[230] Dogmatismus heißt seit KANT das unkritische, ohne Prüfung der Erkenntnisbedingungen, Erkenntnisgrenzen verfahrende Philosophieren; im engeren Sinne die Auffassung der Erkenntnisobjecte als etwas fertig Gegebenes, von uns nur Nachzuconstruierendes; diese Bestimmung bei Kantianern.
KANT nennt die Metaphysiker »Dogmatiker« (Kr. d. r. Vern., Vorw. zur 1. Ausg. S. 4). »Der Dogmatism der Metaphysik, d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist« (l.c., Vorr. z. 2. Ausg., S. 26). Dogmatisches Verfahren und Dogmatismus sind zu unterscheiden, nur letzterer ist der Kritik entgegengesetzt. »Die Kritik ist nicht dem dogmatischen Verfahren der Vernunft in ihrer reinen Erkenntnis, als Wissenschaft, entgegengesetzt (denn diese muß jederzeit dogmatisch, d. i.. aus sicheren Principien a priori strenge beweisend sein), sondern dem Dogmatism, d. i. der Anmaßung, mit einer reinen Erkenntnis aus Begriffen (der philosophischen), nach Principien, so wie sie die Vernunft längst im Gebrauche hat, ohne Erkundigung der Art und des Rechts, wodurch sie dazu gelangt ist, allein fortzukommen. Dogmatism ist also das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens« (l.c. d. 29). »Unter dem Dogmatismus der Metaphysik versteht diese... das allgemeine Zutrauen zu ihren Principien, ohne vorhergehende Kritik des Vernunftvermögens selbst, bloß um ihres Gelingens willen« (Üb. e. Entdeck. S. 50). Dogmatisch wird man, wenn man die Principien möglicher Erfahrung auf das Transcendente anwendet (ib.). Die (alte) Metaphysik verfährt teils theoretisch-,[230] teils praktisch-dogmatisch (Üb. d. Fortschr. d. Met. S. 145). TENNEMANN: »Das unkritische Philosophieren sucht aus blindem Vertrauen zur Vernunft gewisse Behauptungen, Dogmen – thetisch oder antithetisch – aufzustellen« (Grundr.3, S. 32). J. G. FICHTE nennt jede Philosophie dogmatisch, welche die Einwirkung von Dingen an sich auf das Ich annimmt, voraussetzt (Gr. d. g. Wiss. S. 41). Die Philosophie ist dogmatisch, die dem Ich etwas gleich- und entgegensetzt; dieser Dogmatismus ist »transcendent, weil er noch über das Ich hinausgeht« (ib.). SCHELLING bemerkt ähnlich, Dogmatiker sei, »der alles ursprünglich als außer uns vorhanden (nicht als aus uns werdend und entspringend), voraussetzt...« (Naturphil. S. 42). HEGEL versteht unter Dogmatismus »die Meinung, daß das Wahre in einem Satze, der ein festes Resultat ist, oder auch der unmittelbar gewußt wird, bestehe« (Phänom. S. 31; Encykl. § 32). NATORP setzt Dogmatismus und »abstractive Erkenntnis« gleich (Plat. Ideenl. S. 366). Für den Dogmatismus ist der Gegenstand der Erkenntnis gegeben, »weil er ihn als Product aus endlichen, also erschöpfbaren Factoren ansieht«. Es kommt nur darauf an, das Gegebene auch zum vollen Bewußtsein zu bringen. Dagegen betrachtet der Kriticist »die Aufgabe, den Gegenstand aus seinen Componenten aufzubauen, als eine unendliche« (l.c. S. 368). H. CORNELIUS stellt den Dogmatismus dem reinen (kritischen) Empirismus gegenüber. Dogmatismus ist überall da, »wo in den Erklärungen irgend welche empirisch nicht völlig legitimierte Voraussetzungen eingeschlossen sind, mit anderen Worten, wo Begriffe zur Anwendung kommen, deren Bedeutung und Verwendung sich nicht in bekannter Weise und ausschließlich auf rein erfahrungsmäßige Daten gründet«. »Dogmatisch in diesem Sinne sind also insbesondere auch alle diejenigen Begriffe, deren wir uns in bloß gewohnheitsmäßiger oder conventioneller Weise bedienen, ohne die Frage nach ihrer empirischen Legitimation ausdrücklich zu stellen und zu beantworten« (Einl. in d. Philos. S. 36 f.). – Zuweilen wird Kants transcendentaler Idealismus (s. d.) z.B. betreffs der Anschauungsformen (s. d.) als »negativer Dogmatismus« bezeichnet, so von E. v. HARTMANN (Gesch. d. Metaph. II, 19 f.).