[423] Claudia. Zur Zeit des zweiten punischen Krieges wurde Rom von Hannibal hart bedrängt. Um das Volk zu ermuthigen, befragte der Senat das Orakel. Dieses antwortete: »Wollt ihr den Feind besiegen und aus Italien vertreiben, so holt die steinerne Bildsäule der Göttermutter, die zu Pessinunt in Phrygien steht, und bringt sie nach Rom.« Man sandte sofort eine Botschaft an den König von Pergamus und bat ihn um die Auslieferung des Heiligthums. Dieser willfahrte dem Ansuchen, doch erhielten die römischen Abgesandten zugleich von der Pythia zu Delphi die Weisung, das Götterbildniß bei seiner Ankunft in Rom nur den Händen des unbescholtensten Mannes anzuvertrauen. Die Wahl fiel auf einen jungen Mann, Namens Scipio Nasica. Als das Schiff aber mit dem Heiligthume in der Tiber ankam, blieb es plötzlich auf unbegreifliche Weise fest stehen, und konnte durch keine Anstrengung weiter bewegt werden. Unter der Zahl von Roms ausgezeichneten Männern und Frauen, welche im feierlichen Zuge nach Ostia hinausgegangen[423] waren, um das Götterbildniß einzuholen, befand sich auch die edle Römerin Quin ta Claudia. Sie war als putzsüchtig bekannt, und die Mißgunst hatte darum nicht unterlassen, ihren guten Ruf zu beflecken Im Bewußtsein ihrer Unschuld beschloß sie jetzt durch das Herbeiführen eines Götterausspruches sich von jedem Verdacht zu reinigen. Sie löste ihren Gürtel, band ihn an das Schiff und flehte mit erhobenen Händen und lauter Stimme zu den Göttern: Wenn mein Wandel rein, wenn mein Herz ohne Schuld und Fehle, dann gewährt, o hohe Götter, daß meiner Hand dieß Schiff gehorche und der Widerstand schwinde, der das Palladium Rom vorenthält! Kaum hatte sie dies Wort gesprochen, als das Schiff sich erhob und unter dem Jubelruf der begeisterten Menge leicht von Claudia's Gürtel gezogen, sich nach dem Landungsplatze hin bewegte. Claudia's Ehre war gerettet und Rom verehrte von nun an die Verleumdete als eine der edelsten Frauen, für deren Sittenreinheit selbst die Hohen des Olymps gezeugt.
R.