Webersches Gesetz

[711] Webersches Gesetz ist das von E. H. WEBER (Wagners Handwört. d. Physiol. II, 559 ff.) zuerst exact constatierte, für verschiedene Sinnesgebiete innerhalb bestimmter Grenzen gültige Gesetz, daß die relative Unterschiedsschwelle (s. d.) des Reizes constant bleibt, daß beim Wachsen des Reizes (s. d.), der eine Empfindung auslöst, der Zuwachs einen bestimmten, constanten Bruchteil des Reizes bilden muß, damit ein ebenmerklicher Empfindungsunterschied stattfindet. So beträgt der constante Reizunterschied, Reizzuwachs beim Tastsinne und Gehörssinne 1/3 für Lichtempfindungen etwa 1/100.

Daß der Lustzuwachs einer constanten Vermögensdifferenz entspreche, lehren schon D. BERNOUILLI (De mensura sortis, 1738) und LAPLACE (»Fortune physique« – »Fortune morale«). Auf das Verhältnis von Tonempfindungen und Schwingungszahlen wendet ein gleichartiges Gesetz L. EULER an. Auch bei LAMBERT ist das Webersche Gesetz schon angedeutet (Neues Organ. 268, 245, 249 f.). HUME erklärt: »Die Hinzufügung oder Fortnahme eines Berges würde nicht genügen, um für unser Bewußtsein einen Unterschied an einem Planeten hervorzurufen, während eine Vermehrung oder Verminderung um ein paar Zoll wohl imstande wäre, die Identität kleiner Körper zu vernichten. Dies läßt sich nicht wohl anders erklären als aus dem Umstande, daß Gegenstände nicht nach Maßgabe ihrer absoluten Größe, sondern entsprechend dem Größenverhältnis, in dein sie zueinander stehen, auf den Geist einwirken und die Continuität seiner Tätigkeiten aufzuheben oder zu unterbrechen vermögen« (Treat. IV, sct. 6, S. 332).

