Agnesi

[110] Agnesi, Maria Gaetana, italienische Schriftstellerin, aus einem angesehenen Hause abstammend, geboren zu Mailand im Jahre 1718. Bereits in frühester Kindheit versprach sie eine seltene Zierde, ja an Geist und Gelehrsamkeit fast ein Wunder ihres Geschlechts zu werden; denn schon in ihrem neunten Jahre, wo sie durch ihre ausgezeichneten Fähigkeiten und einen Eifer, der diesen entsprach, so weit gekommen, daß sie nicht nur Latein so fertig wie ihre Muttersprache las und verstand, sondern auch so viel Belesenheit, Sachkenntniß und Beurtheilung besaß, um in einer lateinischen Rede zu beweisen, daß das Studium der alten Sprachen kein ausschließliches Eigenthum der Männer sein dürfe, sondern daß es auch dem weiblichen Geschlechte zu einer höhern Ausbildung nöthig sei, und ihm nicht fremd bleiben müsse. Diese Rede fand so vielen Beifall, daß sie im Jahre 1727 zu Mailand im Drucke erschien. In ihrem elften Jahre war ihr das Griechische so geläufig, wie das Lateinische; auch die morgenländischen Sprachen wurden von ihr mit einer wahren Begierde erlernt. Daneben vertiefte sie sich[110] in die speculative Philosophie, und widmete auch der Geometrie ihr Studium. Ihr Vater, stolz auf eine solche Tochter, versammelte zuweilen gelehrte Gesellschaften in seinem Hause, in denen Maria philosophische Sätze vortragen und vertheidigen mußte. Ein Zeitgenosse, der gelehrte Präsident de Brosses sagt in seinen Briefen über Italien, daß es höchst anmuthig gewesen sei, in ihr eines der schönsten und liebenswürdigsten Mädchen ihres Jahrhunderts, nicht nur durchdrungen von dem Geiste jeder Wissenschaft, sondern auch umgeben von allen Grazien der Weiblichkeit zu sehen. Ihr Vater sammelte die von ihr nach und nach vertheidigten Sätze, und gab sie im Jahre 1738 in einem Quartbande heraus. Damals aber schien sie die Neigung zu dieser Art von Unterhaltung verloren zu haben, und die Mathematik eröffnete ihr ein neues weites Feld des Nachdenkens und der Forschung. Ihre ernsten Forschungen und Betrachtungen führten sie so weit, daß sie im dreißigsten Jahre eine Abhandlung über die Kegelschnitte schrieb, die als ein Muster des Scharfsinns und der Gründlichkeit gepriesen wurde. Auch gab sie damals die Anfangsgründe der Analysis heraus, ein Werk, welches Euler als die beste Einleitung zu seinen Schriften betrachtet hat. Es ist in mehrere Sprachen und zuletzt noch im Jahre 1801 von dem Professor Colson in Cambridge in's Englische übersetzt worden. Diese letzte Schrift befestigte Maria's Ruf als gelehrte Schriftstellerin auf das Ehrenvollste, und erwarb ihr den Verzug, sich in ihrem zwei und dreißigsten Jahre von der Universität Bologna zum ordentlichen Professor der Mathematik ernnant zu sehen. Ihre Stimmung hatte aber durch das tiefe Studium so ernster Wissenschaften alle Heiterkeit verloren, und ein trüber Ernst, der sie bewog, sich von der Welt zurückzuziehen, war der Grundton ihres Wesens geworden. Sie trat in den Orden der blauen Nonnen, der voll strenger Entsagung ist, und lebte fast funfzig Jahre in klösterlicher Stille, bis sie 1799 in ihrem ein und achtzigsten Jahre verschied.

A.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 1. Leipzig 1834, S. 110-111.
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