Kassandra

[88] Kassandra, die schönste Tochter des Priamos und der Hekabe, die berühmte Seherin des Alterthums, entschlief einst als Kind mit ihrem Bruder in dem Tempel Apollo's und am Morgen fand man beide von Schlangen umwunden, die ihnen in den Ohren leckten. Von da an waren denselben die geheimnißvollen Laute und Stimmen der Natur kund; sie verstanden das Seufzen des Windes, das Rauschen der Quellen und Bäume und den Gesang der Vögel. Kassandra erwuchs zu einer hehren Jungfrau, und wurde Apollopriesterin. Als solche entschlummerte sie einst abermals im Tempel, und Apollo, der sie liebte, trat zu ihr und versprach die Sehergabe in ihrer höchsten Vollkommenheit, wenn sie ihm Gewährung schenke. Kassandra aber betrog den Gott, und als sie das Geschenk empfangen, blieb sie ferner unerbittlich, und zürnend fügte nun Apoll zu der verliehenen Gabe die unheilvolle, daß nimmer Jemand ihren Weissagungen glauben, und daß sie stets nur Unheil verkünden solle. Unglücklich fortan nun selbst und zerrissen von Qualen stand die Unglücksprophetin einsam in einem freudenlosen Leben; Alle, ja ihr eigner Vater, hielten sie für wahnsinnig; sie wurde gefangen gehalten, und unaufhaltsam strömte fort und fort über ihre Lippen das Weh kommender Tage. Als Helena von Paris nach Ilium gebracht wurde, weissagte sie schon alle Schrecknisse des verderblichen trojanischen Krieges, Niemand achtete darauf. Als der Krieg zehn Jahre gedauert hatte, und das Pferd in die Stadt gezogen wurde, rieth sie, es zu verbrennen, aber man hörte ihren Rath nicht. Troja brannte; Kassandra flüchtete in Athene's Tempel und umfaßte schutzflehend das Bild der Göttin. Ein Krieger, Aias, bemächtigte sich ihrer mit grausamer Gewalt, und schleppte sie aus dem Heiligthum zu den übrigen Sklavinnen. Bei der Beutetheilung fiel Kassandra dem Agamemnon zu, der sie mit sich in seine Heimath führte.[88] Dort wurde sie von der treulosen Klytämnestra sammt ihm ermordet. Auch ihre und Agamemnon's Kinder tödtete Klytämnestra's Buhle, Aegisthos.

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Damen Conversations Lexikon, Band 6. [o.O.] 1836, S. 88-89.
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