Auf Gewichtsbestimmungen durch den Drucksinn stützt sich das Gesetz bei DELEZENNE (Recueil des travaux de la soc. de Lille, 1827. Fechners Repert d. Experimentalphys. 1832, I, 34) und besonders bei E. H. WEBER (S. oben). Eine erweiterte Anwendung erfährt das Gesetz durch FECHNER. Nach ihm entsprechen gleichen relativen Reizunterschieden constante Unterschiede der Empfindungsintensitäten: Während die Reizintensitäten im geometrischen Verhältnisse zunehmen, wachsen die Empfindungsintensitäten nur in arithmetischer[711] Progression, oder: die Ordnungszahl der Empfindungen wächst proportional dem Logarithmus der Reizintensität, wobei als Einheit der Schwellenwert des Reizes gilt (Fechnersches oder psychophysisches Gesetz). Die »Fundamentalformel« ist: dg = k*(db)/b (g = Empfindungsintensität, b = Reizintensität, k = Constante). Durch Integration entsteht die »Maßformel«: g = k (log b/b – log b) (b = »Schwellenwert« des Reizes, d.h. jene Größe, bei welcher die Empfindung entsteht und verschwindet. Elem. d. Psychophys. II, 13 ff). g = k*log(b/b). Die »Elementarformel« ist: gdt = k*log(v/b) dt (v = Geschwindigkeit, t = Zeit, b = Elementarschwellenwert. l. c. II, 205). Die »Unterschiedsschwelle« ist: g-g1 = k*(log(b/b) – log(b1/b)) (l. c. II, 89. vgl. I, 71 ff.). Das Weber-Fechnersche Gesetz gilt psychophysisch, d.h. für die Beziehungen zwischen psychischen und leiblichen Functionen (vgl. auch Zend-Av. II, 169 ff.. Philos. Stud. IV, 1887. vgl. LOTZE, Med. Psychol. S. 206 ff.). Dagegen bezieht die physiologische Deutung das Gesetz auf das Verhältnis der Nervenprocesse zu den äußeren Reizen (G. E. MÜLLER, Zur Grundleg. d. Psychophys., 1878. H. SPENCER, Psychol. I, § 47. JODL, Lehrb. d. Psychol. S. 210 ff., 232. EBBINGHAUS, Grdz. d. Psychol. I, 495 ff.. Pflügers Archiv XIL, 119: für sehr starke und sehr schwache Reize ist das Gesetz ungültig. E. MACH. JAMES, Princ. of Psychol. 1, 548. vgl. F. A. MÜLLER, Das Axiom d. Psychophys., 1882. A. MEINONG, Üb. d. Bedeut. d. Weberschen Ges., Zeitschr. f. Psychol. XI, 1896, S. 81 ff., 230 ff., 353 ff.). Die psychologische Auffassung erklärt das Gesetz aus rein psychischen (Vergleichungs-)Processen. Sie wird vertreten von E. H. WEBER, von DELBOEUF (Etud. psychophys. 1873. Exam. crit. de la loi psychophys. 1883), ZIEHEN, E. ZELLER, ÜBERHORST, G. VILLA (Einl. in d. Psychol. S. 185 f.), teilweise O. KÜLPE (Gr. d. Psychol. S. 173). besonders WUNDT. Nach ihm gilt das Gesetz nicht für die Beziehung zwischen Empfindung und Reiz, sondern zwischen den Empfindungen und der psychologischen Function der Vergleichung (Log. II2, 192 ff.). »Ein Unterschied je zweier Reize wird gleich groß geschätzt, wenn das Verhältnis der Reize das gleiche ist.« »Die Stärke des Reizes muß in einem geometrischen Verhältnisse ansteigen, wenn die Stärke der appercipierten Empfindung in einem arithmetischen zunehmen soll« (Grdz. d. physiol. Psychol. I4, 359 ff.). Das Gesetz ist ein »Apperceptionsgesetz«, »Specialfall eines allgemeineren Gesetzes der Beziehung oder der Relativität unserer inneren Zustände« (l. c. I4, 393). Es ist ein »Gesetz der Apperceptiven Vergleichung« und hat die Bedeutung, »daß psychische Größen nur nach ihrem relativen Werte verglichen werden können«. Dies setzt voraus, »daß die psychischen Größen selbst, die der Vergleichung unterworfen werden, innerhalb der Grenzen des Weberschen Gesetzes den sie bedingenden Reizen proportional wachsen« (Gr. d. Psychol. 5, S. 308 f.. vgl. Philos. Stud. I – II. Vorles.3, 2 ff.). Wir vergleichen zwei Empfindungsstrecken AB und BC nach ihrem absoluten Werte, wenn uns innerhalb der untersuchten Empfindungsdimension der Abstand von C und B gleich dem von B und A, also C – B = B – A erscheint: MERKELsches Gesetz (Gfr. d. Psychol.5, S. 310). Psychologisch faßt das Webersche Gesetz auch SIGWART auf, der es auf das vergleichende Urteil zurückführt (Log. II2, 102 f.). R. WAHLE erklärt: »Gleiche[712] Reizverhältnisse entsprechen der Tatsache des Eintretens einer neuen Empfindung« (Das Ganze d. Philos. S. 195). Daß der Empfindungsunterschied bei Gleichheit des relativen Reizunterschiedes der gleiche sei, wird verschiedentlich bezweifelt. Vgl. E. H. WEBER, Tastsinn u. Gemeingef.. FECHNER, In Sachen d. Psychophys. 1877. Revision d. Hauptpunkte d. Psychophys., 1882. BRENTANO Psychol. I. HELMHOLTZ, Phys. Opt.. HERING, Üb. Fechners psychophys. Ges., 1875. LANGER, Die Grundlagen d. Psychophys.. PREYER, Üb. d. Grenzen d. Tonwahrnehm., 1876. ELSAS, Die Psychophys., 1886. H. COHEN, Princ. d. Infinites. S. 156. SCHUBERT-SOLDERN, Gr. ein. Erk. S. 281. GROTENFELD, Das Webersche Gesetz, S. 24 ff.. G. F. LIPPS, Gr. d. Psychophys., 1899. FOUCAULT, La Psychophys., 1901: R. WAHLE, Das Ganze der Philos. S. 414 ff.. M. RADAKOVIC, Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. 19. Bd., B. 1 ff.. TISCHER, Philos. Stud. I. KÖHLER, Philos. Stud. III. MERKEL, Philos. Stud. IV, V, VII, VIII, IX. F. ANGELL, Philos. Stud. VII. KÄMPFE, Philos. Stud. VIII, u. a.. vgl. STERN, Psychol. d. Veränderungsauffass., 1898.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 711-713.
Lizenz:
Faksimiles:
711 | 712 | 713
Kategorien:

Buchempfehlung

Müllner, Adolph

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Ein lange zurückliegender Jagdunfall, zwei Brüder und eine verheiratete Frau irgendwo an der skandinavischen Nordseeküste. Aus diesen Zutaten entwirft Adolf Müllner einen Enthüllungsprozess, der ein Verbrechen aufklärt und am selben Tag sühnt. "Die Schuld", 1813 am Wiener Burgtheater uraufgeführt, war der große Durchbruch des Autors und verhalf schließlich dem ganzen Genre der Schicksalstragödie zu ungeheurer Popularität.

98 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon