[87] Pessimismus (von pessimus, der Schlechteste) heißt der Standpunkt, wonach das Sein, die Welt, das Leben schlecht ist, so daß ihr Nichtsein dem Dasein vorzuziehen wäre. Der (bloß) empirische Pessimismus hält nur das Leben im Diesseits, die raum-zeitliche, individuelle Existenz für etwas Schlechtes, Unseliges, der metaphysische (transcendente) Pessimismus betrachtet die Welt (als solche) auch an sich als schlecht, als nicht sein sollend. Der praktische Pessimismus besteht in einer Disposition des Gemütes, die alles von der schlechtesten Seite betrachten läßt. Der ethische Pessimismus hält den Menschen für radica1 schlecht und nicht wesentlich besserungsfähig. Der sociologische Pessimismus (L. GUMPLOWICZ u. a.) glaubt nicht an eine befriedigende, endgültige Lösung der »sozialen Frage«.
Pessimistisch ist die Philosophie des Brahmanismus und Buddhismus, welche die Erscheinungswelt und das Leben für etwas zu Überwindendes, dem Allsein ohne individuelle Existenz und Objectivation oder dem »Nirvana« (s. d.) völlig Unterzuordnendes ansieht. Die Nichtigkeit, Eitelkeit, Vergänglichkeit, Unbefriedigtheit des irdischen Daseins betont der »Prediger Salomonis« (Koheleth IX, 1, 2, 4, 19 ff.. IV, 2, 3). Nach SOPHOKLES (Antigone) ist es das Beste, nie geboren zu sein. Der Epikureer HEGESIAS verzweifelt an der Möglichkeit des Glückes: tên eudaimonian holôs adynaton einai (Diog. L. II 8, 94). Er empfiehlt den Selbstmord »(peisithanatos)«. Weltmüdigkeit und Weltflucht machen sich im (Ur-)Christentum geltend. Pessimistische Elemente finden sich auch in der Gnosis (s. d.), besonders bei MARCION und seinen Anhängern, welche die Weltschöpfung dem Demiurgen (s. d.), nicht der Urgottheit zuschreiben. ARNOBIUS nennt den Menschen »rem infelicem et miseram, qui esse se doleat« (Adv. gent. II, p. 77 ed. Canter.). Die Elendigkeit des Lebens bejammert die Abhandlung des (späteren) Papstes INNOCENZ III. »De tractatu mundi« (C. 1 ff.. vgl. PLÜMACHER, Der Pessimism. S. 66 ff.). Nach MAUPERTUIS überwiegt im Leben die Unlust. die Summe der Übel übertrifft die Summe des Wohles. Während das Maß der Lust engbegrenzt ist, ist das Maß der Unlust grenzenlos (Oeuvres 1756, I, p. 202 ff., 210 f.). D'ALEMBERT spricht vom »malheur de l'existence«. VOLTAIRE zieht aus der Betrachtung des Elends, der Schmerzen der Welt den Schluß: »Tout renaît pour le meurtre« (Philos. ignor. XXVI, p. 89). Daß das Leben kein Überwiegen der Glückseligkeit aufweist, meint KANT (WW. IV, 331 f.). – »Weltschmerz« kommt zum Ausdrucke in verschiedenen Dichtungen, besonders bei LENAU (Faustscenen), GRABBE (Faust und Don Juan), bei BYRON, LEOPARDI, HEINE.
