Bis zum akademischen Lehrer

1871 bis 1875

[173] Die Frage des künftigen Berufs hatte nach Aufgebung des ersten Ziels, des Pfarramts, einstweilen geruht; ich hatte Philosophie als Hauptstudium gewählt, daneben aber philologische und historische Studien getrieben, aus Interesse an der Sache, aber auch mit der Aussicht auf die Möglichkeit der Oberlehrerprüfung. Als ich das Doktorexamen glücklich bestanden hatte, wurde die Frage: ob auch gleich die zweite Prüfung machen? dringlich. Trendelenburg riet mir dazu, es gäbe mir eine auf jeden Fall erwünschte Sicherheit. Ich entschied mich doch dagegen. Vor allem: ich hatte jetzt die gewisse Empfindung, daß mein eigentlicher Beruf der akademische sei; ich fühlte wieder Mut und Kraft zur wissenschaftlichen Arbeit in unbegrenztem Maße in mir; der Drang zu produktiver Tätigkeit war durch die ersten Versuche, die Dissertation, die Vorträge für den philosophischen Verein in mir außerordentlich lebendig geworden. Ich sagte mir, daß die Oberlehrerprüfung mindestens ein Jahr für Erweiterung und Befestigung von Kenntnissen in Anspruch nehmen würde, die für den Dozenten der Philosophie nicht unentbehrlich seien. Dazu drängte die lange hinausgeschobene Militärpflicht. So entschloß ich mich definitiv auf das Oberlehrerexamen zu verzichten und die Habilitation für Philosophie als nächstes Ziel ins Auge zu fassen. Ich gewann auch die Zustimmung der Eltern hierfür, indem ich ihnen darlegte, daß ich auf diesem Wege der Sache nach, wenn auch nicht der Form nach, der von ihnen für mich ins Auge gefaßten[173] Bestimmung vielleicht am meisten entsprechen würde: das akademische Lehramt der freie Dienst der Wahrheit.

Der Sommer 71 wurde in Verfolgung dieses Ziels einer Ausdehnung meiner Erkenntnis nach einer bisher zu kurz gekommenen Seite gewidmet: ich fühlte das Bedürfnis, in den Naturwissenschaften mich ein wenig umzusehen. Ich belegte daher bei Helmholtz, der vor kurzem nach Berlin berufen war, die Vorlesung über Experimentalphysik: sie hat mir wenig Nutzen gebracht, obwohl ich es an Eifer und Fleiß auch außerhalb der Vorlesung nicht fehlen ließ. Der Vortrag ließ viel zu wünschen übrig, und was ich suchte: grundlegende Begriffe und zusammenfassende Anschauungen, das wurde nun gar nicht geboten. Mehr leistete in dieser Absicht ein Kolleg über die Grundfragen der Chemie bei Dr. Wichelhaus; er wußte seinen wenigen Hörern die theoretischen Prinzipien der modernen Chemie sehr faßlich darzulegen, mit Demonstrationen durch mehrfarbige Holzkugeln, die durch Stifte aufs mannigfachste zusammengesetzt werden konnten, die Anschauung von der Verbindung und Trennung der Atome und ihre Anordnung in den Molekülen unterstützend. Auch eine Vorlesung von Munk über die Nervenphysiologie brachte mit ihren Versuchen an lebenden Fröschen, die ersten und einzigen Versuche dieser Art, die ich gesehen habe, lebendige Anschauungen. Gern hätte ich geographische Vorlesungen gehört; allein was in dieser Absicht damals an der Universität geboten wurde, war mehr als mangelhaft; bei einem alten Herrn, Professor Müller, versuchte ich Geographie von Deutschland zu hören; sie war völlig ungenießbar, ohne Unterstützung von Demonstrationsmitteln, eine bloße buchmäßige Herzählung. Nicht besser war, was Kiepert bot; der gelehrte historische Geograph und treffliche Kartograph war als akademischer Lehrer geradezu unerträglich: abgehackte, durch Hüsteln, Stottern, Verbesserungen beständig unterbrochene Mitteilungen brachten den Hörer zur Verzweiflung. Wäre mir geboten worden, was jetzt in Vorlesungen, geographischen Seminaren, in dem Institut für Meereskunde usw. geboten wird, ich hätte mit Leidenschaft diesen Studien mich hingegeben. Überhaupt blieb die Ausstattung der Universität gegen das, was sie gegenwärtig bietet, damals noch weit zurück. So fehlte die neuere Kunstgeschichte, die später H. Grimm so wirksam lehrte, noch ganz und gar; ebenso die neuere deutsche Literaturgeschichte, die erst mit Scherer ihren Einzug hielt; ich hatte nur Gelegenheit, ein Publikum des seltsamen Philosophen Althaus über Goethes Faust zu hören; der leidenschaftliche[174] Vortrag des stets im Frack das Katheder besteigenden Professors, dessen Gestalt durch dieses Kleidungsstück und durch eine große, spitze Nase mit der eines Marabu eine frappierende Ähnlichkeit erhielt, ist mir in der Erinnerung geblieben, vor allem die scharf zugespitzte Betonung des »Prinzips des Bösen«, das in Mephistopheles inkarniert sei. Auch die übrigen modernen Sprachen und Literaturen erlangten erst allmählich in den 70er Jahren selbständige Lehrstühle; damals waren sie, als außerhalb des Gebiets der eigentlichen Wissenschaft liegend (nur die klassische Literatur war nach der alten Anschauung der wissenschaftlichen Behandlung fähig und würdig) auf die Vertretung durch Lektoren angewiesen. Nur Werder pflegte ein Publikum über Shakespeares Hamlet zu lesen, auch er wirkte mit hitzigem Vortrag und allen Mitteln theatralischer Deklamation mehr auf die Nerven und die Einbildung als auf den Verstand.

Da ich im Begriff bin, von meinen akademischen Lernjahren zu scheiden, obwohl ich auch noch in Folge manche Vorlesung gehört habe, so mag hier noch über diesen und jenen Lehrer der Berliner Universität, den ich länger oder kürzer gehört habe, eine Bemerkung eingefügt sein.

Philosophie lehrte außer den beiden Ordinarien Trendelenburg und Harms eine Gruppe von Hegelianern, die in der Zeit der Geltung des Hegeltums zu unbesoldeten Extraordinarien befördert, dann aber als solche sitzengeblieben waren und nun als eine Art Fossilien von der Jugend, die anderen Spuren folgte, betrachtet und gelegentlich gehört wurden. Außer den schon genannten Althaus und Werder war noch Michelet da; ich hab ihn über Naturphilosophie eine im echten Hegelschen Begriffsschematismus sich bewegende Vorlesung halten hören. Durch eine große Heftigkeit des Vortrags suchte er seinen Zuhörern die Überzeugung von der Wahrheit und Wichtigkeit seiner Philosophie oder der Philosophie beizubringen, dabei auch den Gebrauch des Komischen und Lächerlichen nicht scheuend. Ich fürchte, der Erfolg ist hinter der Heftigkeit der Bemühungen weit zurückgeblieben. Althaus habe ich außer im ersten Berliner Semester über Faust nicht gehört; auch Werder nur gelegentlich. Dann war noch Professor Gruppe da, halb Philosoph, halb Poet, der über Geschichte der griechischen Philosophie las: die Vorlesung von Versen der älteren Philosophen pflegte er nie ohne die Erläuterung zu lassen: die Übersetzung ist von mir.

Für Anthropologie habilitierte sich in jenen Jahren A. Bastian. Ich hörte seine erste Vorlesung: sie begann mit einer in rasendem Tempo[175] abgelesenen Übersicht über die Menschenrassen, denen die Namen aller Mischlinge bis ins dritte und vierte Glied folgten: Häcksel ohne allen Nährwert. Mit der zweiten Stunde erreichte die Vorlesung ihr Ende. Von Berühmtheiten, die ich gesehen und gehört habe, erwähne ich noch den alten Fr. v. Raumer, Ranke und Mommsen. Ranke sprach so leise, daß nur besonders darauf abgerichtete oder gehörbegabte Schüler, die sich dicht um das Katheder sammelten, ihn verstanden. Ich hab kein Wort verstehen können; und nicht viel besser ging es mir mit Mommsen, bei dem ich in einem der ersten Semester ein Kolleg zu hören versuchte. Müllenhoff regalierte uns in der ersten Vorlesung, die ich bei ihm hörte, mit Nibelungenhandschriften und hahnebüchen plump-grober Beschimpfung derer, die hierin nicht der orthodoxen Lehre folgten. Ich hatte für immer genug. Bei Haupt hospitierte ich öfter im Seminar über Lukrez: auch hier fehlte es nicht an der nötigen sittlichen Entrüstung über diejenigen, die falschen Göttern folgten, doch entschädigten seine Beobachtungen über Sprache und Sprachgebrauch. Lepsius behandelte in einem Publikum Ägypten und die ägyptische Welt, ich hab es nicht ganz ohne Nutzen gehört, Curtius verdanke ich die Einführung in die griechische Kunst: ich schloß mich gern den Führungen im Museum an, in denen er seinen Hörern die Denkmäler erklärte. Die feine Art des liebenswürdigen Mannes, die so merklich abstach von dem stacheligen oder plumpen Wesen, das sonst zur Berufsausstattung der Berliner Philologen zu gehören schien, zog mich ebensosehr an als die eindringliche Erläuterung der Kunstwerke, für die er uns die Augen öffnete. Auch die Geschichte der Stadt Athen hab ich bei ihm gehört, in deren Topographie eingeführt zu werden mir in jeder Hinsicht erwünscht kam. Ich hab später in dem Hause von Curtius viel verkehrt; seine edle, lautere und im schönsten Sinn urbane Persönlichkeit ließ es jedem in seiner Nähe wohl werden; und die geistige Welt, worin er mit den Seinen lebte, umfing alsbald auch den weiten Kreis derer, die in dem gastlichen Hause einkehrten.

