten zu entwerfen; nur das können wir nicht unbemerkt lassen, daß alle diese Mängel immer deutlicher eingesehen, immer lebhafter gefühlt wurden, und daß man zu Anfange des 16. Jahrhunderts fast allgemein die Nothwendigkeit einer Reformation erkannte. Verbesserung der Kirche in ihrem Oberhaupte und in ihren Dienern, Verbesserung der Kirche in Ansehung ihrer Lehren und Gebräuche, dieß war der Wunsch aller Rechtschaffenen und Aufgeklärten der damahligen Zeit. Man wünschte, daß der Papst seiner usurpirten Gewalt entsagen, den schändlichen Handel mit Pfründen, Dispensationen und Ablaß aufgeben, und ein wahrer Hirt der ihm anvertrauten Heerde werden, daß die Geistlichkeit sich nicht mehr in weltliche Händel mischen, daß sie einen rechtschaffenen, dem Geiste des Christenthums angemessenen Wandel führen, das Volk mehr über seine Pflichten aufklären und die Jugend vernünftiger erziehen, daß endlich auch die Religion von allem Aberglauben, allen Legenden, allen päpstlichen Satzungen und menschlichen [99] Zusätzen, welche sie damahls so sehr verunstalteten, gereinigt werden möchte. Hatten schon im 14. Jahrhundert und zu Anfange des 15. einige prüfende Gelehrte, wie z. B. Wiclef und Huß, ihre Stimme gegen die Fehler und Mißbräuche der Kirche erhoben, so traten späterhin, und zwar unter den Regierungen der Päpste Alexanders des sechsten, Julius des zweiten und Leo des zehnten, wo das Unwesen den höchsten Gipfel erreicht hatte, mehrere denkende Männer auf, welche die freie und üppige Lebensart der Priester mit lebhaften Farben schilderten, die Unwissenheit der Mönche durch ihren Spott lächerlich machten, und Könige und Fürsten gegen den Römischen Stuhl aufzubringen suchten. Unter diesen zeichneten sich vornehmlich Johann Reuchlin, Desiderius Erasmus und der Deutsche Ritter Ulrich von Hutten aus. Die Beredsamkeit des letztern, der für Hohe und Niedrige, Gelehrte und Ungelehrte schrieb, war besonders geschickt, auf das Volk zu wirken, und dasselbe über den Druck, unter welchem es in religiöser Hinsicht seufzte, aufzuklären. Man geräth in Erstaunen, wenn man an den Muth und die Freimüthigkeit denkt, mit welcher Ulrich von Hutten das Heer der Religions-Vorurtheile seines Zeitalters angriff; ein Unternehmen, das ihn beständig der Gefahr aussetzte, von den Römlingen, so nannte man die Freunde des Römischen Hofes und der alten Finsterniß, aus dem Wege geräumt zu werden. Durch seine und seines Freundes, des Ritters Franz von Sickingen, Bemühungen wurde in Deutschland in den Jahren 1518. 19 und 20 die wichtige Revolution vorbereitet; und Luther konnte späterhin um so glücklicher auf dem schon gelegten Grunde fortbauen. Man irrt also, wenn man die Reformation in dem Jahre 1517, in welchem der Letztere aus Eifer über den Ablaßkrämer Tetzel die bekannten 95 Theses in der Schloßkirche zu Wittenberg vertheidigte, ihren Anfang nehmen läßt. Luther war noch in dem folgenden Jahre mit Achtung gegegen den Papst erfüllt, bezeigte ihm noch hier seine Ergebenheit, und ermahnte das Volk zum Gehorsam gegen ihn. Erst 1520 verbrannte er öffentlich das päpstliche Gesetzbuch, und erklärte sich ganz gegen den Römischen Hof, der seine Sätze als ketzerisch verwarf. An den Versuchen, durch welche man vor dem Jahre 1520 die gewünschte Religions-Freiheit zu erkämpfen strebte, hatte Ulrich von [100] Hutten, hatte Franz von Sickingen, Luther aber keinen Antheil. Wenn übrigens auch mehrere Deutsche Fürsten gegen den letztern sich erklärten, so begünstigten sie doch auf keine Weise die Sache des Römischen Stuhls; sie übergaben vielmehr auf dem Reichstage, der 1523 zu Nürnberg