[456] Novelle. Dieser Modeartikel unserer jetzigen schöngeistigen Literatur hat in seiner Wesenheit längst die Grenzen überschritten, die ihm bei seinem ersten Auftreten angewiesen waren. Etwas Neues, Ueberraschendes, aus der jüngsten Vergangenheit oder der nächsten Zukunft, eine Scenerie aus dem Alltagsleben, in das einfache Gewand der Erzählung gekleidet, dieß war die Aufgabe der ersten Novelle, und Boccaccio dürfte wohl vor Allen derjenige gewesen sein, der uns mit diesem leichten, fröhlichen Kinde, gleichsam einer Tochter des Romans, vertraut machte. Ihm folgte in[456] diesem Genre Cervantes in Spanien, Scarron in Frankreich, und als der gefeiertste Novellendichter muß Tieck für Deutschland genannt werden. Wenn es eine Hauptaufgabe des Romans ist, Charaktere durchzuführen, so kommt es dagegen der Novelle zu, diese weniger zu berücksichtigen und das Interesse der Leser auf die Situationen hinzulenken. Allein die kleinen, anmuthigen, scherzhaften Erzählungen sind durch unsere neuern Novellisten zu bändereichen Geschichten angewachsen, die man oft geneigt wäre für standesmäßige Romane zu halten, wäre der Stoff derselben gewissenhafter, die Charaktere gediegener, die Entwickelung der Begebenheiten consequenter durchgeführt. Unter den deutschen Novellendichtern erwähnen wir noch: Steffens, W. Alexis, L. Schefer, von Arnim etc.
B.