Unter den damals lehrenden Juristen habe ich Gneist, Beseler und Boretius gehört. Gneist pflegte ein Publikum über englische Verfassung und Verwaltung zu lesen, ich werde es im Winter 69/70 gehört haben; es war mir dadurch wichtig, daß es zuerst in das Verhältnis von Staat und Gesellschaft mir einen Einblick verschaffte: die Verschiedenheit der englischen gegen die preußischen Zustände ließ beide in ihrer Eigentümlichkeit[176] hervortreten. Beselers Vorlesung über amerikanische Verfassung hat mir wenig geboten, dagegen erinnere ich mich mit Vergnügen einer Vorlesung von Boretius über die preußische Verfassung, die ich im Sommer 71 hörte: er ging die einzelnen Artikel durch, sie erläuternd und ihre historische Herkunft aufzeigend. In diesem Kolleg passierte mir einmal eine kleine Geschichte, die mir in der Erinnerung geblieben ist. Wir saßen vielleicht 10 oder 15 Zuhörer im kleinen Saal, unter diesen pflegte einer, ein kleiner, schwarzer Jude, es sich bequem zu machen, indem er sich an die Wand lehnte und die Beine auf der Bank ausstreckte. Ich fand das unschicklich, und da er auf Blicke nicht reagierte, ging ich nach der Vorlesung zu ihm und sagte ihm, daß das keine Art sei. Er verbeugte sich höflich und sagte: Ich danke Ihnen. Und von da an hielt er sich musterhaft.

Unter den Theologen hab ich Dorner, Hengstenberg und Vatke in ihren Auditorien aufgesucht, ohne daß mir irgendwelche bestimmteren Eindrücke davon geblieben wären. Auch in eine Klinik bin ich gelegentlich mit einem medizinischen Bekannten gegangen, wie schon in Erlangen in die Anatomie. Zu Langenbeck wurde ein kleines Kind mit sechs Fingern an beiden Händen gebracht. Er besprach den Fall, dann nahm er die Schere und schnitt das überflüssige Glied ohne Umstände weg. Das kleine Ding sah zunächst wie erstaunt darein, dann erst schien der Schmerz durchzudringen und es fing an zu schreien.

Und nun, da ich von meinen Universitätsjahren und meinen Universitätslehrern Abschied nehme, will ich hier gleich eines schmerzlichen Ereignisses gedenken, das kurz nachher fällt: am Anfang des Jahres 1872 starb Professor Trendelenburg. Er hatte noch im Hause bei sich Übungen begonnen, sie aber wieder einstellen müssen; seine Kraft war seit dem Schlaganfall im Jahre 1870 gebrochen; nach kurzem Leiden starb er in einer Heilanstalt in Pankow. Ich hatte ihn noch wiederholt in dem Winter gesehen und wußte von der Krankheit nur von einem Hörensagen; um so schmerzlicher kam mir die Botschaft. Trendelenburg muß ich unter meinen akademischen Lehrern als denjenigen nennen, dem ich am meisten verdanke; vor allem, er hat mich zur Arbeit geführt. Von seinem philosophischen System hab ich mir vielleicht nicht allzuviel angeeignet, die Vorlesungen von Steinthal und Bonitz sind mir mehr gewesen als seine Psychologie und Geschichte der Philosophie. Aber er war ein vorbildlicher Lehrer und eine in sich vollendete Persönlichkeit voll echter Humanität; die freundliche Geduld und Nachsicht,[177] womit er den Anfänger ertrug, die ruhige Stetigkeit andererseits, womit er zum Achtgeben und zur Genauigkeit erzog, sie sind für mich eine große Wohltat gewesen. Mit einem »Erlauben Sie, das ist wohl noch nicht ganz in Ordnung,« rief er den über die Schwierigkeit Hinwegeilenden zurück; mit einem freundlich anerkennenden Blick oder einem »Richtig« tüchtige Arbeit belohnend, spornte er zugleich zu neuer Anstrengung. Manche gelegentliche Bemerkung ist mir in der Erinnerung geblieben. So sagte er einmal, auf die Art, wie Aristoteles sich selbst zitiert oder vielmehr nicht zitiert, aufmerksam machend: »Damals kannte man noch nicht das plumpe vide me da oder dort, wie es jetzt üblich ist.« Das vide me hat mich noch oft am Ohr gezupft. Und dann, daß er uns sein Haus öffnete! Ich verdanke dem Verkehr in diesem Hause die erste Anschauung feinerer Geselligkeit, die erste Politur in gesellschaftlichen Formen. Die treffliche Gattin und die liebenswürdig schlichten Töchter ließen es den alles Schliffs Ermangelnden nicht fühlen, wieviel ihm dazu fehlte, ein eigentlich erwünschtes und verwendbares Glied eines geselligen Kreises zu sein. Erst sehr allmählich lernte ich unter ihren duldsamen Händen die Verlegenheit und Steifheit ein wenig überwinden. Ich weiß nicht, ob die Töchter des schüchternen Studenten sich noch erinnerten, als im Jahre 1901 bei der Feier zu Trendelenburgs 100. Geburtstag in seiner Vaterstadt Eutin mir die Aufgabe zufiel, den Toast auf die Familie auszubringen. Ich habe es mit herzlicher Freude und Dankbarkeit getan. Und wenn in den langen Jahren, da seither bei uns Studenten als Gäste verkehren, ihnen in unserem Hause wohl geworden ist, so mögen auch sie mit Dank an das liebenswürdige Haus in der Charlottenstraße denken, in dem Frau Ferdinande die Hausfrau und Trendelenburg den Wirt machte.

Am 1. Oktober 71 beginnt die Episode des einjährigen Militärdienstes. Ich hatte mich schon früh im Sommer bei dem Garde-Feldartillerieregiment gemeldet; die sehr bequeme Lage der Kaserne, am Kupfergraben, dicht bei der Universität und den andern wissenschaftlichen Instituten, gab den Ausschlag; der Einjährige durfte damals noch darauf rechnen, nicht den ganzen Tag im Dienst zu sein. Die sehr schnell erledigte, wie mir schien, sehr oberflächliche ärztliche Untersuchung ergab für mich die Tauglichkeit, während etwa die Hälfte der Gemeldeten auf irgendein Gravamen hin zurückgestellt oder befreit wurden. Die Ausbildung der etwa 40 Einjährigen geschah mit 3 Stunden Übungen[178] Vor- und 2 Stunden Nachmittag. Weder der Dienst noch die ungewohnte Disziplin machte mir Schwierigkeit; wir hatten mit den Unteroffizieren von vornherein ein gutes Verhältnis; es waren tüchtige Leute, die den Dienst verstanden und ernst nahmen, im übrigen aber niemand ohne Not plagten. Nur das Warten, der grundlose Zeitverlust mit überflüssigem Herumstehen wurde mir peinlich und ist mir das ganze Jahr hindurch das eigentliche Kreuz geblieben. Aber vielleicht ist es notwendig, daß der Soldat auch dies lernt: ohne Murren unbeschäftigt zur Disposition zu sein. Um Mitte November wurden wir dem Oberst vorgestellt und an die Batterien verteilt. Ich kam mit zwei anderen zur 2. schweren Batterie unter Hauptmann Weinberger. Von den beiden Leutnants Schmidt und Cretius kannte ich den letzteren, Sohn des Malers, schon von der Ausbildung her. Es waren drei treffliche, ebenso gebildete wie tüchtige Offiziere, alle drei haben es in der Folge zum General gebracht. Auch die Unteroffiziere waren brave und anständige Leute; der Feldwebel gehörte nicht zu den Dorophagen, wenn er auch eine bescheidene Dedikation bei sich bietender Gelegenheit nicht ablehnte. Der Dienst nahm nicht sehr in Anspruch; der Hauptmann befreite die Einjährigen alsbald von dem nicht notwendigen Dienst, Appell usw., so daß wir den Nachmittag so gut wie frei waren, wenn nicht etwa die Reitstunde, die er uns von Anfang an mit den Fahrern geben ließ, auf den Nachmittag fiel. Ich hab so den Winter hindurch viel Raum für meine Angelegenheiten gehabt. So konnte ich fast regelmäßig zwei vierstündige Nachmittagsvorlesungen von 4 bis 6 Uhr besuchen: bei Professor A. Wagner, der eben als junger Mann an die Universität berufen war, Nationalökonomie, bei Professor Boretius deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte. Die erste Vorlesung hat mich besonders lebhaft interessiert; die Freude an dem jugendlich lebendigen Vortrag und an dem reichen, gut disponierten Inhalt hat mich kaum eine Stunde versäumen lassen. In der zweiten Vorlesung bin ich allerdings, namentlich wenn etwa eine Wache vorhergegangen war, wohl öfters eingeschlafen; Professor Boretius war schon damals nicht mehr gesund, man merkte seiner Haltung und seinen Bewegungen an, daß er oft an schweren Kopfschmerzen litt. Außer diesen Vorlesungen besuchte ich, sooft es möglich war, das dicht an der Kaserne gelegene Museum; besonders habe ich die Bildergalerie einigermaßen systematisch studiert: ich brachte oft den Katalog und die Geschichte der Malerei von Waagen, die ich mir angeschafft hatte, früh mit in die[179] Kaserne, um gleich nach dem Ende des Dienstes mit ihnen ins Museum zu gehen. Die freien Stunden und Tage zu Hause hab ich lange Zeit Shakespeare gewidmet, den ich damals erst kennen lernte; ich hab den größten Teil der Stücke in jenem Jahr gelesen und mir ein Schema der Handlung gemacht; auch Ulrici und Gervinus wurden benutzt; zu der unbedingten Verehrung des Dichters, wie sie hier gefordert wurde, habe ich mich allerdings niemals aufschwingen können. Auch meine erste Bekanntschaft mit Schopenhauer fällt in dieses Jahr.

Am 1. April wurde ich Gefreiter, unter den Einjährigen der Batterie der einzige; seitdem wurde ich viel in Unteroffiziersdiensten verwendet und dadurch etwas stärker in Anspruch genommen, so daß für die Studien die Zeit knapper bemessen war. Das Bespanntexerzieren auf dem Tempelhofer Feld, die Abteilungs- und Regimentsübungen, dann vor allem die Schießübungen auf dem Schießplatz bei Tegel, zu denen ich regelmäßig beritten ausrückte, machten mir viel Vergnügen. Das Scharfschießen mit Granaten nach einem Ziel, dessen Entfernung nicht feststeht oder wechselt, hat etwas außerordentlich Erregendes: man sieht das Einschlagen, das luftige kleine Wölkchen zeigt, ob vor oder hinter dem Ziel; steht man hinter der Batterie, wie ich als schließender Unteroffizier nicht selten tat, dann kann man die ganze Flugbahn des Geschosses, wenn man es gleich auffaßt, verfolgen. Das Manöver im September führte über Spandau in die Gegend zwischen Nauen und Großbehnitz. Die mannigfachen neuen Verhältnisse und Aufgaben ließen die Zeit nicht lang werden. Die erste Nacht im Biwak bei Ruhleben vor Spandau vergesse ich nicht; es war bitter kalt, gelegentlich fiel ein Regenschauer, das Feuer war bald erloschen, die Windschirme von Stroh völlig unwirksam; lange vor Hellwerden stand ich auf und suchte durch Bewegung mich ein wenig zu erwärmen. Die Begierde, womit das kommende Licht, die aufgehende Sonne, endlich das Herankommen eines Marketenders begrüßt, die innige Befriedigung, womit das unter dem Namen Kaffee in irdenen Töpfen verkaufte schwärzliche Getränk genossen wurde, versteht nur, wer ähnliche Nächte draußen lag. Am folgenden Tag war erst ein langes Gefecht des Gardekorps hinter Spandau gegen einen von Westen herkommenden Feind, dann Paradeaufmarsch vor den drei Kaisern, endlich ein stundenlanger Marsch querfeldein bis zum Gut Schwanebeck, wo das warme Essen, Mohrrüben mit Hammelfleisch, das in großen Milchfässern aufgetragen wurde,[180] herrlich schmeckte, und der Schafstall, mit Stroh ausgelegt, stellte eine im Vergleich zur gestrigen wunderbare Nachtruhe in Aussicht. In den folgenden Tagen waren wir meist bei Bauern einquartiert; durchweg freundlich aufgenommen, wurden wir meist gut bewirtet, abends regelmäßig mit Pellkartoffeln und Heringen; Schlafsaal: der Heuboden. Ich erstand mir wiederholt von den Bauerfrauen ein Stück durchwachsenen Specks, das, in dem Protzkasten aufgehoben, mit Kommißbrot ein wundervolles Frühstück gab. Es ist erstaunlich, wie rasch man die Bedürfnisse des zivilisierten Menschen, Serviette, Messer und Gabel, selbst die Reinlichkeit nicht ausgenommen, abstreift: der Naturmensch steckt dicht unter der Haut; sowie die animalischen Bedürfnisse ernstlich ins Spiel kommen, sind jene eingebildeten gleich vergessen.

Den Abschluß des Einjährigenjahres bildete das Offiziersexamen; es wurden allerlei schriftliche Aufgaben, Berichte, Krokis, Marsch- und Gefechtsdispositionen gemacht, außer der Beantwortung einiger technischer Fragen, Geschütze und Pulver usw. betreffend. Dann folgte die Führung einer Batterie im Gelände, mit Evolutionen, und schließlich ein Gefecht. Es gab doch eine große Genugtuung, den Trompeter zur Seite, die Bewegungen der Masse von Pferden und Mannschaften zu beherrschen. Ich wurde mit der Qualifikation zum Offizier bei der Gardefeldartillerie entlassen.

Wenn ich auf das Jahr zurückblicke, so würde ich es doch nicht gern aus meinem Leben ausstreichen, so lang es mir zuweilen vorgekommen ist. Der Dienst läßt in einen Organismus von einziger Art und Bedeutung einen Einblick tun. Die Macht des organisierten Gemeinschaftswillens tritt an keinem Punkt so lebendig und faßlich dem einzelnen entgegen: was als einzelner keiner für möglich hält, das erscheint ihm, sowie er jenem Organismus eingegliedert ist, als schlechthin selbstverständlich. Ich sprach einmal mit Trendelenburg, nachdem ich wenige Wochen im Dienst war, über die Armee und die Sozialdemokratie; er sah trübe in die Zukunft, die Bande der Autorität überall gelockert; ich erwiderte: »Die preußische Armee wird niemals versagen«. Es ist auch jetzt meine Überzeugung. Es ist erstaunlich, wie mit dem Rock die Gesinnung sich wandelt. Der Bruder eines unserer späteren Mädchen, ein Märker, natürlich Sozialdemokrat, verschwor sich noch kurz vor dem Eintritt in die Armee, wie er sich halten und den Unteroffizieren und dem Militarismus die Zähne weisen wolle. Er war kaum einige Monate dabei, da erzählte er mit Stolz von seinem Hauptmann: der könne[181] kommandieren; und er habe vor, nach einem Jahr zu kapitulieren, so gut gefalle ihm der Dienst. Vor der starken Wirklichkeit waren seine Einbildungen und Träume wie Nebel zerstoben. Nur durch unerhörte Mißregierung oder schimpflichste Niederlagen nach außen könnte in Preußen dieses Kapital zuverlässiger Macht des Staatswillens vernichtet werden.


Ich lege hier einen Bericht über meine persönliche Umgebung und meinen Verkehr in diesem und den folgenden Jahren ein. Das Einjährigenjahr brachte mir einen sehr lieben neuen Freund: Johannes Heller. Wir wohnten bei denselben Hausleuten und lernten uns dadurch zunächst kennen. Er diente schon ein halbes Jahr als Einjähriger beim zweiten Garderegiment. Er war eben erst vom Gymnasium, dem Lübecker Katharineum, gekommen; sein Vater war Pastor in Travemünde. Ein offenes Gesicht, ein heiteres Temperament, ein freies, aufrichtiges, »unabsichtliches« Wesen gewannen ihm sogleich, wohin er kam, die Herzen. Ich hab ihn rasch sehr liebgewonnen, und er, etwa 5 Jahre jünger als ich, schloß sich mir mit herzlichem Vertrauen an. Als sein Dienstjahr zu Ende ging, bestimmte ich ihn, nach Göttingen zu ziehen; eigentlich ein wenig gegen seinen Willen: er hatte vorgehabt, eine süddeutsche Universität zu beziehen und bei einer Verbindung aktiv zu werden. Meine Stimmung gegen das Verbindungsleben war damals noch derart, daß ich mit Rücksicht auf seine Person und seine Verhältnisse entschieden abriet; er müsse, da er Geschichte studieren wollte, nach Göttingen, zu Waitz, und in dessen Seminar baldmöglichst eintreten: da werde er auch die ihm gemäße Umgebung finden. Er hat meinen Rat befolgt und ist mir dankbar dafür gewesen; er gehörte bald zu den Lieblingsschülern von Waitz. Nachdem er promoviert hatte, schickte ihn Waitz zuerst auf ein halb Jahr zu Sickel nach Wien, dann nach Frankreich und Italien, um für die Monumenta Germaniae Arbeiten auszuführen. Hierauf kam er, nachdem Waitz die Leitung der Monumenta Germaniae übernommen hatte, nach Berlin, und hat die wenigen übrigen Jahre, die ihm noch beschieden waren, hier verlebt. Er gehörte zu meinen allernächsten Freunden; sein früher Tod im Jahre 1880 ist mir über die Maßen nahegegangen; der Verlust eines Bruders hätte mich nicht mehr schmerzen können.

Sehr nahen und freundschaftlichen Verkehr hatte ich auch, wie schon oben gesagt, mit Benno Erdmann. Er führte mich auch in das Haus[182] seiner Mutter ein, ich bin oft und gern zu ihr gekommen. Sie war die Witwe des jung verstorbenen Predigers der freireligiösen Gemeinde in Berlin, eine treffliche Frau, heiteren Gemüts, voll gesunden, praktischen Sinnes, die sich in den engen Verhältnissen, in denen sie mit ihren beiden Söhnen zurückgeblieben war, tapfer durchsetzte und vollkommen frei erhielt. Ihr älterer Sohn Benno, 1851 geboren, hatte viel von ihrem liebenswürdig heiteren Wesen; er war erst der Buchhandlung bestimmt gewesen, war aber dann auf das Graue Kloster zurückgekehrt und hatte dort unter Bonitz die Abiturientenprüfung gemacht, um zu studieren. Erdmann widmete sich von Anfang an der Philosophie; von der Schule her brachte er eine gute mathematische und naturwissenschaftliche Bildung mit und trieb diese Studien auch auf der Universität weiter. So ergänzten wir uns, da meine Studien viel mehr auf dem philologisch-historischen und staatswissenschaftlichen Gebiet lagen. Seine allgemeinen Gedanken bewegten sich zur Zeit des Beginns unserer Bekanntschaft noch in den Anschauungen jener naturalistisch-radikalen Denkweise, wie ich sie etwa in den Erlanger Jahren gehegt, nun aber seit geraumer Zeit hinter mir gelassen hatte. Unter dem Einfluß des erheblich älteren Genossen wandelte sich allmählich auch die Denkweise des jüngeren; das Studium Kants und Lotzes half die ältere Schicht materialistischer Gedanken bald überwinden. Wir haben in den folgenden Jahren viele gute Stunden miteinander gehabt; sehr häufig wurden Tagesausflüge in die Umgegend von Berlin gemacht, die zugleich philosophische, oft auch historisch-politische Wanderungen waren.

Durch Erdmann und den philosophischen Verein lernte ich in diesem Jahr ein paar in Berlin studierende Ungarn kennen: Bernhard Alexander und Josef Weiß, später Banoczi, beide jetzt Lehrer der Philosophie an der Universität Budapest. Sie waren mit einem Stipendium ihrer Regierung nach Berlin geschickt, es kann, wenn ein Schluß aus ihrer Einrichtung und Equipierung gezogen werden darf, nicht groß gewesen sein; sie lebten mit äußerster Einschränkung. Beide waren Juden, und das gab ihnen zu dem übrigen exotischen Wesen für mich noch einen besonderen Reiz: es waren die ersten Juden, mit denen ich überhaupt in näheren Verkehr getreten bin. In Altona war nur ein einziger Jude auf dem Gymnasium gewesen, er hatte sich, im übrigen ein durchaus freundlicher und beliebter Mitschüler, von jedem Verkehr außer der Schule völlig ferngehalten: er ist nachher als Rabbiner streng[183] orthodoxer Observanz gestorben. Hier dagegen begegnete ich Juden, die die Berührung mit der Welt suchten, denen die Eintauchung ihres Wesens in die westeuropäische Kultur der eigentliche Zweck ihres Hierseins war. Wir haben uns ziemlich oft gesehen und viel über philosophische Materien disputiert, auch noch brieflich, als sie im Herbst 72 nach Göttingen zu Lotze gingen; ich hab die Nachschrift, welche Weiß in der Vorlesung über Metaphysik gemach hatte, mir schicken lassen und abgeschrieben. Im Sommer 73 waren sie in Paris, und ich wäre gern auch dahin gegangen, wenn ich es gewagt hätte, meinen Eltern den Vorschlag zu machen. Aber sie hätten die Ersprießlichkeit eines Aufenthalts im Ausland nicht eingesehen und darin vielleicht nur die Neigung erblickt, den nächsten Aufgaben mich zu entziehen.

Ich führe das Bild des Bekanntenkreises, in dem ich die nächsten Jahre in Berlin lebte, gleich hier weiter. Unter den älteren Bekannten stand mir Christian Belger am nächsten. Unser Verhältnis wurde, nachdem es einmal eine starke Spannung überstanden hatte, mit den Jahren immer mehr zu vertrauter Freundschaft. Unser Haus ist ihm später lange Jahre wie eine zweite Heimat gewesen. Wir waren uns, wie gesagt, in Trendelenburgs Übungen und in seinem Hause zuerst begegnet. Seine Studien bewegten sich im Gebiet des klassischen Altertums mit großer Freiheit; Philologie und Archäologie standen im Mittelpunkt, aber auch mit der griechischen Philosophie war er sehr gründlich vertraut; seine Dissertation: de Aristotele etiam in arte poetica componenda Platonis discipulo ist ein erstes Zeugnis davon. Er hat später Trendelenburgs Ausgabe der Psychologie des Aristoteles im Auftrag der Familie neu bearbeitet und herausgegeben, war auch für die Edition der Kommentatoren des Aristoteles engagiert und hat lange daran gearbeitet, schließlich aber doch die Sache als eine unfruchtbare Plage von sich geworfen. Die Archäologie gewann mehr und mehr das Übergewicht, besonders seitdem er ein Jahr in Griechenland gelebt hatte (1875); die Ausgrabungen nahmen nun sein Hauptinteresse in Anspruch: als Herausgeber der philologischen Wochenschrift berichtete er regelmäßig über das, was auf diesem Gebiete geschah. Neben der klassischen Welt war es die deutsche, ihre Kunst und Literatur, in der er durchaus heimisch war; Goethe stand im Mittelpunkt, er legte ihn nie aus der Hand und war mit ihm in seltenem Maß vertraut, jederzeit war ihm ein Vers, ein Wort oder Spruch aus seinen Werken gegenwärtig,[184] um eine Stimmung auszudrücken oder ein Urteil einzukleiden. Aber auch in der mittelalterlichen Poesie war er wohl versiert; er folgte darin seinem Lehrer Haupt, dem er in seinem Buche: M. Haupt als akademischer Lehrer, ein schönes Denkmal gesetzt hat.

Was seine Herkunft anlangt, so stammte er aus Sachsen; sein Vater war Gerbermeister in Löbau; das Gymnasium hatte er in Bautzen absolviert. Er hatte eine in mancher Hinsicht gedrückte Jugend gehabt; der Vater war wiederholt geistesgestört, zeitweilig unter dem Einfluß der Krankheit sehr dem Trunk ergeben; die Mutter, der der Sohn mit zärtlicher Liebe anhing, litt schwer darunter. Sie war, wie ihre zahlreichen Briefe an den Sohn, die nach seinem Tode in meine Hand gekommen sind, zeigen, eine ungewöhnlich begabte und geistig regsame Frau, nicht unähnlich der Mutter Goethes, ich könnte auch sagen, meiner Mutter. Im Grunde heiter und der Welt und Weltfreude nicht abgeneigt, war sie durch Leben und Schicksal einer religiösen Auffassung zugeführt worden, die ihre Form durch die herrnhutische Frömmigkeit erhielt, mit der sie auch in vielfacher persönlicher Berührung stand. Sie hat, wie ihre Begabung und einiges von ihrem Temperament, so auch diese Hinneigung auf ihren Sohn vererbt; Goethes Freundin, Fräulein von Klettenberg, stand bei ihnen beiden in hoher Verehrung. Andererseits fehlte in dem Naturell des Sohnes auch nicht eine Beimischung von der unglücklichen Komplexion des Vaters; er neigte zeitweilig stark zur Schwermut und hat wohl einmal der Angst Ausdruck gegeben, daß das Schicksal des Vaters (der schließlich Hand an sich selbst legte) auch das ihm bestimmte sei. Auf diese Weise war etwas Unsicheres und Schwankendes in seinem Wesen, er konnte übermütig und lustig sein und bald darauf verzagt und niedergedrückt die Einsamkeit suchen. Damit hing zusammen ein Mangel an Entschlußfähigkeit, der zuweilen fast bis zur krankhaften Abulie ging: die geringste Entscheidung machte ihm oft die größte Schwierigkeit; er konnte, wenn er eingeladen wurde, zusagen, absagen, nochmals zusagen und im letzten Augenblick wieder absagen, um endlich doch noch zu kommen. Und dann war er vielleicht ganz heiter, zu jedem guten Gespräch aufgelegt. Ich habe wenig Menschen gekannt, die in glücklicher Stunde so harmloser, kindlicher Fröhlichkeit sich überlassen konnten wie unser Freund Belger. Alles in allem: ein liebenswürdiger Mensch, und wo er vertraute, von größter Offenheit und Hingebung.

So viel über den Kreis von Menschen, mit denen ich in diesem und den[185] folgenden Jahren lebte. Daran schloß sich in weiterem und näherem Abstand noch mancher andere, sei es durch ältere Beziehungen, durch sachliche Begegnung oder durch einen der Freunde herbeigeführt.


Ich kehre nun zum Bericht über meine Erlebnisse zurück. Am 1. Oktober 72 wurde ich entlassen und an den Strand des Zivillebens ausgesetzt. So ersehnt der Moment war, so setzte er nun doch in Verlegenheit, eine gewisse Leere machte sich fühlbar; wenn ein ganzes Jahr hindurch die Verfügung über das eigene Leben geruht hat und einem Tag für Tag durch Befehl die Leistung des folgenden Tages vorgezeichnet worden ist, so fällt die Aufnahme der Zügel in die eigene Hand zunächst etwas beschwerlich. Für mich war die Verlegenheit um so fühlbarer, als kein Beruf oder äußerer Zweck mir die Direktive gab; ich mußte sie aus mir selber herausfinden. Auch die Fähigkeit zu angestrengter geistiger Arbeit ist durch die längere Ablenkung des Interesses auf äußere und auch äußerlichste Dinge zeitweilig recht stark herabgesetzt, wie ich es in der Folge nach jeder Übung wieder empfunden habe; es bedarf erst einer Art Akklimatisation an die andere Atmosphäre. Ich hab in diesem Herbst recht peinlich mit diesen Nöten zu kämpfen gehabt.

Allmählich begann sich der Sinn auf eine neue Aufgabe einzustellen. Ich sagte mir: für eine selbständige Stellungnahme zu den philosophischen Problemen sei eine sichere erkenntnistheoretische Orientierung die notwendige Vorbedingung. Die Sache lag damals in der Luft: es waren die Jahre des Wiederauflebens der Kantischen Philosophie. Ich ließ also die Ethik und Politik, die mich bisher vorzugsweise beschäftigt hatten, bis auf weiteres liegen und machte mich an das Studium der Erkenntnistheorie. Ich kann nicht sagen, womit ich anfing, vermutlich habe ich Kant in dieser Zeit wieder gelesen, immer nicht mit voller Befriedigung, weder hinsichtlich der Sache noch auch nur meines Verständnisses. Auch Lockes Essai hab ich wohl damals zuerst gelesen. Da kam mir wieder ein glücklicher Zufall zu Hilfe: J. St. Mills Logik kam mir in die Hände. Und hier fand ich nun, was ich suchte: eine durchgeführte Theorie in dem Stil, der mir zunächst gemäß war; überall waren hier die Gedanken zu Ende gedacht, die ich zu denken angefangen hatte. Mit großer Befriedigung habe ich dies Buch durchstudiert und dann nach und nach auch die andern Schriften Mills gelesen.[186]

Allmählich tauchte der Gedanke einer Geschichte der Erkenntnistheorie vor mir auf. Mir schien, daß in den üblichen Darstellungen der Geschichte der Philosophie die Aufmerksamkeit so überwiegend den metaphysischen Problemen zugewendet sei, daß darüber die Erkenntnistheorie zu kurz komme, und ferner, daß eine zusammenhängende Darstellung dieser Disziplin auch für die Förderung der Einsicht von wesentlicher Bedeutung sein werde. Diese Aufgabe hat die nächsten Jahre hindurch, bis die Pädagogik seit 1877 dazwischenzutreten begann, meine Arbeit wesentlich beherrscht. Zeitweilig spielte dabei eine andere Aufgabe hinein, die sich mit dieser an vielen Punkten berührte, die von der Berliner Akademie gestellte Preisaufgabe: Einfluß der englischen Philosophie auf die deutsche. Umfangreiche Exzerpte, die der Lösung die ser Aufgabe zu dienen bestimmt waren, liegen unter meinen Papieren. Auszüge aus Descartes, Spinoza, Hobbes, Pufendorf, Thomasius, Leibniz, Locke, Berkeley müssen aus dem Winter 72/73 stammen.

Nicht ganz ruhten dabei rechts- und staatswissenschaftliche Studien. Im Winter 72/73 hörte ich bei Gneist eine Vorlesung über deutsches Staatsrecht. Vor allem die Einleitung ist mir wichtig gewesen, indem sie die Grundbegriffe: Staat, Gesellschaft, Königtum, konstitutionelle Monarchie etwas eingehender entwickelte. Der Staat als Verwalter des Rechts gegenüber der Gesellschaft als der Organisation der selbstsüchtigen Interessen, das war die Grundanschauung, die Gneist entwickelte; von hier aus wurde die Notwendigkeit des Königtums als eines von der Gesellschaft nicht abhängigen Trägers der Staatsgewalt, andererseits der Volksvertretung und Selbstverwaltung als der unerläßlichen Teilnahme der Gesellschaft am Leben des Staates dargetan. Es war die Zeit des Kulturkampfes. Gneist, der dem Abgeordnetenhause angehörte, wurde durch die Beratungen öfters abgehalten oder zu früherem Schluß genötigt: ich bin dann oft ebenfalls nach dem Dönhoffplatz gegangen und habe einen ziemlichen Teil der Verhandlungen mit angehört. Bismarck hab ich damals häufig gesehen und reden hören, ebenso die Führer des Zentrums, Windthorst, Mallinkrodt, die Reichensperger. Ich war zunächst überzeugter Anhänger der Bismarckschen Politik auch in diesem Punkt. Erst sehr allmählich sind mir Zweifel gekommen.

