[371] Reformation. Gleich einem schnellen Tagesanbruch erscheint die große kirchliche Umgestaltung im 16. Jahrhundert. Einzelne Lichtstrahlen, die bald wieder auslöschten, gingen ihr voran. Ihren vollen Sonnenschein sahen zunächst die Alpen der Schweiz und die Wogen der Elbe. Denn in Zürich erklärte sich Zwingli, in Wittenberg Luther gegen manche bis dahin bestandene kirchliche Einrichtungen und angenommene Glaubenssätze. Beide Männer eiferten in vielen Dingen wohl nicht ohne Grund und mit sichtbarem Erfolge. Sie fanden zahlreiche Anhänger, die nun besondere Glaubensgesellschaften bildeten. Unter dem Namen der Reformirten und Lutheraner sagten diese sich los von mehreren Lehren und Gebräuchen der Hauptkirche. Dieses merkwürdige Ereigniß wurde in kirchlicher und religiöser Hinsicht sehr wichtig und äußerte auch auf Völker und Staaten einen bedeutenden Einfluß. Denn immer wirken übermächtige Geister auf die Mitwelt und machen sich zu[371] Herrschern der Gegenwart und Zukunft. Die Scharen der gedankenlosen Volksmenge bedürfen ja einer höheren Vorleuchtung, wie die Planeten einer Sonne. Solche eingreifende Weltbegebenheiten aber, wie die Reformation, wiederholen sich kaum in Jahrtausenden. Denn große Ereignisse können nur in großen Räumen erfolgen. Doch lassen sich alle fortwirkende Veränderungen im Menschenleben in gewisser Hinsicht als Reformationen betrachten. Denn gewöhnlich sind aus großen Ursachen große Wirkungen entstanden, und anders hat sich im Wechsel der Jahre die Menschheit gestaltet. Der Zeitgeist drängt sich über die Zirkellinien des Alterthums und der Verjährung hinaus und strebt seitwärts oder gerade fort. Seine Kraftäußerungen können auf Jahrhunderte die Welt irren oder segnen, und werden schon in langen und früheren Vergangenheiten vorbereitet. Da sie Wirkungen der geistigen Freiheit sind, so geschehen sie mit göttlicher Zulassung und werden die Beförderer der höchsten Zwecke. Jahrhunderte können aber auch erst unbefangen und richtig beurtheilen, ob aus Gott der Geist war, der die Reformation des 16. Jahrhunderts hervorrief. Da sie selbst als ein Werk der freien Untersuchung in Glaubenssachen erscheint, so gehört sie auch vor das Gericht einer späteren wissenschaftlichen Prüfung.
t