gehalten wurde, eine Menge Beschwerden gegen das päpstliche Regiment, und drückten dadurch einstimmig ihre Wünsche nach einer allgemeinen Kirchenverbesserung aus. Hier kann man nun die Frage aufwerfen, ob wohl ohne Luthers Dazwischenkunft die Reformation glücklicher würde von Statten gegangen sein? Mehrere katholische Gelehrte (unter andern auch Schmidt, der Verfasser der Geschichte der Deutschen) haben diese Frage bejaht, und zu beweisen gesucht, daß der genannte Reformator der anhebenden Aufklärung mehr geschadet als genützt habe. Allein die Gründe, die man für diese Behauptung aufstellt, sind nur scheinbar. Die Vorurtheile und Mißbräuche, die man hier zu besiegen und zu vertilgen fand, waren zu groß, als daß man hätte hoffen können, durch gelindere Mittel, für welche Erasmus sich so geneigt bezeigte, etwas auszurichten. Derjenige, der den schweren Kampf beginnen wollte, mußte mit dem größten Nachdruck wirken, und durfte keine Anstrengung scheuen, durfte kein Hinderniß für unüberwindlich halten, durfte selbst sein Leben nicht achten. Und die Unerschrockenheit, die Standhaftigkeit, welche die Ausführung des so schweren und so wichtigen Reformationswerkes heischte, war Luthern eigen, der denn auch das unschätzbare Vorrecht des freien Vernunftgebrauchs in Angelegenheiten der Religion begründete. Nicht ihm, sondern seinen Nachfolgern, und den irrigen Begriffen, die sich diese von dem Stifter ihrer Kirche machten, hat man es zuzuschreiben, daß das angebrochene Licht nicht in einen schönen und hellen Tag sich verwandelte, sondern nur schwache Dämmerung blieb. Luther wurde als ein Wesen, welches nicht irren konnte, betrachtet, und seine Aussprüche galten bei den ersten Protestanten eben so viel, als die Satzungen der Päpste bei den katholisch Gesinnten. Und so mußten freilich die Wünsche des großen Mannes unerfüllt bleiben, der es frei gestand, daß er nur die Bahn breche, und daß es seinen Nachkommen vorbehalten sei. auf dem betretenen Pfade weiter zu gehen, und immer größere für Geist und Herz wichtige Entdeckungen im Reiche der Wahrheit zu machen. Näherten [101] sich übrigens die ersten Protestanten dem glänzenden Ziele nicht, zu welchem ihnen Luther den Weg gezeigt hakte, so erhob sich auch ihr sittlicher Charakter nicht zu dem Grade der Vollkommenheit, den er nu erreichen konnte. Unduldsamkeit gegen andere Religionsparteien, steife Anhänglichkeit an die neu bestimmten Lehrbegriffe, und Wiederherstellung eines gewissen hierarchischen Ranges unter den Priestern, dieß waren hauptsachlich die Fehler, in welche die ersten Anhänger des Protestantismus verfielen. Ungerecht war es übrigens, wenn man ihnen einen Geist des Aufruhrs und der Widersetzlichkeit gegen die Befehle ihrer Obern vorwarf. Luther hatte das Volk zu einem unverbrüchlichen Gehorsam gegen die Obrigkeit ermahnt, und dieses war auch immer der ihm gegebenen Lehre eingedenk. Die Ungerechtigkeiten und Gewaltthätigkeiten, welche hin und wieder begangen wurden, waren nicht Folgen aufrührerischer Gesinnungen, sondern des mißverstandenen Satzes, daß man Gott mehr gehorchen müsse, als den Menschen. Diese Lehre wurde für die damahligen Zeiten eben so gefährlich, als die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit für die unsrigen. Ueberhaupt gewährt die Vergleichung der Revolutionen unsers Zeitalters mit der Reformation im 16. Jahrhundert sehr fruchtbare Ansichten, und führt auf manche sehr wichtige Resultate. Man lese hier die vortrefflichen Bemerkungen, welche der Hofrath Meiners in der von ihm erschienenen Lebensbeschreibung des Ulrich von Hutten aufgestellt hat.