Um sichere historische Fundamente zu gewinnen, hab ich damals auch begonnen, die alten deutschen Volksrechte aus den Quellen zu studieren:[187] Auszüge aus der lex Salica, dem Recht der ripuarischen Franken, der Langobarden, der Friesen stammen aus dieser Zeit. Waitz' Verfassungsgeschichte wurde dazu gelesen; auch eine Vorlesung über den Sachsenspiegel von Berendt werde ich in dieser Zeit gehört haben. Das Studium der alten Volksrechte führte auch auf Studien zur Geschichte der nordfriesischen Heimat: Heimreichs Chronik, Schröders Topographie u.a. wurde mit großem Eifer studiert. In den folgenden Sommern hab ich die Nachmittage, wenn ich in den Ferien zu Hause war, vielfach zu kleineren und größeren Ausflügen verwendet, um die Geschichte des Landes und seiner Bevölkerung anschaulich kennen zu lernen.

Im Frühjahr 73 (28.4.–15.6.) machte ich die sogenannte Vizefeldwebelübung, diesmal bei der 1. schweren Batterie meines Regiments. Ich hatte hier Gelegenheit, den Unterschied eines schlechten von einem guten Kommando kennen zu lernen. Der Hauptmann, eben erst mit der Führung der Batterie beauftragt, hatte bisher mehr im Hofdienst als im Frontdienst gestanden; weder seine Kenntnis des Dienstes und des Reglements noch seine Stimme reichte zur Beherrschung der Batterie aus, und so ergaben sich oft seltsame Verwirrungen. Übrigens war er ein gebildeter und liebenswürdiger Mann, gegen mich sehr freundlich gesinnt: dennoch hätte ich etwas darum gegeben, wenn ich wieder bei meinem alten Hauptmann Weinberger gewesen wäre. Es gibt nichts Peinlicheres, als wenn beim Exerzieren, namentlich beim Bespanntexerzieren der Batterie, die Sache nicht klappt, wie andererseits ein rasches und sicheres Ausführen eines guten Kommandos alle elektrisiert. Nach drei Wochen wurde ich zum Vizefeldwebel befördert und trug nun mit Stolz das silberne Portepee. Im Frühjahr 74 stellte ich mich zur Wahl und wurde nach günstiger Entscheidung zum Sekondeleutnant ernannt. Es ist der Gipfel militärischer Würden, den ich erstiegen habe.

Als solcher habe ich, um das gleich zu erwähnen, im folgenden Jahr eine Übung gemacht, unter Hauptmann v. Ihlefeld, demselben, der meine erste Einjährigenausbildung geleitet hatte. Sie hat mir, obwohl ich mit dem Hauptmann vortrefflich stand, nicht viel Freude gemacht. Der Verkehr mit den Kameraden, auch außerhalb des Dienstes erwartet und halb gefordert, bot mir allzu wenig; auch die Art, wie über öffentliche Angelegenheiten, über sittliche Fragen, besonders auch aus der sexuellen Sphäre, oder über die Mannschaften[188] und ihre persönlichen Verhältnisse geschwatzt und geurteilt wurde, war mir oft recht peinlich: mein bei aller Überzeugung von der Notwendigkeit königlichen Regiments und militärischer Autorität demokratisches oder vielmehr volkstümlich fühlendes Herz empörte sich oft gegen die Geringschätzung, womit von dem Volk und den Massen in diesen Kreisen geredet wurde. Mit dem Dienst hatte ich keine Schwierigkeit, nur der Stalldienst war mir lästig, nicht um der Sache willen, sondern weil ich gar nichts davon verstand; der Hauptmann Weinberger hatte uns denselben während des Einjährigenjahres ganz erlassen, und das rächte sich nun an mir, indem ich kontrollieren sollte, was ich nie geübt hatte: Pferdeputzen, Anschirren, Füttern. Auch eine Lieferung Hafer hab ich einmal abgenommen, wo ich denn eher Sachverständiger war. Und noch etwas genierte gelegentlich: ich war kein guter Reiter; meine Figur, der schwere Oberkörper, disponierte mich nicht dafür. Auf dem dienstlichen Bocksattel war das nicht so merklich geworden, jetzt auf dem glatten englischen Sattel kam ich öfters etwas in Verlegenheit, vor allem mit dem Springen wollte es gar nicht gehen: weshalb denn auch mein Pferd, ein altes, verständiges Tier, sich in der Folge beharrlich weigerte, auch nur zu einem Versuch auszuholen.

Nach Vollendung der ersten Vizefeldwebel-Dienstleistung ging ich nach Langenhorn. Der Sommer 73, von Juni bis September, den ich im Elternhause zubrachte, ist mir in besonders glänzender Erinnerung. Es waren Tage sehr angespannter Arbeit und sehr fruchtbaren Wachstums: meine erste größere Arbeit, die Entwicklungsgeschichte der Kantischen Erkenntnistheorie, ist in diesen Monaten konzipiert worden. Ich stand frühmorgens mit dem Hause um fünf Uhr auf, arbeitete ununterbrochen bis zum Mittag um halb zwölf Uhr; der Nachmittag war dann mannigfacher Lektüre und auch großen Spaziergängen durch die Marsch und über die Heide, an die See gewidmet. Die Bücher, die ich mir zum Studium mitgenommen hatte, waren in der Hauptsache die Werke D. Humes und I. Kants. Ich las erst den ganzen Hume in einer zweibändigen englischen Ausgabe, dann den ganzen Kant in der zweiten Hartensteinschen Ausgabe, anfangend mit den »vorkritischen« Schriften der beiden ersten Bände. Und nun ging mir der Sinn für die Kantische Philosophie auf. Ich sah die sukzessive Annäherung des von Wolffischer Metaphysik herkommenden deutschen Denkers an den Standpunkt Humes: die Schriften der[189] 60er Jahre ließen schrittweise diese Bewegung erkennen Ich sah dann, wie mit plötzlichem Ruck, die Schwenkung in der Dissertation von 1770 kommt: es ist, als habe ein Blick in einen plötzlich vor ihm aufgetanen Abgrund, den Abgrund des Skeptizismus, ihn auf einmal herumgerissen: die apriorischen Elemente der Anschauung und des Denkens, Raum und Zeit und die Kategorien ermöglichen a priori Erkenntnis, jene des mundus sensibilis, diese des mundus intelligibilis. Und das ist nun die bleibende Frontstellung der Kantischen Philosophie: Rettung der Vernunfterkenntnis, der Philosophie als Erkenntnis a priori, gegen den alles verschlingenden Skeptizismus Humes. Nun las ich die Kritik, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen: natürlich, nicht die »Unerkennbarkeit der Dinge an sich« ist das Ziel der Beweisführung, wie es mir bisher vorgeschwebt hatte, wobei denn die ganze Argumentation immer etwas wunderlich Verqueres behielt, sondern die Möglichkeit »reiner« Erkenntnis und dann die Begründung einer »reinen« Moral und endlich die Begründung einer auf »Vernunft« sich gründenden Weltanschauung.

Ich war in sehr gehobener Stimmung. Ich hatte meine erste wissenschaftliche Entdeckung gemacht, denn das hatte vor mir niemand gesehen, oder nur quasi per nebulam, weil niemand bisher mit Ernst der geschichtlichen Entwicklung Kants nachgegangen war. Ich war überzeugt, jeder, der den Dingen in dieser Folge nachgehe, müsse ebendasselbe sehen, was mir in durchsichtiger Klarheit vor Augen lag. Eine glückliche Illusion, die nachher durch minder erfreuliche Erfahrungen gründlich zerstört worden ist. Dennoch bin ich auch heute noch des Glaubens, daß niemand Kant verstehen kann, der ihn nicht von diesem Gesichtspunkt aus sieht.

Ich hab gleich damals in raschem Entwurf das Schema des Entwicklungsganges und des Systems Kants in den Umrissen befestigt. Hätte ich es gleich ausgeführt, so hätte ich mir eine große Enttäuschung erspart, wovon in der Folge die Rede sein wird.

Auch im Elternhaus war damals Sonnenschein. Der Vater war noch sehr rüstig, er hatte die Freude an seiner Landwirtschaft nicht eingebüßt; und da er sah, daß der Sohn auf gutem Wege war, so war auch der alten Enttäuschung über seinen Abfall vom Beruf der Stachel genommen. Der Mutter war die Last der Hauswirtschaft zum größten Teil abgenommen: ihre jüngere Schwester, Tante Margarete, die unverheiratet geblieben war, war vor ein paar Jahren in unser Haus[190] übergesiedelt. Ich hatte darauf gedrungen: auf dem Sande, wo sie bis dahin bei dem Bruder im elterlichen Hause geblieben war, waren die Töchter herangewachsen; sie wurde daher hier mehr und mehr entbehrlich; dagegen bedurfte die Mutter, die seit vielen Jahren nicht mehr im Besitz ihrer Kräfte war, dringend der Entlastung. Tante Grete war willig, und so ist sie die letzten 20 Jahre hindurch die Stütze des Langenhorner Haushalts gewesen. Auch mir war damit eine Last von der Seele genommen: die Einsamkeit des Elternhauses, die mich als meine Schuld gedrückt hatte, war nun gewichen. Und bald kam noch ein weiteres, ein jugendliches Element hinzu: ich veranlaßte, daß mein Vetter Friedrich vom Sande bei meinem alten Lehrer Brodersen die letzten Schuljahre in die Schule gehe; er kam also zu meinen Eltern zunächst für den Winter ins Haus. Auch hieraus ist ein dauerndes Verhältnis geworden; mein Vetter wurde in Langenhorn allmählich wurzelfest, wo er jetzt noch lebt.

Ein paar kleine Ausflüge fallen ebenfalls in diesen Sommer. Der erste mit meinem alten Freunde Niß Nissen aus Fahretoft nach Sylt. Ich holte ihn Anfang September ab, wir fuhren über Wyck nach Nösse und suchten zunächst seinen Bruder auf, der als junger Lehrer in Archsum stand. Zu dritt wanderten wir dann nach List, wo wir spät abends ankamen. Wir gingen über Tinnum, wo der alte Tinghügel bestiegen wurde, nach Westerland, dann kreuz und quer mit herrlichem Freibad am Weststrand nach Norden. Die lange Dünenwanderung hatte zuletzt etwas Spukhaftes: immer meinten wir, wenn wir wieder einen Dünenhügel erstiegen, nun müßte List daliegen, und immer dehnten sich Sandberge vor uns, wie es schien, ins Endlose: war List verschwunden? Oder drehten wir uns im Kreise? Endlich, wir waren fast erschöpft, tat sich unerwartet die kleine Bucht vor uns auf, durch die Dämmerung schien ein Licht herüber, wir waren zur Stelle. Und ein Spukhaftes begegnete uns auch hier: wir hatten, als wir ankamen, ein größeres Segelboot einlaufen sehen. Wie wir aus dem Gastzimmer spät noch einmal hinausgehen, nach dem Himmel zu sehen, sitzt in einem Zimmer, das wir passierten, ein älterer Herr und eine verschleierte Dame. Wir fragten die Wirtsleute, wer die seltsamen Gäste seien? und erhielten zur Antwort: Wir kennen sie auch nicht, aber wir nennen ihn den Stiefelgrafen. Sie gehen hin und wieder hier ans Land, immer spät abends und sind am Morgen früh wieder fort. Man sagt: der Mann habe seinen Bruder erschlagen und habe nun keine[191] Ruhe. Stiefelgraf aber heißt er, weil er immer sehr weite Filzstiefel trägt; es soll ihm von einer Zigeunerin einmal gewahrsagt worden sein, daß er von einer Hühneraugenoperation den Tod haben werde. Als ich nach unruhigem Schlafe, er wurde durch raschelnde und knabbernde Mäuse gestört, früh hinaustrat, war das Segelboot mit dem rätselhaften Paar schon verschwunden.

Den andern Ausflug machte ich mit Reuter nach Kopenhagen. Wir fuhren mit dem Dampfer von Kiel bei Nacht über die Ostsee, im Mondschein an Langeland vorbei nach Korsör, dann vormittags mit der Bahn nach Kopenhagen. Es war mir eigen, alle die Städte, deren Namen ich vor Jahren in meiner ersten Schule in Langenhorn auswendig gelernt hatte: Korsör, Slagelse, Sorör, Roeskilde, nun mit Augen zu sehen, ein Mögliches so in ein Wirkliches umwandelnd. In Kopenhagen nahmen wir in einem echt dänischen Hotel Quartier, Dannevirke oder wie es hieß, um recht der Fremde innezuwerden. Mein Dänisch erwies sich im übrigen bald als überflüssig, jedermann in Kopenhagen konnte etwas Deutsch, und als es einmal wirklich not tat, auf einem Ausflug, wo es spät abends geworden war, wollte ich mich in einem Bauernhaus nach dem Weg erkundigen, reichte es nicht aus: wir konnten es nicht zu einer Verständigung bringen. Was wir alles gesehen haben, ich weiß es nicht, das alte Königsschloß mit seinen Sammlungen, der Gemäldegalerie und den nordischen Altertümern war darunter und natürlich Thorwaldsen. Dagegen erinnere ich mich einer Posse in Tivoli, in deren Couplets Kaiser Wilhelm, der Schah von Persien und Frederik VII. eine Rolle spielten: dieser, weil eben sein Reiterstandbild vor dem Schloß enthüllt werden sollte; skal afslöves klingt mir noch ins Ohr. Was uns damals unter der grauen Leinwand verhüllt blieb, hab ich 33 Jahre später »entschleiert« gesehen: die mit phantastischem Helm aufgeputzte Gestalt des letzten Königs af gamle Danmark vor der Ruine des ausgebrannten Schlosses Christiansborg. Deutlich in der Erinnerung steht mir auch noch der Abend in Taarbaek. Wir hatten uns am Spätnachmittag von Kopenhagen nordwärts nach Klampenborg auf den Weg gemacht, in der Meinung, die Straße führe immer dicht am Sund hin. Die Sache kam anders; es wurde dunkel und begann zu regnen; wir tappten in der Finsternis weit, waren bald des Weges unsicher, fanden ihn auch sehr viel länger, als wir erwartet hatten: wobei jene eben erwähnte vergebliche Befragung stattfand. Endlich[192] ein Licht, ein Gasthaus, wir waren in Taarbaek gelandet; und als wir uns an den Tisch setzen und der Wirt uns begrüßt, ist's ein Landsmann, aus der Gegend von Apenrade. Und wie wir oben zwei Treppen in unser Zimmer kommen, ist auch der Sund da, den wir so sehnsüchtig vermißt hatten; der Regen hatte aufgehört, das Wasser glänzte im Mondschein herauf und von weit drüben ein Licht: es war das Feuer auf der Insel Hven, Tycho Braheschen Andenkens. Am folgenden Tag geleitete uns der junge Wirt, mit dem wir uns angefreundet hatten, durch den herbstlich schönen Tiergarten bis Holte, von wo wir nach Frederiksborg fuhren: das herrliche, entzückend im Waldsee gelegene Schloß Christians IV. war der letzte große Eindruck von unserem schönen Nachbarlande.

Anfang Oktober kehrte ich nach Berlin zurück. Ich hatte hier eine neue Aufgabe übernommen: ein alter Schulfreund, der eine Stellung außerhalb angenommen hatte, fragte mich, ob ich geneigt sei, die Geschichtsstunden, die er bisher an einer privaten höheren Töchterschule gegeben hatte, zu übernehmen. Ich sagte zu, eine praktische Tätigkeit war mir längst ersehnt. Ein Jahr lang hab ich in den beiden oberen Klassen den geschichtlichen Unterricht mit je zwei Stunden wöchentlich erteilt. Die brandenburgisch-preußische Geschichte war der Stoff; mit heißem Bemühen sammelte ich für meine Schülerinnen, was mir für sie geeignet schien; Carlyles Geschichte Friedrich des Großen hat mir dabei sehr gute Dienste getan; ich las sie für mich mit leidenschaftlichem Interesse und entnahm daraus auch für meinen Unterricht nicht bloß charakteristische Züge und Anekdoten, sondern wohl auch Ton und Farbe der Darstellung. Ob die viele und redliche Mühe, die ich mir gegeben habe, den jungen Mädchen nicht bloß Geschichtsdaten beizubringen, sondern die Geschichte ihres Heimatlandes zu deuten und wert zu machen, von entsprechendem Erfolg gekrönt gewesen ist? Ich wage es nicht zu behaupten. Die Erfahrungen, die ich bei Wiederholungen öfter zu machen hatte, lassen es mindestens zweifelhaft erscheinen. So hatte ich einmal, wie ich glaubte, mit unwiderstehlicher Deutlichkeit der ersten Klasse das Wesen von Steuer, Zoll und Akzise dargelegt. Als ich auf meine Frage: »Also, Elise, was ist ein Zoll«? die rasch und sicher erfolgende Antwort erhielt: »Ein Zoll ist das kleinste Längenmaß,« fühlte ich mich in der Tat mit meiner Weisheit so ad absurdum geführt, daß ich vor Finanzfragen in der Folge in großem Bogen auswich. Auch bei der Schulprüfung schnitt[193] ich nicht glänzend ab: der alte Pastor hielt es, nachdem ich zunächst selbst aus der brandenburg-preußischen Geschichte hatte erzählen lassen, für angemessen, doch auch ein paar Fragen zu stellen; er fuhr auf das offene Meer der Weltgeschichte und erkundigte sich nach den vier Weltmonarchien. Meine höheren Töchter verstummten, und ich weiß nicht, ob ich selbst die Frage zu seiner Zufriedenheit beantwortet hätte.

Für mich sind übrigens diese Stunden nicht ohne Wert gewesen. Ich habe manche interessante Beobachtung über Kinder und Schulklassen, über Mädchen und Mädcheneigenheiten, über das, was sie interessiert, und was sie fassen können, zu machen Gelegenheit gehabt. Auch der ungeheure Abstand im Verhalten und Wesen der Individuen ist mir dabei oft zum Bewußtsein gekommen: von zarter und bereiter Empfänglichkeit durch Leichtsinn und Flatterhaftigkeit bis zu entschiedenem Stumpfsinn und ausgesprochener Gleichgültigkeit gegen das Dargebotene, welch eine Skala von verschieden gestimmten Gemütern, und da soll dasselbe Wort Boden fassen! Und ich hatte es hier mit kleinen Klassen von gegen 20 zu tun: wie soll ein Lehrer in Klassen von 50 und 100 durchdringen?

Der Unterricht nahm nach einem Jahr ein Ende, zugleich mit der Schule selbst; ich hoffe, daß das Zusammenbrechen der Anstalt, sie konnte sich ökonomisch nicht mehr halten, nicht mit meiner Tätigkeit in ursächlichem Zusammenhang steht.

Zugleich hatte ich meine wissenschaftlichen Arbeiten aufgenommen. Ich ging aber nicht an die Ausführung des geschichtlichen Unternehmens, das mich seit einem Jahr beschäftigte und mit so glücklicher Entdeckung im Sommer belohnt hatte; vielmehr drängte es mich, zunächst einige theoretische Probleme der Erkenntnistheorie zu lösen, die ich ebenfalls schon länger im Auge gehabt und zum Teil in Vorträgen im Philosophischen Verein behandelt hatte. Ich entwarf drei Abhandlungen: über den Begriff des Begriffs, den Begriff der Ursache und den Begriff der Substanz. Den Entwurf über den Begriff der Ursache führte ich zuerst in einer umfangreichen Abhandlung aus, worin ich, in den Spuren Humes und Mills gehend, mit scharfer Polemik gegen den Apriorismus und Rationalismus, namentlich den halben und lahmen Rationalismus mancher Zeitgenossen, die empiristlische Auffassung vertrat: das Kausalverhältnis kein logisches, auch keine apriorische Denkform, keine eigentliche Notwendigkeit enthaltend, sondern eine aus der Urform der Assoziation allmählich entwickelte, zu präsumtiver[194] Allgemeingültigkeit gesteigerte axiomatische Forderung des Verstandes an die Dinge.

