Heterogonie

[436] Heterogonie (heteros, gignomai): Erzeugung aus anderem. Heterogonie der Zwecke nennt WUNDT die Entstehung von Zwecken (Zweckmotiven) aus Neben- und Folgewirkungen von Handlungen, ohne daß von Anfang an der betreffende Zweck schon gewollt war. Die Summation von Zwecken und Zweckmäßigkeiten im geistigen, ja schon im organischen Leben wird so begreiflich. Das »Gesetz, der Heterogonie der Zwecke« bezeichnet die allgemeine Erfahrung, daß »in dem gesamten Umfang freier menschlicher Willenshandlungen die Betätigungen des Willens immer in der Weise erfolgen, daß die Effecte der Handlungen mehr oder weniger weit über die ursprünglichen Willensmotive hinausreichen, und daß hierdurch für künftige Handlungen neue Motive entstehen, die abermals neue Effecte hervorbringen« (Eth.2, S. 266). »Der Zusammenhang einer Zweckreihe besteht demnach nicht darin, daß der zuletzt erreichte Zweck schon in den ursprünglichen Motiven der Handlungen, die schließlich zu ihm geführt haben, als Vorstellung enthalten sein muß, ja nicht einmal darin, daß die zuerst vorhandenen Motive die zuletzt wirksamen selbständig hervorbringen, sondern er wird wesentlich dadurch vermittelt, daß der Effect jeder Wahlhandlung infolge nie fehlender Nebeneinflüsse mit der im Motiv gelegenen [436] Zweckvorstellung im allgemeinen sich nicht deckt. Gerade solche außerhalb des ursprünglichen Motivs gelegenen Bestandteile des Effects können aber zu neuen Motiven oder Motivelementen werden, aus denen neue Zwecke oder Veränderungen des ursprünglichen Zweckes entspringen« (ib.). »Das Gesetz der Heterogonie der Zwecke ist es, welches hauptsächlich über den wachsenden Reichtum sittlicher Lebensanschauungen Rechenschaft gibt, in deren Erzeugung sich die sittliche Entwicklung betätigt« (ib.). Das Gesetz der Heterogonie der Zwecke ist ein Entwicklungsprincip, das in Verbindung mit dem »Gesetz der Relationen« (s. d.) steht. Es stellt sich »das Verhältnis der Wirkungen zu den vorgestellten Zwecken so dar, daß in den ersteren stets noch Nebeneffecte gegeben sind, die in den vorausgehenden Zweckvorstellungen nicht mitgedacht waren, die aber gleichwohl in neue Motivreihen eingehen und auf diese Weise entweder die bisherigen Zwecke umändern oder neue zu ihnen hinzufügen« (Gr. d. Psychol.5, S. 400). Der schöpferische Charakter der psychischen Synthese (s. d.) bewirkt, »daß die Effecte bestimmter psychischer Ursachen stets über den Umkreis der in den Motiven vorausgenommenen Zwecke hinausreichen, und daß aus den gewonnenen Effecten neue Motive entstehen, die eine abermalige schöpferische Wirksamkeit entfalten können« (Log. II2 2, 281; Syst. d. Philos.2, S. 329).

Schon SCHELLING sagt von den menschlichen Taten, daß ihre »eigentliche Wichtigkeit, d.h. daß ihre wahren Wirkungen meist andere sind, als die beabsichtigt worden« (WW. I 10, S. 73). F. ENGELS bemerkt: »Die Zwecke der Handlungen sind gewollt, aber die Resultate, die wirklich aus den Handlungen folgen, sind nicht gewollt, oder, soweit sie dem gewählten Zweck zunächst doch zu entsprechen scheinen, haben sie doch schließlich ganz andere als die gewollten Folgen« (L. Feuerbach u. d. Ausg. d. class. Philos. 1888, S. 57 f.). Nach NIETZSCHE wird ein irgendwie Entstandenes »immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Absichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet« (WW. VII 2, S. 369). M. BURCKHARD betont: »Das ist der Gang der ganzen entwicklungsgeschichtlichen Bewegung, daß das eine Bedürfnis, indem es der Befriedigung dienende Anlagen schafft, zugleich wieder neue Bedürfnisse hervorruft, welche weit über die ursprünglichen Bedürfnisse hinausgehen, ja, welche schließlich in ganz anderen Richtungen sich bewegen, welche selbst wieder neue Anlagen entstehen lassen, die wieder zu neuen Bedürfnissen führen« (Ästhet. u. Socialwiss. S. 71). FLÜGEL spricht von »Selbständigwerden der Mittel« durch Gewohnheit (Ideal. u. Material. S. 182 ff.) HÖFFDING vom Gesetz der »Motivverschiebung« (Eth. S. 262; Psychol. VI B).

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 436-437.
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