Ein System des (empirischen und metaphysischen) Pessimismus begründet SCHOPENHAUER. Die Welt ist als Erzeugnis des blinden, grundlosen Willens (s. d) durch und durch etwas Schlechtes, etwas, was nicht sein sollte, eine[87] Schuld (W. a. W. u. V. I. Bd. § 56). Eine schlechtere Welt kann es überhaupt nicht geben. »Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie sein mußte, um mit genauer Not bestehen zu können. wäre sie aber noch ein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht bestehen« (ib.). Die Welt ist ein »Jammertal«, voller Leiden, alles Glück ist Illusion, alle Lust (s. d.) nur negativ, der rastlos strebende Wille wird durch nichts endgültig befriedigt (l. c. § 59). »Denn alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, solange es nicht befriedigt ist. keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehen wir überall vielfach gehemmt, überall kämpfend. solange also immer als Leiden: kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maß und Ziel des Leidens« (l. c. § 56). Die Basis alles Wollens ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz (l. c. § 57). Das Leben »schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her zwischen dem Schmerz und der Langeweile« (ib.). Das Leben ist »ein Meer voller Klippen und Strudel« (ib.). »Die unaufhörlichen Bemühungen, das Leid zu verbannen, leisten nichts weiter, als das es seine Gestalt verändert« (ib.). Befriedigung kann nie mehr sein als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Not (l. c. § 58). Alles Glück ist nur negativer Natur (ib.). Schon seiner Anlage nach ist das Menschenleben keiner wahren Glückseligkeit fähig (l. c. 59). Jede Lebensgeschichte ist eine Leidensgeschichte, eine fortgesetzte Reihe großer und kleiner Unfälle (ib.). »Wenn man nun endlich noch jedem die entsetzlichen Schmerzen und Qualen, denen sein Leben beständig offen steht, vor die Augen bringen wollte, so würde ihn Grausen ergreifen, und man den verstocktesten Optimisten durch die Krankenhospitäler, Lazarethe und chirurgischen Marterkammern, durch die Gefängnisse, Folterkammern und Sklavenställe, über Schlachtfelder und Gerichtsstätten führen, dann alle die finsteren Behausungen des Elends, wo es sich vor den Blicken kalter Neugier verkriecht, ihm öffnen und zum Schluß ihn in den Hungerturm des Ugolino blicken lassen wollte, so würde sicherlich auch er zuletzt einsehen, welcher Art dieser meilleur des mondes possibles ist« (l. c. § 59). Der Optimismus ist eine »wahrhaft ruchlose Denkungsart« (ib.). – In der Welt herrscht eine »ewige Gerechtigkeit«. »In jedem Dinge erscheint der Wille gerade so, wie er sich selbst an sich und außer der Zeit bestimmt. Die Welt ist nur der Spiegel dieses Wollens: und alle Endlichkeit, alle Leiden, alle Qualen, welche sie enthält, gehören zum Ausdruck dessen, was er will, sind so, weil er so will. Mit dem strengsten Rechte trägt sonach jedes Wesen das Dasein überhaupt, sodann das Dasein seiner Art und seiner eigentümlichen Individualität... Denn sein ist der Wille, und wie der Wille ist, so ist die Welt.« »Die Welt selbst ist das Weltgericht. Könnte man allen Jammer der Welt in eine Wagschale legen und alle Schuld der Welt in die andere, so würde gewiß die Zunge einstehen« (l. c. § 63). Erkenntnis der Einheit aller Wesen und Askese, Verneinung des Willens zum Leben allein kann uns erlösen, nicht der Selbstmord, der nur die individuelle Erscheinung des Allwillens vernichtet (l. c. § 68 ff. W. a. W. u. V. 2. Bd., C. 46, 48). »Aus der Nacht der Bewußtlosigkeit zum Leben erwacht, findet der Wille sich als Individuum, in einer end- und grenzenlosen Welt, unter zahllosen Individuen, alle strebend, leidend, irrend, und wie durch einen bangen Traum eilt er zurück zu alten Bewußtlosigkeit« (W. a. W. u. V. II. Bd., C. 46. Parerga II, C. 11 f.). J. BAHNSEN leitet den Pessimismus aus dem Widerspruchscharakter des Willens ab. Die Welt ist durch und durch elend (Der Widerspr. 1880/82. Pessimisten-Brevier[88] 1879), ist »von allen möglichen, d.h. überhaupt existenzfähigen, die schlechteste« (Zur Philos. d. Gesch. 1875). MAINLÄNDER faßt die Weltentwicklung als Sterben des sich in der Vielheit der Dinge zersplitternden Gottes Die Unlust überwiegt im Dasein (Philos. d. Erlös. 1876). Pessimistischen Charakter hat teilweise die Philosophie von DEUSSEN, R. KOEBER (Schopenhauers Erlösungslehre 1882), M. VENETIANER (Der Allgeist 1874), F. LABAN (Schopenhauer-Litteratur 1880, Vorrede).
