[688] Reformation (lat., »Umgestaltung, Verbesserung«; hierzu die Porträttafel »Reformatoren«), die Bewegung des 16. Jahrh., welche die Entstehung des Protestantismus (s. d.) und damit der lutherischen und reformierten Kirchen zur Folge hatte. Die R. hat in alle Gebiete des Kulturlebens der sich daran beteiligenden Völker mächtig eingegriffen, eine lange Reihe neuer Gestaltungen im politischen und kirchlichen Leben angebahnt und so die ganze moderne Entwickelung Europas bedingt. Viele Anzeichen kündigten schon seit langem das Herannahen einer neuen Kulturepoche an: die Erfindung der Buchdruckerkunst, die Erweiterung der Weltanschauung durch die überseeischen Entdeckungen, vornehmlich aber das Wiederaufleben der Künste und Wissenschaften im 15. Jahrh., alles, was man in der Regel unter dem Ausdruck Renaissance (s. d.) zusammenfaßt. Speziell die Notwendigkeit einer »R. der Kirche an Haupt und Gliedern« aber war durch die großen Kirchenversammlungen des 15. Jahrh. wiederholt anerkannt worden, und die reformatorischen Ideen, vor allen eines Wiclif und Hus, hatten dazu beigetragen, einen Umschwung der religiösen Grundideen anzubahnen.
Als den Geburtstag der R. muß man den 31. Okt. 1517 bezeichnen, an welchem Tage Martin Luther (s. d.) seine Thesen über den Ablaß an die Tür der Schloßkirche in Wittenberg schlug. In kürzester Frist durchflogen diese Thesen ganz Deutschland. Aber erst auf der Disputation, die vom 27. Juni bis 16. Juli 1519 in Leipzig statthatte (vgl. Seitz, Der authentische Text der Leipziger Disputation, Berl. 1903), vollzog Luther innerlich den Bruch mit der katholischen Religiosität, indem er sich zu der Behauptung drängen ließ, der Papst sei nicht nach göttlichem, sondern nur nach menschlichem Recht Oberhaupt der Kirche. Von Melanchthon (s. d.) mit seiner Beredsamkeit und dialektischen Gewandtheit unterstützt, von Kurfürst Friedrich dem Weisen (s. Friedrich 68) beschützt und vom Enthusiasmus fast des ganzen deutschen Volkes getragen, gewann Luther immer neue und einflußreiche Anhänger, namentlich einen großen Teil des deutschen Adels, voran die Ritter von Schaumburg, von Sickingen und von Hutten (s. d.), für seine Sache. An diesen deutschen Adel, als an echte Repräsentanten seines Volkes, richtete er seine Schrift »Von des christlichen Standes Besserung« (im Juni 1520), worin er die Fürsten und Reichsstände aufforderte, Hand anzulegen, um das römische Unwesen in Deutschland abzuschaffen. In der Schrift »Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche« (im Oktober 1520) gab er eine einschneidende Kritik der kirchlichen Lehre von den Sakramenten, die auf Taufe, Buße und Abendmahl beschränkt und ihres dinglichen Charakters als Gnadenmittel entkleidet werden. Zu der kirchlich-politischen und der kirchlich-dogmatischen Urkunde gesellte sich noch im selben Jahre die religiöse Urkunde der R., die Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen«, worin Luther auf Grund von 1. Kor. 9,19 mit sieghafter Klarheit die Doppelthese verfocht, daß der Christenmensch ein freier Herr sei über alle Dinge, niemandem untertan, und dennoch ein dienstbarer Knecht aller Dinge, jedermann untertan. Seine Lossagung vom Papsttum besiegelte er, indem er 10. Dez. 1520 vor dem Elstertor in Wittenberg die päpstliche Bulle, in der Leo X. ihm mit dem Banne drohte, samt dem kanonischen Rechtsbuch ins Feuer warf. Am 17. und 18. April 1521 bekannte er sich vor dem Reichstag zu Worms zu seinen die Vergangenheit stürzenden, die Gegenwart belebenden, die Zukunft verheißenden Gedanken. In Bann und Acht ward er der Heros des deutschen Volkes.
