Stunde

[460] Stunde, die lustige Sylphide des nie rastenden Wechsels, die Diakonissin am Altare der Vergänglichkeit, eine der Unterpriesterinnen am Sonnen- und Schattentempel der Zeit, deren 24, die Licht- und Nachthalbschied des Tages bildend, in melodischen Reigen (s. Horen) die freundliche Gewohnheit des Lebens weben. Nichts gleicht der ewig wechselnden Gestalt der S'n; leicht und geflügelt entsteigen sie wie Eintagsfliegen der mütterlichen Erde, und schon nach 60 kurz verträumten Minuten öffnet sich ihnen das Grab. Bald erscheinen sie mit goldnem Munde voll Sprüchen der Weisheit und Lebenskraft; bald auch mit einem träumerischen Nachtschatten[460] über das bleiche Antlitz oder mit einem Kranze aus Mohn, oft auch mit goldenen Sternen. Zuweilen erzittert der Boden unter dem ehernen Fußtritte der Furien; in blutigem Würfelspiele raset die Welt; in gräßlicher Monotonie schnellt die Schicksalswage auf und nieder; und die Windsbraut sauset heran und heult mit tausend Prophetenstimmen wie eine Kassandra der Weltzerstörung: – da schlägt sie, die bange S. des Verhängnisses! Zuweilen auch weht ein lieblicher Westwind über das süßträumende Thal; balsamisch duften die Kräuter und Blumen, als wehe ein Hauch, ein Gruß der vorangegangenen Lieben beseligend über die Flur; durch Eythisus und Weimuthssichten ertönt es wie von Chören unsterblicher Geister; gleich einer purpurnen Perle im Auge der ewigen Liebe erglänzt der Abendstern am fernen Horizont; und das Abendroth schimmert wie ein goldenes Grab, aus dem das Licht zu neuem, ewigem Leben auferstehen wird; dann naht sie mit ihrem Sternendiademe, dem Palmzweige des Friedens und dem Lilienscepter der Ergebenheit, die gute, die glückliche S., in welcher dem armen Sterblichen Trost und Erhebung von Oben, Ruhe des Himmels wird! Aber, – welch ein banges Seufzen klingt jetzt an mein Ohr! Thränen fließen, Thränen der Liebe, ein schwarzer Nachen stößt vom Lande mit einem todten Menschenherzen in einer weißen Hülle; melancholisch erschallet Geläute vom Thurm: – das ist der Glockenschlag der ernsten S., wie einst jedem die seine schlägt! – Viele Nationen kennen die Eintheilung des Tages in 24 gleiche Theile nicht; bei andern sind die S'n des Tages kleiner oder größer als die S'n der Nacht.

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Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 9. [o.O.] 1837, S. 460-461.
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