[45] Anschauungsformen sind die Ausdrücke für Raum und Zeit, insofern diese zunächst nichts sind als zwei Arten der Formung, Ordnung, Vereinheitlichung unserer Anschauungen oder Wahrnehmungen (Empfindungsinhalte). Diese Formungen sind als solche a priori (s. d.) und subjectiv (s. d.); da aber keine Form ohne Inhalt bestehen kann und da ferner im Geistigen die formende Tätigkeit sich nach dem zu formenden Stoffe richten muß, so sind die Anschauungsformen objectiv bedingt, d.h. sie haben ein Fundament in der Erfahrung und damit in den Dingen selbst, ohne daß damit gesagt wäre, die Dinge seien an sich schon raum-zeitlich; sie können es – cum grano salis genommen –, müssen es aber nicht sein.
Zuerst gelten die Anschauungsformen (ohne aber noch als solche bestimmt zu werden) als empirisch und objectiv zugleich. Empirisch und subjectiv (aber objectiv: in den Dingen, in Gott) begründet sind sie nach LEIBNIZ, nach BERKELEY u. a. Als absolut apriorisch und subjectiv fassen sie KANT und seine Anhänger auf. Als relativ apriorisch und subjectiv-objectiv gelten sie bei verschiedenen neueren Philosophen. Der Begriff »Anschauungsform« wird bald mehr logisch (transcendental), bald rein psychologisch, bald physiologisch (psychophysisch) bestimmt.
Gegen die idealistische Auffassung LEIBNIZ wendet sich L. EULER (Reflex. sur l'espace et le temps 1748). TETENS (er nennt Raum und Zeit »Verhältnisideen«, Phil. Vers. I, 359) und LAMBERT machen auf den Unterschied von Form (s. d.) und Stoff der Erkenntnis aufmerksam. KANT erst prägt den Begriff der »Anschauungsformen« (= »reine Anschauungen«). Form der Erfahrung ist allgemein das, »welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet angeschauet wird« (Kr. d. r. V. S. 49). Die Form, d.h. »das, worin sich die Empfindungen ordnen«, »kann nicht selbst Empfindung sein, sondern muß zu ihnen insgesamt im Gemüte a priori bereit liegen, und dahero abgesondert von aller Empfindung können betrachtet werden« (ib.). Raum und Zeit sind Formen des äußeren bezw. des inneren Sinnes (s. d.). Sie sind a priori (s. d.) und subjectiv (s. d.). Sie sind nicht als fertige Vorstellungen angeboren (s. d.). Angeboren ist nur der »erste formale Grund« der Möglichkeit einer Raum- oder Zeitanschauung, nicht diese selbst. »Denn es bedarf immer Eindrücke, um das Erkenntnisvermögen zuerst zu der Vorstellung eines Objects... zu bestimmen« (Üb. d. Fortschr. d. Met. S. 106). Raum und Zeit sind »nichts als subjective Formen unserer sinnlichen Anschauung«, nicht Bestimmungen der Dinge an sich (l.c. S. 107). Zwar sind die letzten objectiven Gründe von Raum und Zeit Dinge an sich (s. d.), aber diese selbst sind nicht im Raume und in der Zeit zu suchen (l.c. S. 26 f.). Mit KANT stimmt LICHTENBERG überein. Nach REINHOLD sind die »Formen der Vorstellung« vor jeder Einzelvorstellung im Subjecte begründet (Vers. e. n. Theor. S. 291 f.). BECK bestimmt die Anschauungsformen als ursprüngliche Verknüpfungsarten des Mannigfaltigen in der Erfahrung (Erl. Ausz. S. 144). KRUG meint, die Anschauungsformen seien nicht »Fachwerke«, sondern Handlungsweisen des Geistes (Fundam. S. 151, 168). BARDILI nennt die[45] Anschauungsform einen »modus generalis« des Vorgestelltwerdens (Grundr. d. erst. Log. S. 72). Nach G. E. SCHULZE ist die Unterscheidung von Form und Inhalt nichts Ursprüngliches, sondern eine Folge der Reflexion (Aenesid. S. 216; vgl. auch WUNDT).
Nach J. G. FICHTE sind die Anschauungsformen durch die Handlungsweise des Ichs bestimmt, sie entstehen zugleich in und mit dem Anschauungsinhalte als dessen und damit der Objecte Formen (Gr. d. g. Wiss. S. 415). SCHELLING betrachtet die Anschauungsformen gleichfalls als Producte des reinen, überzeitlichen Ichs (Syst. d. tr. Id. S. 59 f.) und zugleich als Formen der Dinge, Letzteres gilt auch von HEGEL. (Encykl. S. 177) und SCHLEIERMACHER (Dialekt. S. 335). Dagegen betont SCHOPENHAUER die Subjectivität der Anschauungsformen. Diese sind »selbsteigene Formen des Intellectes«, bestehen nur im Kopfe des Erkennenden, bedeuten nur »die Art und Weise, wie der Proceß objectiver Apperception im Gehirn vollzogen wird« (W. a. W. u. V. Bd. II, C. 4). Nach FRIES äußert sich in der Form des Anschauens wie des Denkens unmittelbar die Selbsttätigkeit des Bewußtseins (Neue Krit. I2, 73 f.). ABICHT erblickt in den Anschauungsformen »active Sinneskräfte« (Syst. d. Elementarph. S. 42 ff.). J. H. FICHTE verlegt den Ursprung der Anschauungsformen in den vorbewußten Geist; sie sind apriorisch, aber doch objectiv bedingt (Psych. I, 326 f., 329; II, 236, 256). CARRIERE: »Raum und Zeit sind Grundformen unserer Anschauung, weil sie Grundformen der Dinge sind« (Ästh. I, 13). TRENDELENBURG betrachtet die Anschauungsformen als Erzeugnisse der dem Geiste immanenten Bewegung (s. d.), die zugleich für die Dinge Geltung haben (Log. Unt. I, 160, 166 ff.). Nach ÜBERWEG sind sie »das gemeinsame Resultat subjectiver und objectiver Factoren, deren Beitrag ermittelt werden kann und muß« (Log.4, S. 89). Nach FECHNER sind Raum und Zeit »wesentliche Formen der Intelligenz überhaupt« (Tagesans. S. 228). Nach LOTZE entspringen sie aus der Gesetzmäßigkeit unseres Vorstellens der Dinge (Log. S. 521); sie sind aber in den Dingen selbst begründet. A. LANGE erblickt in der seelisch-leiblichen Organisation die Bedingung und Quelle der Anschauungsformen (G. d. Mat. II, 36). Ähnlich HELMHOLTZ (Tat(s. d.) Wahrn. S. 16, 30), LAAS (Id. u. pos. Erk. S. 444). Nach JODL sind sie »Abstractionen von der uns gegebenen Wirklichkeit, durchaus auf sie bezogen und in ihrer formalen Beschaffenheit für jeden Inhalt unserer Erfahrung unbedingt gültig, ihrem Inhalte nach von unserer Organisation abhängig« (Lehrb. d. Psych. S. 543). Die Kantianer (RENOUVIER, COHEN, NATORP, LIEBMANN u. a.) betonen die Apriorität (s. d.), meist auch die Subjectivität der Anschauungsformen (so z.B. H. LORM, Grundlos. Optim. S. 163 ff.).