Allenthalben schlug die R. ihre Wurzeln. Politische, soziale, kirchliche und religiöse Momente trafen zusammen. Seit 1519 gewann sie das Übergewicht in Ostfriesland, seit 1522 in Pommern, Livland (durch Knöpken, Tegetmaier, Briesmann und Lohmüller), Schlesien, Preußen (durch den Hochmeister Albrecht von Brandenburg, der 1522 durch Osiander auf dem Reichstag zu Nürnberg gewonnen wurde), Mecklenburg, seit 1523 in Frankfurt a. M., Nürnberg (durch Osiander [s. d.] und den Ratsschreiber Lazarus Spengler), Straßburg (woselbst Matthes Zell schon seit 1518 das Evangelium predigte, an den sich später Capito [s. d.], Butzer [s. d.], Hedio und Fagius anschlossen), Schwäbisch-Hall (durch Johann Brenz [s. d.]), seit 1524 in Magdeburg, Bremen und Ulm. Freilich folgten die süddeutschen Städte schon jetzt teilweise in Lehre und Gottesdienstordnung mehr demjenigen Typus der R., der in der benachbarten Schweiz seine Heimat hatte. Hier erhob seit 1519 der humanistisch gebildete Ulrich Zwingli (s. d.) in Zürich seine volkstümliche Rede für die R. der Kirche und der Sitten. Durch das Studium der Heiligen Schrift zu einer selbständigen religiösen Überzeugung gelangt, sagte er sich rascher und entschiedener als Luther von den Prinzipien des Katholizismus los, sobald ihm einmal deren Gegensatz zum biblischen Christentum klar geworden war (s. Reformierte Kirche). Auf seine Veranlassung erließ der Große Rat (1520) ein Gebot, daß alle Prediger des Freistaats sich allein an die heiligen Evangelien und die Schriften der Apostel halten sollten, und durch Disputationen brach er der Sache der R. bald auch in andern schweizerischen Städten Bahn. In Basel entschied sich Ökolampadius (s. d.) für die R., in Bern Bertold Haller (s. d.) und Nikolaus Manuel (s. d.). Nur das Landvolk in den Gebirgskantonen, am Alten hangend und von den Mönchen und Priestern geleitet, verstattete den reformierten Ideen keinen Eingang; ja, die drei Waldstätte nebst Zug und Luzern schwuren einander, jeden Verächter der Messe und der Heiligen zu töten. Als einzelne blutige Gewalttaten den Ernst ihres Beschlusses bewiesen, blieben die reformierten Kantone die Antwort nicht schuldig. Bei Kappel floß (11. Okt. 1531) das erste im Religionskampf vergossene Blut; auch Zwingli fiel.
In Deutschland war das Kurfürstentum Sachsen unter Johann dem Beständigen (152532) das erste Land, in dem die R. die gesetzliche Genehmigung erhielt; auf Grundlage des Visitationsbüchleins erfolgte die Kirchenvisitation 152829. Etwa gleichzeitig führte Landgraf Philipp von Hessen 1527 sein Land durch Lambert von Avignon auf der Homberger Synode der R. zu. Schon 1524 aber war die lange gärende Unzufriedenheit des hart belasteten Bauernstandes, durch die mächtige Bewegung, welche die R. in die niedern Schichten des Volkes brachte, gefördert, in offenen Aufstand gegen den weltlichen und geistlichen Adel zur Erlangung von Christen- und Menschenrechten ausgebrochen und hatte blutig unterdrückt werden müssen. Diese Vorgänge trugen vornehmlich dazu bei, Luther in einer Richtung zu bestärken, die schon seit seiner Rückkehr von der Wartburg angebahnt worden war: neben der Selbstherrlichkeit des christlich-freien Bewußtseins oder Glaubens trat wieder die Bedeutung des äußern Kirchentums; das kühne Vorgehen wurde ermäßigt durch die Achtung vor der Geschichte. Leider erhob sich nun unter den Lehrern der evangelischen Kirche jener unselige Zwiespalt, der auf[688] Jahrhunderte hinaus einen Riß in die kaum entstandene Gemeinschaft machte, zunächst als Streit über das heilige Abendmahl (s. d.). Alle Versuche, ihn