Diese Abhandlung reichte ich im Februar 74 im Manuskript mit dem Gesuch um die der Fakultät ein. Hätte ich etwas mehr Menschenklugheit besessen, so hätte ich den Erfolg vorhersehen können: mein Gesuch wurde abgeschlagen. Ich will nicht sagen, daß die Entscheidung ungerecht war; ich würde jetzt in ähnlicher Lage vielleicht ähnlich urteilen. Der Ton der Abhandlung war petulant und wohl auch anmaßend, die Polemik absprechend, wie sie es bei jugendlichen Autoren zu sein pflegen, die sich noch im Vollgenuß der ersten Entdeckung der Wahrheit befinden. Aber auch der Inhalt ließ es wohl an Gründlichkeit der Untersuchung, an Umsicht und Besonnenheit der Behandlung vielfach fehlen. Daß die Fakultät oder ihre Referenten, es waren Harms und Zeller, der an die Stelle von Trendelenburg getreten war, diese Abhandlung nicht als ausreichend zum Nachweis der wissenschaftlichen Qualifikation als Privatdozent ansahen, habe ich längst aufgehört ihnen übelzunehmen. Und daß sie den Ton als ungehörig empfanden und bezeichneten, war ganz in der Ordnung. Mir ist die Lektion auch nicht übel bekommen; ich habe nicht wieder in dieser Form geschrieben, nicht bloß, weil ich die üble Wirkung sah, sondern weil ich das Unfeine empfand: den Leser, den man gleichsam bei sich zu Gast ladet, mit der schnöden Miene der Überlegenheit zu empfangen und zu behandeln, ist, so gewöhnlich es in Deutschland ist, im Grunde pöbelhaft. Ich nahm mir nun, wie ich es auch schon vorher hätte tun können, meine Engländer Hume und Mill zum Muster sowohl in der Höflichkeit gegen den Lehrer als in der Urbanität der Polemik; und das ist eigentlich das meiner Natur Gemäße: mir war die Grobheit und das fastidiöse Wesen der Philologen immer verhaßt gewesen. Aber unter allerlei Einflüssen, Schopenhauer, vielleicht auch Lassalle, war ich meiner Natur entfremdet worden. So kann ein Chok von außen auf die Selbstbefreiung eine höchst wohltätige Wirkung haben.

Zunächst war freilich die Sache verdrießlich, vor allem auch um der Eltern willen, die nun schon so lange auf den Beginn einer Wirksamkeit des Sohnes warteten. Ich schrieb ihnen sogleich, meldend, wie es gegangen sei, und hinzufügend, was ja auch den Tatsachen entsprach, daß meine Auffassung von der der Richter sehr weit sich entfernt habe, und daß dies wohl auf den Ausfall des Urteils nicht ohne Einfluß[195] geblieben sei. Sie möchten Geduld haben, ich werde es noch einmal und dann besser machen. Ich selbst war gleich entschlossen, mich nun an die Ausarbeitung des historischen Themas zu machen und die Bewerbung zu wiederholen. Am Abend des Tages, wo mir der Dekan, es war Helmholtz, den Mißerfolg er öffnet hatte, ging ich ins Schauspielhaus und sah, wenn auch nicht ohne einen Bodensatz von Verstimmung auf dem Grunde des Gemüts, mit Vergnügen Freytags Journalisten.

An den folgenden Tagen habe ich mit Harms und mit Zeller über die Angelegenheit gesprochen. Harms äußerte sich gekränkt, er war beleidigt und nicht ohne allen Grund: er betrachtete sich als meinen Lehrer, und nun war ich so weit abgefallen, abgefallen zu dem Skeptizismus Humes, den er stets bekämpft hatte. Es kam zu einer ziemlich heftigen Szene, so daß ich aufsprang und gehen wollte. Indessen fand er ein besänftigendes Wort, wie er denn im Grunde mir wohlgesinnt war, und so schied ich ohne Groll. Zeller behandelte die Angelegenheit ohne persönliche Animosität, obwohl ich auch gegen ihn polemisiert hatte. Auf meine entschieden gestellte Frage: ob er glaube, von einer Wiederholung der Bewerbung mir abraten zu müssen, antwortete er verneinend; seinerseits stehe der Einreichung einer neuen Arbeit nichts im Weg.

Ich ging nun alsbald an die Ausführung jener historischen Untersuchung, sie beschränkend auf Kant und hier wieder auf die Entwicklung bis zur Kritik: die Darstellung des gesamten Systems der kritischen Erkenntnistheorie versparte ich absichtlich auf die Gesamtdarstellung der Geschichte der Erkenntnistheorie: die Entwicklungsgeschichte Kants sollte sich als ein Exkurs zu dem Werk verhalten. In der Meinung, daß ich die Arbeit jederzeit einreichen könne, beschleunigte ich die Fertigstellung, um die Scharte baldigst auszuwetzen und wenn möglich noch im Jahre 1874 zum Lesen zu kommen. Als ich die Abhandlung unter dem Titel: »Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Kantischen Erkenntnistheorie« einreichte, wurde mir aber eröffnet: eine neue Bewerbung sei vor Ablauf eines Jahres nicht zulässig. Das hatte denn zur Folge, daß ich für die Drucklegung Zeit gewann. Freilich war dabei zunächst das bittere Geschäft, einen Verleger zu finden, zu erledigen. Ich habe viele vergebliche Wege gemacht, bis ich endlich anfangs 1875 R. Reisland in Leipzig zum Abschluß des Geschäfts bereitfand, allerdings unter wenig erfreulichen Bedingungen: Einzahlung[196] von 250 Talern für Druckkosten, die dann nach Bestreitung aller Kosten der Firma aus dem Ertrag sollten zurückgezahlt werden; ein dann noch resultierender Überschuß sollte zwischen dem Autor und Verleger zu gleichen Teilen verteilt werden. Ich habe im Laufe einiger Jahre meinen Einschuß zurückerhalten und auch noch einen kleinen Überschuß; er würde größer gewesen sein, wenn der Verleger mehr Geduld gehabt hätte: als der Absatz Ende der 70er auf ein paar Exemplare im Jahr herabging, ließ er, ohne auch nur zu fragen, den Rest bis auf eine geringe Anzahl einstampfen. Später stieg die Nachfrage wieder stark; zu einem bloßen Neudruck mochte ich mich aber nicht entschließen, und für eine Neubearbeitung hatte ich nicht Zeit. So ist mein erstes Buch seit langem vergriffen. Ich kann nicht umhin, zu denken, daß ein etwas kulanteres Verfahren des Verlegers auch in seinem Interesse gelegen hätte; ich habe seitdem keine Geschäfte mehr mit ihm machen mögen. Überhaupt versehen es die Verlagsbuchhändler meines Erachtens darin, daß sie nicht mehr auf junge, aufsteigende Kräfte achten und solche sich durch Dienste zu verpflichten suchen.

Um die Geschichte meiner Habilitation gleich zu Ende zu erzählen: ich legte nun im März 75 das gedruckte Buch der Fakultät vor; es fand Annahme. Durch die erneute Dienstleistung (April, Mai) wurde die Habilitation verzögert. Erst am 10. Juni 1875 hielt ich die Vorlesung in der Fakultät. Als Thema war unter den vorgeschlagenen gewählt worden: der Begriff der Substanz. Der Erfolg war gering, im Kolloquium wurde auf die Sache selbst überhaupt nicht eingegangen; Harms meinte: diese Anschauungen müßten zum Materialismus führen; ich versuchte vergeblich zu zeigen, daß der Begriff eines Seelensubstantiale vielmehr ein letzter Rest zugleich und ewig nachwachsender Keim der materialistischen Vorstellung sei: Substanz und Materie seien Wechselbegriffe. Zeller lenkte gleich auf allerlei Historisches ab, Spinozas Substanzbegriff u. dgl. Nach einer Beratung, die mir recht lang wurde, kam die Fakultät zu einem positiven Ergebnis. Die öffentliche Vorlesung fand am 19. Juni statt: sie handelte von den Kategorien, mit denen die Gegensätze philosophischer Anschauungen bezeichnet zu werden pflegen, Idealismus und Realismus usw. Auch von ihr hatte ich den Eindruck vollständiger Vergeblichkeit, weder der Dekan Zeller noch die wenigen Hörer schienen der Sache Bedeutung beizulegen, vielmehr mit Ungeduld das Ende zu erwarten.[197]

Das war der wenig verheißungsvolle Eintritt in die akademische Laufbahn. Ich empfand mit Bitterkeit den Abstand gegen die Promotion: damals hatte mir Trendelenburg mit großer Herzlichkeit gratuliert. Jetzt wurde die Sache mit kalter Geschäftsmäßigkeit erledigt.

Auch die Aufnahme, die mein Kantbuch fand, blieb hinter meinen Erwartungen beträchtlich zurück. Die erste Rezension kam von meinem alten Bekannten aus Bonn, Dr. Göring sprach im Literarischen Zentralblatt seine, wie mir vorkam, ziemlich matte Anerkennung aus: die Schrift verdiene Beachtung! Ich hatte gedacht, es werde heißen: die Schrift bedeute eine vollständige Revolution in der Auffassung der kritischen Philosophie. Statt dessen: Verdient Beachtung! Was verdient nicht Beachtung und erfährt sie auch, wenn es gedruckt ist! Ähnlich lauteten die Stimmen in andern Blättern. Nur ein Artikel der Westminster Review, der von J. St. Mill mitbegründeten Zeitschrift, erhob sich zu höheren Tönen: das Buch werfe das größte Licht auf die Philosophie des Königsbergers. Und ein paar Jahre darauf hatte ich die Genugtuung, daß ein Niederländer, Dr. Du Marchie-Voorthuisen, ein Buch über Kant schrieb, es ist nach seinem Tode veröffentlicht worden, das sich auf die von mir gelegte Grundlage stellte.