SPENCER: »Es gibt eine ontologische Ordnung, aus welcher die phänomenale Ordnung entspringt, die wir als Raum erkennen; es gibt eine ontologische Ordnung, aus welcher die phänomenale Ordnung entspringt, die wir als Zeit erkennen...« (Psych. I, § 95, S. 238). Die Anschauungsformen sind gattungsmäßig erworben, individuell a priori (s. d.). Nach OSTWALD sind sie »während zahlloser Generationen erworben und durch Vererbung festgelegte Formen..., in denen uns unsere Erfahrung erscheint« (Vorl. üb. Nat.2, S. 141). Nach MARTINEAU sind die Anschauungsformen apriorisch, aber sie können auch objectiv sein. E. VON HARTMANNs »transcendentaler Realismus« behauptet die Gültigkeit der Anschauungsformen auch für das Sein (Kr. Grundl. S. 145; Phil. d. Unb.3, S. 309). So auch DÜHRING (Wirklichkeitsph. S. 272 ff.). Nach[46] G. SPICKER sind die Anschauungsformen auch Begriffe (K., H. u. B. S. 56), sie sind nicht a priori, sondern »gedachte Empfindungen« (l.c. S. 180). Nach RIEHL sind die Anschauungsformen zugleich »empirische Grenzbegriffe, deren Inhalt in gleichem Grade für das Bewußtsein, wie für die Wirklichkeit selber gültig ist« (Phil. Krit. I, 2, S. 73). Ähnlich WUNDT (Phil. Stud. VII, 48, XIII, 350; Log. I2, S. 487 ff., 506 ff.; Syst. d. Phil.2, S. 140 ff.). Die Trennung von Form und Inhalt der Anschauung ist nicht ursprünglicher Art. Die Constanz der Anschauungsformen ist der Grund ihrer Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit (Syst. d. Phil.2, S. 106, lll ff.; Einf. in d. Phil. S. 345; Phil. Stud. VII, 14 ff., 18 ff., XII, 355). Diese Constanz beruht auf der beliebigen Wahl des Empfindungsinhaltes, die es gestattet, von dem besonderen Inhalte abzusehen. Zur Sonderung von Form und Stoff der Anschauung führt sowohl die »Constanz der allgemeinen Eigenschaften der formalen Bestandteile« als die unabhängige Variation der materialen und formalen Bestandteile der Wahrnehmung. Der Wahrnehmungsstoff kann sich verändern, ohne daß die räumlich-zeitliche Form sich mit ändert, dagegen wird jede Veränderung der Form von einer Veränderung des Stoffes begleitet (Syst. d. Phil.2, S. 105 ff.). Auf der Constanz der Anschauungsformen beruht auch deren Objectivität. Als allgemeinste Formen des Denkinhalts sind sie zugleich Formen der Dinge selbst, »subjective Reconstructionen eines objectiv Gegebenen« (Log. I, 307, 463). Das Apriorische (s. d.) der Anschauungsformen bedeutet teils die Unableitbarkeit des Specifischen derselben, teils die ihnen zugrunde liegende Gesetzmäßigkeit des denkenden Bewußtseins. Nach SIGWART sind die Anschauungsformen Producte der notwendigen Verknüpfungstätigkeit des Bewußtseins (Log. II2, 86). H. CORNELIUS versteht unter den »allgemeinen Formen unserer Anschauung« Ordnungen, »in welche alle vorgefundenen Inhalte sich fügen müssen« (Einl. in d. Phil. S. 245). Zu diesen Formbegriffen gehören diejenigen der Gesamtheit und der Teile, die Zahlbegriffe, die Zeitbegriffe (während die Raumform nicht allgemein ist), die Begriffe der Ähnlichkeit und Gleichheit, der Constanz und Veränderlichkeit l.c. S. 245 ff.).
HERBART führt die Anschauungsformen auf »Reihen« von Empfindungen zurück, deren Ordnungen schon in und mit ihnen gegeben sind (Met. II, 411). Nach BENEKE sind die Anschauungsformen schon in den Empfindungen enthalten und können nicht von ihnen ganz abstrahiert werden (Syst. d. Log II, 29). Vgl. Raum, Zeit, A priori, Nativismus.
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