durch Religionsgespräche beizulegen, scheiterten an Luthers leidenschaftlicher Heftigkeit. Diese Trennung war aber um so unzeitiger, als die Existenz der evangelischen Kirche noch so wenig gesichert war und den ersten Bündnissen, die 1526 hauptsächlich auf Betreiben des hessischen Landgrafen unter einigen evangelischen Reichsständen geschlossen wurden, sofort katholische Gegenallianzen gegenübertraten. Auf dem im Sommer des gleichen Jahres gehaltenen Reichstag zu Speyer hielten sich beide Teile schon fast die Wagschale, so daß der Reichsrezeß vom 27. Aug. 1526 dahin lautete, bis zur Berufung eines allgemeinen Konzils solle sich jeglicher Stand in bezug auf das Wormser Edikt so gegen seine Untertanen verhalten, wie er es vor Gott und dem Kaiser verantworten könne. Jedoch schon auf dem neuen Reichstag zu Speyer 1529 ward der Beschluß des vorigen wieder zurückgenommen, so daß die evangelischen Stände zu einer förmlichen Protestation schritten, welche die geschichtliche Veranlassung des Namens Protestanten geworden ist (s. Protestantismus). Der Kaiser verwarf die Protestation und schrieb einen Reichstag nach Augsburg aus. Jetzt hielten es die protestantischen Stände für angemessen, die Grund lehren ihres Glaubens in der Kürze zusammenzustellen und sie dem Kaiser vorzulegen. So entstand, unter grundsatzmäßigem Ausschluß der Schweizer Reformatoren, die Augsburgische Konfession (s. d.), die am 25. Juni 1530 verlesen ward, und zu der sich bald auch die nordischen Reiche Dänemark, Schweden und Norwegen sowie die Ostseeländer bekannten, während die oberdeutschen Reichsstädte Straßburg, Konstanz, Lindau und Memmingen in der Tetrapolitana bei ihrer Zwinglischen Auffassung beharrten. In Deutschland aber begann seitdem der Kampf um das gute Recht der R., zu deren Schutz 1531 zwischen den protestantischen Ständen der Bund von Schmalkalden geschlossen wurde. Jetzt zog der Kaiser mildere Saiten auf, und es kam 23. Juli 1532 in Nürnberg zu einem Friedensschluß, worin den Gliedern des Schmalkaldischen Bundes das Verbleiben bei ihrer Lehre und bei ihrem Kultus bis zu einem allgemeinen Konzil oder bis zur Entscheidung eines neuen Reichstags zugesichert wurde. Als der Papst auf Mai 1537 ein solches Konzil nach Mantua ausschrieb, gab der Kurfürst von Sachsen seinen Theologen auf, die Glaubensartikel zu erwägen und zusammenzustellen, auf denen zu bestehen sein möchte, und so entstanden die von Luther (im Februar 1537) aufgesetzten Schmalkaldischen Artikel (s. d.), die den Gegensatz zum Katholizismus und die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der protestantischen Kirche weit bestimmter und schärfer als die Augsburgische Konfession aussprachen. Der kriegerisch gesinnte Landgraf Philipp von Hessen hatte inzwischen (1534) durch die Zurückführung des vom Schwäbischen Städtebund vertriebenen und vom Kaiser zugunsten seines Bruders Ferdinand des Thrones entsetzten Herzogs Ulrich von Württemberg dem protestantischen Glauben ein ganzes Land erobert. Ulrich übertrug die R. seines Landes Blarer (s. d.) und Schnepff (s. d.). Ohne Unterlaß war inzwischen der Landgraf auch bemüht gewesen, den seit dem Marburger Gespräch (im Oktober 1529) besiegelten Zwiespalt der Wittenberger und Schweizer Reformatoren über die Abendmahlslehre zu beseitigen, und seine Bemühungen hatten wenigstens einen provisorischen Stillstand der Streitigkeiten durch den Abschluß der Wittenberger Konkordie (Mai 1536) zur Folge. Auch der neue Kurfürst von Brandenburg, Joachim II. (153571), bekannte sich seit 1539 offen zur evangelischen Lehre und führte dieselbe mit