E. v. HARTMANN verbindet mit dem »evolutionistischen Optimismus« (s. d.) den »eudämonologischen Pessimismus« (vgl. schon SCHELLING, WW. I 10, 242). Die Welt ist wohl unter den möglichen die beste, aber gut ist sie doch nicht, denn sie ist eine Realisation des »Alogischen« im Absoluten, Unbewußten (s. d.), des Willens (Philos. d. Unbew.3, S. 623 ff., 628. Zur Gesch. u. Begr. d. Pessim.2, S. 18 ff.). »Das Daß der Welt ist... als ein von Gott geschiedenes schlechter, als ihr Nichtsein wäre. aber das Was und Wie des Weltinhalts ist bestmöglich, wenn das Daß einmal als gegeben hingenommen wird« (Pessim.2, S. 26). Die Unlust überwiegt die (gleichwohl auch positive, nicht bloß negative) Lust in der Welt, ja immer größer wird das Übergewicht (l. c. S. 250 ff.. Philos. d. Unb.3, S. 697. II10, 303 f.). Das Leben ist voller Illusionen, voller Leiden. Gleichwohl darf man sich nicht quietistischer Trägheit hingeben, sondern die Erlösung des (durch seine Weltsetzung in Schuld verstrickten und) leidenden Absoluten, Göttlichen in und von der Welt kann nur durch »Hingabe ans Leben« zum Zwecke der Steigerung der Einsicht von der Notwendigkeit der Weltverneinung erfolgen, durch welche dereinst mit dem gleichzeitigen Aufhören alles Wollens (vom Menschen ausgehend. auch auf die Tierwelt u.s.w. übergehend) das Absolute von seiner Unseligkeit erlöst wird (Philos. d. Unb.3, S. 712 ff., 742 ff.). So auch A. TAUBERT (Der Pessim. 1873) und O. PLÜMACHER (Der Pessim. 1884). »Wissenschaftlichen Pessimismus« nennt H. LORM die Einsicht, »daß es unmöglich ist, mittelst der endlichen Beschaffenheit unserer Natur Aufschluß über den Ursprung und Zweck des Daseins zu erlangen« (Grundlos. Optim. S. 247). VOLKELT meint, die Welt des Endlichen weise darauf hin, »daß dem Absoluten ein feindselig entgegengesetztes Princip, ein Princip der Negation und Verkehrung innewohne« (Ästh. d. Trag. S. 430). »Einerseits ist die Welt in der Vernunft, im Seinsollenden, im Positiven gegründet. Aber sogleich hat das ewig Vernünftige, Seinsollende, Positive es ebenso. ewig mit seinem Gegenteil zu schaffen., es leidet am Irrationellen, Nichtseinsollenden, Negativen und es trägt das Gepräge dieses Leidens« (l. c. S. 432). Die Macht der Vernunft ist das Siegreiche im Absoluten (ib.), das übergeordnete Princip (S. 433). Das Absolute gleicht dem tragischen Helden, der es »in seinem eigenen Innern mit einer herabzerrenden Gegenmacht zu tun hat« (S. 434). Teils gegen, teils über den Pessimismus vgl. J. B. MEYER, Weltelend u. Weltschmerz 1872. E. PFLEIDERER, Der moderne Pessim. 1875. G. P. WEYGOLDT, Krit. d. philos. Pessimism. 1876. J. HUBER, Der Pessimism. 1876. J. SULLY Pessimism. 1877. CARO, Le Pessimisme au 19. siècle, 2. éd. 1881. H. SOMMER, Der Pessimism. 2. A. 1883. REHMKE, Der Pessimism. u. d. Sittenlehre 1882. P. CHRIST, Der Pessim. u. d. Sittenlehre 1882. B. ALEXANDER, Der Pessim. des 19. Jahrh. 1884. W. RIBBECK, Stud. üb. d. Pessim., Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. 9. Bd., S. 265 ff.. G. SIMMEL, Über die Grundfrage d. Pessim., Zeitschr. f. Philos. 90. Bd., S.237 ff.. M. WENTSCHER, Üb. d. Pessim 1897. E:. DÜHRING, Wert. d. Leb. S. 197 ff.. PAULSEN, Schopenh., Haml.,[89] Mephist. 1900 u. a. (vgl. ÜBERWEG-HEINZE, Gr. d. Gesch. d. Philos. IV9, 203). RIEHL. Zur Einführ. in d. Philos. S. 200, 218. Vgl. Optimismus, Übel.
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