Werden

[723] Werden ist ein Grundbegriff, der sich auf die stetige Veränderung (s. d.) der Dinge, auf den Wechsel der Zeitinhalte, auf das Geschehen (Entstehen und Vergehen) bezieht. Werden ist Wechsel des und im Seienden, Entwicklung (s. d.), im engeren Sinne Entstehen von Seiendem, im Gegensatze zum Vergehen. Werden ist Zusammenschluß einer Reihe von Momenten zu einem relativ Abgeschlossenen, Constanten, Seienden (s. d.). Da absolute Ruhe im Endlichen nirgends besteht, so ist das Werden ein allgemeines. da aber das Werdende sich mehr oder weniger im Werden erhält, so hat es ein relatives Sein, und damit ist auch das Werden nur relativ. Im Unendlichen ist das Werdende zugleich das (absolut) Seiende. das All selbst kann nicht »werden« im Sinne des Entstehens (s. Ewigkeit).

Während die Eleaten alles Werden für Schein erklären (s. Sein), macht HERAKLIT das Werden zum Princip der Welt. Das All ist stete Umwandlung, Veränderung, die Ruhe ist nur Schein. Im ewigen Wechsel nur beharrt, erhält sich das All. Alles fließt (panta rhei), nichts beharrt. man kann nicht zweimal in ebendenselben Fluß steigen: Legei pou Hêrakleitos hoti panta chôrei kai ouden menei, kai potamou rhoê apeikazôn ta onta legei, hôs dis es ton auton potamon ouk an embaiês(Plat., Cratyl. 402 A), weswegen man die Herakliteer auch tous rheontas nannte (Plat., Theaet. 181 A). Nach KRATYLOS kann man auch nicht einmal in denselben Fluß steigen (Aristot., Met. IV 5, 1010 a 12 squ.). Das beständige Werden der Dinge lehrt auch PROTAGORAS: ek de dê phoras te kai kinêseôs kai kraseôs pros allêla gignetai panta, ha dê phamen einai, ouk orthôs prosagoreuontes. esti men gar oudepot' ouden, aei de gignetai (Plat., Theaet. 152 D). Nur für die Welt der Sinnendinge gibt PLATO das ständige Werden zu (s. Idee). Die Sinnendinge sind stets werdend, nie seiend: ti to on [723] aei, genesin de ouk echon, kai ti to gignomenon men aei, on de oudepote. to men dê noêsei meta logou perilêpton, aei kata tauta on, to d' au doxê met' aisthêseôs alogou doxaston, gignomenon kai apollymenon, ontôs de oudepote on (Tim. 27 D. vgl. 52 A. Phileb. 59 A). Das Werden erfolgt aus Gegensätzen (ek tôn enantiôn ta enantia, Phaed. 70 E squ.). Daß das Werden nur mit dem Sein (s. d.), nicht absolut bestehen kann, betont ARISTOTELES, nach welchem die Principien (s. d.) der Dinge ungeworden, unvergänglich sind: Hêmeis de kai pros tauton ton logos eroumen, hoti to men metaballon hote metaballei echei tina autois alêthê logos mê oiesthai einai. kaitoi esti g' amphisbêtêsimon. to te gar apoballon echei ti eti tou apoballomenou, kai tou gignomenou êdê anankê ti einai. holôs te ei phtheiretai, hyparxei ti on. kai ei gignetai, ex hou gignetai kai hyph' hou gennatai, anankaion einai, kai touto mê ienai eis apeiron (Met. IV 5, 1010 a 15 squ.). Die Form (s. d.) ist das (causal-teleologische) Princip, welches den Stoff aus der Potentialität in die Actualität übergehen läßt (s. Möglichkeit, Potenz, Energie). – Das ständige Werden der Dinge lehrt MARC AUREL (hê te gar ousia hoion potamos en diênekei rhysei, In se ips. V, 14. vgl. XI, 29).