Hilfe des Bischofs von Brandenburg, Matthias von Jagow, in sein Gebiet ein; gleichzeitig wurden auch des eifrig katholischen Herzogs Georg von Sachsen Lande durch dessen Nachfolger Heinrich für die R. gewonnen. Selbst der Kurfürst von Köln, Hermann, Graf von Wied (s. Hermann 3), ließ 1543 einen Reformationsplan im Druck erscheinen, der im ganzen mit der evangelischen Lehre übereinstimmte. Doch scheiterte dieser Reformationsversuch am Widerstand seines Domkapitels. Dagegen wurde ein heftiger Feind der R., Herzog Heinrich von Braunschweig, von Sachsen und Hessen aus seinem Lande verjagt (1542). Fast in allen Reichsstädten hatte die reformatorische Partei ein entschiedenes Übergewicht. Von weltlichen Fürsten war eigentlich nur noch der Herzog von Bayern, der sich jedoch der evangelischen Sympathien seines eignen Volkes und der Stände nur mit Mühe erwehren konnte, eine Stütze des Papsttums. In den nächstfolgenden Zeiten wurden die evangelischen Stände weniger beunruhigt. Der Kaiser war durch seine auswärtigen Unternehmungen sehr in Anspruch genommen und bedurfte der Reichshilfe gegen die Türken, die Ungarn bedrohten, und suchte auf den Religionsgesprächen (s. d.) zu Hagenau (1540), Worms (1540) und Regensburg (1541) eine Verständigung zwischen Protestanten und Katholiken herbeizuführen. Das Regensburger Kolloquium brachte einen angeblichen Religionsvergleich (Regensburger Interim, s. d.) zustande, den der Kaiser den Protestanten aufzwang. Das konnte Karl V. nur wagen, weil innere Zwistigkeiten im Lager der protestantischen Stände dem Schmalkaldischen Bund seine Kraft raubten. Die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen (1539) rief eine tiefe, in heftiger Korrespondenz sich äußernde Mißstimmung zwischen ihm und dem Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen (153247) sowie Ulrich von Württemberg hervor, die den Schritt ihres Bundesgenossen in scharfen Ausdrücken tadelten; der Landgraf, um sich vor der kaiserlichen hochnotpeinlichen Halsgerichtsordnung zu schützen, sah sich genötigt, Karl V. in einer die Interessen der Protestanten gefährdenden Weise gefällig zu sein. Die Beendigung des Krieges mit Frankreich (1544) gab dem Kaiser endlich freie Hand gegen die schmalkaldischen Verbündeten. Er nahm die Klage des kölnischen Domkapitels gegen den Erzbischof an und ließ eine Untersuchung gegen letztern einleiten.
Luther erlebte den Ausbruch des Krieges nicht, er starb 18. Febr. 1546 in Eisleben. Bald darauf ward wider den Kurfürsten von Sachsen und den Landgrafen von Hessen (20. Juli 1546) die Reichsacht ausgesprochen, und der Papst Paul III. predigte (4. Juli) einen Kreuzzug zur Ausrottung der Ketzerei. Nachdem im Spätjahr der Süden und im Frühjahr 1547 der Norden mit Hilfe des Herzogs Moritz von Sachsen unterworfen worden, zeigte der Kaiser plötzlich Mäßigung, indem er nur die Anerkennung des Ende 1545 eröffneten Konzils zu Trient von den Besiegten forderte. Ein Reichsgesetz, das am 15. März 1548 in Augsburg publiziert ward, ordnete an, wie es mit der Religion bis zum Austrag des Konzils gehalten werden solle. Dieses Interim (s. d.) ward vielen oberdeutschen Städten mit Gewalt aufgezwungen, indes det vom Kaiser mit dem sächsischen Kurhut begnadete Moritz vornehmlich unter Melanchthons Mitwirkung das Leipziger Interim (s. d.) ausarbeiten ließ. Während[689] aber die Gewissen durch das aufgedrungene Interim auf das äußerste beunruhigt wurden, beschloß Moritz, durch eine kühne Tat seine verlorne Ehre wiederzugewinnen und damit dem Reich und der Kirche die Freiheit zurückzugeben. Die ihm übergebene