Wilhelm Tell

[84] Wilhelm Tell, einer der berühmten Schweizer, die zu Ende des Jahres 1307 den Grund zur Unabhängigkeit der Schweiz legten (s. Th. V. S. 172. 73), verdiente es allerdings, durch einen Schiller1 noch allgemeiner bekannt zu werden, als er es vorher schon, außer seinem Vaterlande, durch Geschichtschreiber, Dichter und Künstler geworden war. Indeß konnte natürlich die wahre Geschichte seines Lebens durch die kunstvolleste Behandlung nicht gewinnen; im Gegentheil ist es mehr als wahrscheinlich, daß jene nach und nach durch diese sehr gelitten habe. Das Gewöhnliche und beinahe das Einzige, was so viele Schriftsteller von Tell erzählen, ist Folgendes: Einer der Oestreichischen Landvögte in der Schweiz, Hermann Geßler (oder Geißler) hatte im Jahr 1307 auf dem Markte zu Altdorf (im Canton Uri) seinen Hut auf einer Stange aufhängen lassen und befohlen: daß jeder, der vor demselben vorbeiginge, ihm seine Ehrerbietung bezeigen solle. Tell, der dieß mehrere Mahle unterlassen, wurde daher von ihm verurtheilt, seinem eignen Sohne mit einem Pfeile einen Apfel vom Kopfe zu schießen; auf den Weigerungsfall drohte Geßler, Vater und Sohn hinrichten zu lassen. Tell, auf diese Art zu dem gefährlichen Schusse genöthiget, that ihn glücklich; allein da Geßler wahrnahm, daß Tell mit zwei Pfeilen versehen war, fragte er ihn um die Bestimmung des Zweiten Pfeiles, versprach ihm auch zugleich, daß er für sein Leben nichts zu fürchten haben solle, wenn er ihm die Wahrheit entdecke. Als ihm nun Tell hierauf offen gestand, daß, wenn er so unglücklich gewesen wäre, seinen Sohn zu tödten, dieser zweite Pfeil für ihn, den Landvogt, bestimmt gewesen sei, ließ ihn Geßler, an Händen und Füßen gebunden, auf einen Kahn bringen, den er selbst mit einigen Begleitern bestieg, um Tell nach dem Schlosse Kusnach schiffen und dort verwahren zu lassen. Während dieser Fahrt erhob sich aber [84] ein so heftiger Sturm, daß Geßlers Begleiter an ihrer Rettung verzweifelten, wenn nicht Tell, als ein starker Mann und erfahrner Schiffer, den Kahn ans Ufer bringen könne. Geßler sah sich nun genöthiget, ihm die Direction des Kahne zu überlassen, worauf auch Tell denselben ans Ufer hinlenkte, jedoch, als er einem Felsen nahe kam, sprang er auf einmahl mit seiner Armbrust und Pfeil auf diesen Felsen, und stieß, um seine Flucht mehr zu sichern, den Kahn wieder vom Ufer ab. Er verbarg sich darauf in einem Hohlwege, hinter einem dicken Gebüsch, und als Geßler in diese Gegend kam, schoß er ihn vom Pferde herunter. – So lautet die Erzählung; allein schon zu Anfange des 17ten Jahrh. fing man an, diese Geschichte deßhalb in Zweifel zu ziehen, weil einige Dänische Schriftsteller den Umstand mit dem Apfel von einem gewissen Tocco oder Tocho erzählen, den der Dän. König Harald, lange vor Tellʼs Zeit, zu diesem Wagstücke genöthigt haben soll. Gegen Anfang der zweiten Hälfte des 18ten Jahrhunderts gingen endlich mehrere Schriftsteller so weit, daß sie in Zweifel zogen: ob ein Wilhelm Tell gelebt habe? da alle Oestreichische Geschichtsschreiber des 14ten Jahrhunderts von ihm schwiegen. Diese Zweifel, die besonders dem Canton Uri sehr empfindlich waren, bewogen mehrere Schweizerische Gelehrte, Tellʼs Geschichte genauer zu untersuchen. Ihren, allerdings glaubwürdigen, Nachrichten zufolge, lebte Tell zu Bürglen im Turgau, und war ein Schwiegersohn des Walther Fürst. (Th. V. S. 172.) Zum Andenken der von ihm geschehenen Ermordung Geßlers (deren Veranlassung und Ausführung vielleicht etwas zu romanhaft erzählet wird), stiftete er, nebst Walther Fürsten und Werner Stauffachern (s. a. a. O.), eine jährliche Procession, die von dem Orte Steinen nach Bürglen gehalten werden sollte, und welche der Canton Uri nicht nur im Jahr 1387 bestätigte, sondern auch zu Bürglen eine Kapelle erbauen ließ, in welcher jährlich eine Lobrede auf Tell gehalten wurde. Im Jahr 1315 wohnte Tell der Schlacht bei Morgarten bei (a. a. O. S. 173.), und lebte dann als Einnehmer der Kircheneinkünfte zu Bürglen, wo er im Jahr 1350 sein Leben bei einer großen Wasserfluth verlor. Sein Name wurde nicht bloß durch seine Nachkommenschaft [85] (die im Mannstamm erst 1684 verlosch, und in der weiblichen Linie sich noch länger erhielt) fortgepflanzt, sondern seine dankbaren Landsleute erhielten sein Andenken durch Lieder, Processionen, Schaumünzen. Auch gab man dem Felsen, auf welchen Tell aus dem Kahne gesprungen war, den Namen Tellen Blatten (Tells Felsen), und der Canton Uri ließ im Jahr 1388 auch hier eine Kapelle bauen, die man Tells Kapelle nannte. Der Antrag hierzu geschah von einer allgemeinen Landesgemeine oder Versammlung dieses Cantons, bei welcher 114 Personen gegenwärtig waren, die Tell persönlich gekannt hatten. So wie alle diese Umstände, wenigstens über die Existenz dieses merkwürdigen Mannes, keinen Zweifel übrig lassen, so erhält auch selbst die gewöhnliche Erzählung der übrigen Vorfälle, die Geßlers Ermordung veranlaßten, dadurch einiges Gewicht, daß man solche in einer alten, schon zu Ende des 14ten Jahrhunderts geschriebenen, Schweizerchronik erwähnet findet. (M. s. übrigens auch noch die Note Th. V. S. 172.)


Fußnoten

1 Wilhelm Tell, Schauspiel von Schiller in 5 Aufzügen. Tübingen, 1804.

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 6. Amsterdam 1809, S. 84-86.
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