Nach KANT ist jedes Vergehen ein »negatives Entstehen, d. i. es wird, um etwas Positives, was da ist, aufzuheben, eben sowohl ein wahrer Realgrund erfordert, als um es hervorzubringen, wenn es nicht ist« (Negat. Größ. 3. Abschn., S. 44 f.). – CABANIS erklärt: »Tout est sans cesse en mouvement dans la nature. tous les corps sont dans une continuelle fluctuation« (Rapp. I, 237). Nach BOUTERWEK ist im Absoluten kein Werden (Lehrb. d. philos. Wissensch. I, 143). Nach SCHELLING ist das Werden nur unter der Bedingung einer Begrenzung (Schranke) zu denken. das Ich (s. d.) ist (wie nach J. G. FICHTE) unendliches Werden (Syst. d. tr. Ideal. S. 73). Als ewigen Proceß (s. d.) faßt die Welt HEGEL auf. Das Werden ist die Einheit von Sein (s. d.) und Nichts, die »Unruhe in sich« (Encykl. § 88 f.). Im Sein ist das Nichtsein enthalten und umgekehrt, und so ist das All insofern ein Werden (WW. XIII, 334. s. Dialektik). So erklärt auch K. ROSENKRANZ: »Das Werden ist weder nur Sein, noch nur Nichtsein, weil es sowohl Sein als Nichtsein ist und weil das Sein an sich entweder nur als reines Sein oder als reines Nichts sich bestimmt« (Syst. d. Wissensch. S. 15 f.). Nach HILLEBRAND hat im Werden das Sein »gleichsam den immanenten Uranfang seiner ewigen Wahrheit« (Philos. d. Geist. II, 56). Bei C. H. WEISSE bedeutet der Satz, daß alles Sein ein (zeitliches) Werden ist, »daß alles Unmittelbare auf ein Anderes, auf eine Erfüllung und Vollendung seiner selbst hinweist« (Grdz. d. Met. S. 124). Nach W. ROSENKRANTZ ist das Werden »ein Übergang des Nichtseienden zum Sein«. Alles Sein setzt voraus: eine Möglichkeit des Seins und eine Ursache, durch welche diese Möglichkeit in Wirklichkeit gesetzt wird (Wissensch. d. Wiss. I, 348 ff.). Nach M. CARRIERE gibt es kein Werden an sich, alles Werden ist Entwicklung und Veränderung eines Seienden (Sittl. Weltordn. S. 96). Das Sein ist ein beständig Werdendes (l. c. S. 129). Nach R. HAMERLING ist alles Werden nur »die Verwandlung eines Seienden in ein Anderes« (Atomist. d. Will. I, 123). HARMS erklärt: »Das, was das Werden bedingt, ist kein Werden, sondern ein Sein« (Psychol. S. 64 f.). Alles Werden und Geschehen ist Wirkung und niemals Ursache. Daß Werden ist »nicht an sich, sondern für uns unendlich, an sich aber endlich und bedingt«. »Es ist nur ein Erkenntnis-, aber kein Sachgrund« (l. c. S. 72). HAGEMANN bestimmt: »Werden ist Übergang (Bewegung) entweder vom Nichtdasein zum Dasein, oder umgekehrt vom Dasein zum[724] Nichtdasein, oder endlich vom Sosein zum Anderssein. Das Werden setzt immer ein Wirkliches voraus, wodurch es verursacht wird« (Met.2, S. 44 f.). Nach K. LASSWITZ heißt Werden »zur Wirklichkeit des Seins gelangen« (Wirkl. S. 156). WUNDT zählt den Begriff des Werdens zu den reinen Wirklichkeitsbegriffen (Philos. Stud. II. Syst. d. Philos.2, S. 228 ff.). Die Welt ist ewiges Werden und Geschehen, aber »nicht ein Werden, das ziellos nur das Vorhandene zerstört, damit Neues an seine Stelle trete, sondern stetiger Zusammenhang zweckvoller Gestaltungen« (Syst. d. Philos.2, S. 666 ff.). HUXLEY bemerkt: »Und je mehr wir in die Natur der Dinge eindringen, desto augenscheinlicher wird es, daß, was wir Ruhe nennen, nichts ist als unbemerktes Geschehen. daß der scheinbare Friede nur stiller, aber erbitterter Kampf ist« (Essays, S. 261). Ähnlich lehrt NIETZSCHE. Es gibt nur ein ewiges Werden, das in jedem Einzelwesen steckt. Das Individuum ist ein Glied in der Kette des Werdens, ist diese selbst (WW. XV, 321). Alles Werden ist »ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen«, ein Kampf (l. c. XV, 280). Die Welt besteht im Werden, erhält sich in ihm (l. c. XV, 384), das Sein (s. d.) ist Schein, Phantasieproduct infolge der Schwäche unserer Sinne (WW. XII, 1, 6 ff.). So ist auch nach ILAR. SOCOLIU der Begriff des Seins der Wirklichkeit unadäquat und muß von dem des »Werdens schlechthin« abgelöst werden (Grundprobl. d. Philos. S. XV). Nach M. PALÁGYI zeigt uns die Auffassung des Raumes (s. d.) als eines dynamischen »die Welt der Erscheinungen in einem ewigen Flusse begriffen«. »Wir müssen sagen, daß alle Erscheinung fließt, weil der Raum selbst ein fließender oder dynamischer ist« (Log. auf d. Scheidewege, S. 129). – Vgl. SCHOLKMANN, Christent. S. 22. – Vgl. Sein, Evolution, Actualitätstheorie.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 723-725.
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