Achtvollstreckung an Magdeburg gab ihm einen Vorwand zu Ausstellung eines Heeres, und so brach er 1552, nachdem er ein schamloses Bündnis mit Frankreich geschlossen, aus Thüringen auf und stand schon 22. Mai vor Innsbruck. Der Kaiser floh durch die Engpässe der Alpen, und es kam nun 29. Juli der Passauer Vertrag zustande, kraft dessen das Kammergericht zu gleichen Teilen mit Bekennern der beiden Kirchen besetzt und zur Abstellung der Klagen über verletzte Reichsgesetze sowie zur Einigung in den kirchlichen Angelegenheiten ein Reichstag in nahe Aussicht gestellt ward. Auf diesem Reichstag, der nach mancherlei Verhinderungen 1555 in Augsburg eröffnet ward, wurde das Recht der R. den Reichsständen trotz des vom römischen Stuhl dagegen erhobenen Protestes zuerkannt, aber der geistliche Vorbehalt (reservatum ecclesiasticum) aufgenommen, wonach jeder zur lutherischen Kirche übertretende Prälat ohne weiteres geistliche Würde und weltliche Stellung verlieren sollte. Den andersgläubigen Untertanen wurde das Recht des freien Abzugs zugestanden. Über die Aufrechthaltung dieses Friedens wachten das Corpus catholicorum und das Corpus evangelicorum (s. d.). Noch einmal machte das Wormser Religionsgespräch den Versuch (1557), eine Einigung der Katholiken und Protestanten in der Lehre herbeizuführen. Er war ebenso vergeblich wie der zweite Reformationsversuch des Erzbischofs Gebhard (s. d. 3) von Köln 1582. Die Gegenreformation (s. d.) erstickte hier sowie in Mainz, Trier, Steiermark und Kärnten bereits mit Hilfe der Jesuiten (s. d.) jede protestantische Regung. Der Westfälische Friede stellte endlich nicht bloß den Status quo des Passauer Vertrags und Augsburger Religionsfriedens 1648 wieder her, sondern dehnte auch die in beiden den Lutheranern gemachten Zugeständnisse auf die Reformierten aus. Aber die Sache der R., wie sie endlich durch den Westfälischen Frieden zur rechtlichen Existenz gelangte, war nicht mehr die ursprüngliche. Fraglos hat schon den Reformatoren selbst zu einer folgerichtigen Durchführung der Grundsätze der R. vieles gefehlt. Ihre wiederholten Schwankungen und Unsicherheiten, ihre Zugeständnisse an das katholische System, ihre offenen Rückfälle und Selbstwidersprüche können und sollen nicht mehr verhehlt werden. Ihre Schuld ist aber verschwindend gering gegenüber denjenigen, die im weitern Verlauf der Geschichte jene Fehler, Mißgriffe, Inkonsequenzen und katholisierenden Verirrungen nicht bloß nicht als solche begriffen, sondern sie vielmehr erst recht in ein System brachten. In der ersten Hälfte des 16. Jahrh. machte die R. die Runde durch die damalige zivilisierte Welt. Rom zitterte; sogar die romanische Welt schien ihr wie eine reife Frucht in den Schoß zu fallen. Aber schon im Verlauf der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. war der Protestantismus von sich selbst abgefallen und hatte die »reine Lehre« zu einem neuen Gesetzeskodex erhoben, den Theologendruck an die Stelle des Priesterjochs gesetzt. Anstatt die volle Kraft der religiösen Begeisterung und der sittlichen Erhebung nach außen zu wenden, verzehrten die Protestanten sich in Lehrgezänk nach innen und verfielen dem Irrtum, göttliche Wahrheit in ihren dogma lischen Formeln festgebannt zu haben. Jetzt folgte Niederlage auf Niederlage; die Jesuiten sogar trieben vielfach eine freiere Theologie als die orthodoxe Epigonenschaft der R., und mit dem Sieg der Konkordienformel (1580) ward die anfängliche Siegesgeschichte der R., wenigstens auf deutschem Gebiet, zur erschütternden Leidensgeschichte, ja zuweilen fast zur Tragikomödie.