Mit einem Wort gehe ich noch auf die übrigen Studien und Bestrebungen in diesem Jahre ein. Eine von der Akademie gestellte Preisausgabe über den Einfluß der englischen Philosophie des 18. Jahrhunderts auf die deutsche hat mich, wie schon erwähnt, zeitweilig gelockt und meine Lektüre bestimmt. Bacon, Hobbes, Cumberland, Shaftesbury, Mandeville, dann die Deutschen Pufendorf, Thomasius, Leibniz wurden studiert und exzerpiert; Hobbes gewann mir dabei durch seine scharfe, rücksichtslose, schroffe Durchführung bestimmter Prinzipien besondere Hochschätzung ab; seine politischen Gedanken haben auf meine Gedankenbildung nicht unerheblichen Einfluß geübt; daß einheitliche und gesicherte Macht das erste Hauptstück des Staats sei, ist mir durch Hobbes erst zu unverlierbarer Einsicht erhoben worden. Zur Ausführung der Preisarbeit bin ich doch nicht gekommen, die andern Arbeiten und Pläne haben es gehindert. Doch sind die mannigfachen Studien dafür meiner Vorlesung über die Geschichte der neueren Philosophie zugute gekommen, ebenso wie die Vorarbeiten für die Geschichte der Erkenntnistheorie. An ihr habe ich länger festgehalten, auch Anläufe zur Ausarbeitung gemacht; schließlich ist sie doch liegen geblieben: die Pädagogik trat dazwischen und hielt mich[198] jahrelang bei historischen Arbeiten fest, wovon in der Folge zu reden sein wird.

Mit großem Interesse und bleibendem Gewinn habe ich in den Jahren 1873/5 Schopenhauer, den ich bisher nur gelegentlich und ohne tiefere Teilnahme gelesen hatte, studiert. Das unfreundliche Begegnis mit der Fakultät öffnete mir für seine pessimistischen Betrachtungen über die menschliche Natur überhaupt und den Gelehrten im besonderen das Verständnis oder schuf doch einen Resonanzboden im Gefühl. Seine schroffe und fast feindselige Art, die Wahrheit zu sagen, imponierte mir, sie hat auf den Ton meiner ersten Habilitationsschrift abgefärbt. Dauernde Wirkungen waren die voluntarische Auffassung des Seelenlebens und das Verständnis für die pessimistische Lebensauffassung. Habe ich diese auch niemals mir angeeignet, so ist mir doch durch Schopenhauer die Zufälligkeit und Subjektivität des natürlich-optimistischen Lebensgefühls und die Möglichkeit des Umschlags zum Bewußtsein gekommen. Auch für die großen Erlösungsreligionen war damit die Voraussetzung des Verständnisses gegeben; die christliche Religion gewann jetzt ein andres Gesicht, als sie in der Beleuchtung der intellektualistischen Dogmatik gezeigt hatte. Das Studium der Religion in ihrem Verhältnis zur Kultur wurde jetzt für mich ein Gegenstand dauernden Interesses. Aus diesem Gesichtspunkt habe ich damals Dunckers Geschichte des Altertums mit lebhafter Freude gelesen. Ich halte sie noch heute für ein Werk, das vortrefflich geeignet ist, in den Sinn der Völker einzuführen, deren Leben darin beschrieben ist; besonders ist die Geschichte des indischen Volkes mit tiefem Verständnis erfaßt: die großen Epochen seines Lebens und seiner Lebensstimmung treten darin mit erstaunlicher Deutlichkeit hervor. Bald kam Waitz' Anthropologie der Naturvölker dazu, ein unerschöpflicher Schatz der Belehrung für primitive Religion.

Meine persönlichen Beziehungen erfuhren in dieser Zeit mehrfache Erweiterung. Vor allem ist hier das Haus des Unterstaatssekretärs a.D. von Gruner zu nennen. Ich wurde durch Freund Belger eingeführt, der seit Herbst 1872 die Aufgabe eines Erziehers für den einzigen Sohn des Hauses übernommen hatte. Sein Eintritt in diese Stellung war durch Bonitz vermittelt worden. Nachdem ich am Himmelfahrtstag 73 zum erstenmal zu Tisch im Hause gebeten war, wurde ich im folgenden Winter öfters eingeladen. Es war ein sehr gastfreies Haus, in dem auch jüngere Gelehrte gern gesehene Gäste waren. Man kam[199] entweder gebeten zu Tisch- oder Abendgesellschaften, oder man fand sich ungebeten zum Tee um 8 Uhr ein und verplauderte ein paar Stündchen in der Familie, die aus dem Hausherrn, der Frau Klara und Fräulein Emilie1, der Pflegetochter, bestand, übrigens oft durch ein paar freiwillige Gäste vermehrt wurde. Nicht selten wurde etwas gelesen, gelegentlich auch mit verteilten Rollen. Es war das erste, wenn nicht eigentlich auf großem Fuß, so doch in vornehmem Stil geführte Haus, das ich kennen gelernt habe. Manche Bekanntschaft, die für mich von Bedeutung geworden ist, habe ich dort gemacht, so vor allem die der beiden Reichensperger, die dem Hausherrn politisch befreundet waren.

Durch meine Habilitation wurde ich um dieselbe Zeit mit zwei nah verwandten Familien bekannt: mit den Professoren Lazarus und Steinthal. Ich hatte meinem verehrten Lehrer Steinthal meine Erstlingsschrift überbracht, persönlich, ohne indessen zunächst den Eindruck zu haben, daß er für mich oder meinen Kant sich interessiere. Es war nicht seine Art, dem ihm sich Vorstellenden lebhaft entgegenzukommen: er ließ an sich herankommen und konnte wohl auch durch beharrliches Schweigen eine etwas unbehagliche Situation entstehen lassen. Als der Jüngere hatte ich die Empfindung, daß es geziemend sei, ihm die Frage und die Leitung des Gesprächs zu überlassen. Da er von dem Recht weiter keinen Gebrauch machte, empfahl ich mich bald, nicht ohne eine kleine Mißstimmung. Ich sollte später erfahren, daß es durchaus nicht Mangel an freundlicher Gesinnung gegen den sich vertrauensvoll Nahenden, sondern der natürliche Habitus des Mannes, vielleicht auch ein wenig Mangel an Übung im Verkehr mit jungen Leuten war, was mir als Kälte entgegentrat. Ich bin in seinem Hause bald so heimisch geworden, wie ich mich kaum in einem andern Hause gefühlt habe. Das war freilich vor allem das Verdienst seiner Frau, der Schwester des Professor Lazarus. Ich weiß nicht, wann ich sie zuerst gesehen habe, es wird im Laufe des Sommers 75 gewesen sein. Sie war damals noch eine jugendliche Frau, nicht gar viel älter als ich, ihr Mann war beinahe 20 Jahre älter als sie. Die Liebenswürdigkeit, mit der sie sich für die persönlichen Angelegenheiten, für Heimat und Herkunft, für häusliche Verhältnisse und wissenschaftliche Pläne des Gastes interessierte, die freundliche Art, wie sie ihn zum Sprechen zu bringen und zu hören wußte, nahmen mich[200] ebensosehr ein, als mir die ganze schlichte Geselligkeit, die den beschränkten Umständen entsprach, zusagte. Ich kam bald als regelmäßiger Gast jeden Dienstag abend zu ihnen, mit mir Dr. Bruchmann. Meist waren wir die einzigen Gäste, doch kam später noch hin und wieder der eine und andre Schüler Steinthals dazu. An äußeren Genüssen wurde ein Butterbrot und ein Glas Bier geboten, und davon wurde nicht abgegangen, auch wenn einmal ein geehrterer Gast, z.B. Professor Baron, dazukam. Die herzliche Freundlichkeit aber, womit man aufgenommen wurde, die Sorglichkeit, womit die Hausfrau die Wirtin machte, die Behaglichkeit der Plauderei über Tisch die Intimität des Gesprächs mit dem vielseitigen und tiefen Gelehrten, alles das gab diesen schlichten Abenden für uns unvergleichliche Reize. Sie fanden ihr Ende erst, als der eigne Hausstand seine Ansprüche und Hemmungen geltend machte; meine Braut und in der ersten Zeit auch meine junge Frau habe ich noch oft mitgebracht.

Auch zu Lazarus kam ich ins Haus; sie hatten mich wohl bei Steinthals kennen gelernt. Wenn ich nicht irre, bin ich im Winter 75/76 zum erstenmal bei ihnen gewesen, in großer Gesellschaft, ohne Anschluß und ohne Freude. Es war das vollkommene Widerspiel der Geselligkeit bei der Schwester. Hier eine Zusammenführung von großen Namen, Titeln und Orden, mit denen das Haus Staat machte, und unter denen sich ein so unberühmtes Individuum, als ein junger Privatdozent ist, völlig verlor oder nur als bescheidene Raumfüllung wirkte, dort ein engster Kreis, in dem jeder als Persönlichkeit wirkte und galt. Ich bin nur noch ein- oder zweimal dort gewesen, das letztemal mit meiner Braut. Es war mir nicht wohler dabei als das erstemal. Es lag doch auch daran, daß ich zu den Wirten selbst kein Verhältnis zu gewinnen vermochte.

In diese Zeit fällt auch meine erste schriftstellerische Tätigkeit, abgesehen von dem Kant. Die Anregung dazu kam von Steinthal. Er gab mir R. Flints history of the philosophy of history zur Besprechung für seine Zeitschrift mit beliebigem Spielraum. Ich hab in den Sommerferien 75 in Langenhorn die sehr eingehende Rezension gemacht. Hieran schloß sich alsbald der Aufsatz über St. Mills Religionsphilosophie, aus Anlaß der hinterlassenen three essays; ich habe ihn in den Weihnachtsferien 75 geschrieben; auch er erschien in Steinthals Zeitschrift. Endlich folgte noch Bagehot, on the origin of nations. Der Aufsatz über Mill gab zu einem kleinen Erlebnis Anlaß. Ich[201] hatte einen deutschen Rezensenten darüber zur Rede gestellt, daß er Mill von oben herab als stumpfsinnigen englischen Empiristen behandelt habe, mit Lebhaftigkeit aussprechend, daß derartiger Nationalismus uns vor dem Vorwurf des Teutonismus schamrot zu verstummen nötige. Ich erhielt einen Brief, worin mir der Autor aussprach, daß er die Zurechtweisung als begründet anerkenne und sein rasches Urteil bedauere.

Fußnoten

1 Emilie Ferchet, P.'s erste Frau.


Quelle:
Paulsen, Friedrich: Aus meinem Leben. Jugenderinnerungen. Jena 1910, S. 202.
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