Richtig gewürdigt wird die Sache der R. nur da, wo man sich entschließen kann, von den Mängeln ihrer Ausführung abzusehen und die leitende Idee ins Auge zu fassen, die nur einen durchaus neuen Ansatz zur Verwirklichung des christlichen Prinzips selbst bedeuten kann. Hatte sich dieses im Katholizismus eine einseitig religiöse und kirchliche Ausprägung gegeben, so läuft die Tendenz der R. durchaus auf ein im guten Sinne des Wortes weltliches Christentum, auf eine Verwirklichung des christlichen Prinzips vor allem im sittlichen Leben hinaus, daher es sich lediglich von selbst versteht, wenn die R. auf dem Gebiete der Kirchenbildung mit dem Katholizismus nicht wetteifern kann; sie bedeutet vielmehr im Prinzip nichts andres als die Zerstörung des »gesellschaftlichen Wunders«, das als Kirche über den natürlichen Organismen der sittlichen Welt stehen will. Von Haus aus suchte und fand daher die R. Fühlung mit dem Staat; sowohl in Deutschland als in der Schweiz sehen wir eigentümliche Formen des Staatskirchentums entstehen, das sich, wo die reformatorischen Prinzipien zu ungehemmter Entfaltung kommen, überall in ein eigentliches Volkskirchentum umzusetzen bestrebt ist. Anstatt einer von einer wunderbaren Legende als ihrer theoretischen Voraussetzung getragenen Kirche über den Völkern zu dienen, will die R. das religiöse Leben der Völker ihrer gesamten sonstigen Seinsweise eingliedern, so daß es zu einer gefunden Funktion eines einheitlichen, aus sich selbst heraus lebenden gesellschaftlichen Organismus wird. Darin liegt die politische und soziale Mission der R. beschlossen. S. Protestantismus. Die Bildnisse der bekanntesten Männer der R. zeigt beifolgende Tafel »Reformatoren«.
Vgl. Marheineke, Geschichte der deutschen R. (2. Aufl., Berl. 183134, 4 Bde.); Hagenbach, Geschichte der R. (5. Aufl., Leipz. 1887); Kahnis, Die deutsche R. (das. 1872, Bd. 1); Maurenbrecher, Geschichte der katholischen R. (Nördl. 1880, Bd. 1); Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der R. (7. Aufl., Leipz. 1894, 6 Bde.); Egelhaaf, Deutsche Geschichte im Zeitalter der R. (3. Aufl., Berl. 1893) und dessen größeres Werk (Stuttg. 188992, 2 Bde.); v. Bezold, Geschichte der deutschen R. (Berl. 1890); Hoop-Scheffer, Geschichte der R. in den Niederlanden (deutsch, Leipz. 1886); Schaff, History of the reformation (New York 188892, 2 Bde.); Kawerau, R. und Gegenreformation (Bd. 3 von Möllers »Lehrbuch der Kirchengeschichte«, Freiburg 1894); Lamprecht, Deutsche Geschichte, Bd. 5 (s. Lamprecht). Vom katholischen Standpunkt: Döllinger, Die R., ihre innere Entwickelung und ihre Wirkungen (Regensb. 184648, 3 Bde.; 1. Bd. in 2. Aufl. 1851), und Janssen, Geschichte des deutschen Volkes (s. Janssen 2). Der Einzelforschung dienen das »Archiv für Reformationsgeschichte« (hrsg. von Friedensburg, Berl. 1903 ff.), »Quellen und Darstellungen aus der Geschichte des Reformationsjahrhunderts« (hrsg. von Berbig, Halle 1906 ff.), »Flugschriften aus den ersten Jahren der R.« (hrsg. von O. Clemen, das. 1906 ff.), katholischerseits die »Reformationsgeschichtlichen Studien u. Texte« (hrsg. von Greving, Münster 1906 ff.). Vgl. auch die Literatur beim Artikel »Luther«.
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