Kanonisches Rechtsbuch

[475] Kanonisches Rechtsbuch. In den ersten drei Jahrhunderten bezeichnete Kanon die teils auf christlicher, teils auf mündlicher Überlieferung beruhende Richtschnur für das Leben der gesamten Kirche. Als die Synoden die Hauptträger für die Entwickelung des kirchlichen Lebens geworden waren, und namentlich die allgemeinen Synoden, wurden die Bestimmungen dieser auch canones genannt. Mit der Ausbildung und Entwickelung des Primates der römischen Bischöfe wurde der Begriff Kanon auf die Sendschreiben dieser oder die Dekretalen übertragen, und endlich nach dem Sprachgebrauch des Mittelalters jede kirchliche Bestimmung mit dem Ausdruck Kanon bezeichnet, im Gegensatz zur bürgerlichen lex, Gesetz.

Die ältesten Sammlungen kirchlicher Verordnungen, namentlich von Konzilienbeschlüssen, sind in griechischer Sprache abgefasst; von ihnen besass die abendländische Kirche schon im 5. Jahrhundert lateinische Übersetzungen, von denen drei besondere Geltung erlangten: 1. die sogenannte spanische oder isidorische, die lange Zeit fälschlich dem Isidor von Sevilla zugeschrieben wurde; 2. die wahrscheinlich in Italien verfasste versio oder translatio prisca, und 3. die Sammlung des Mönches Dionysius exiguus; dieselbe kam in der römischen Kirche allgemein in Gebrauch und erhielt unter Karl dem Grossen die Autorität eines offiziellen Codex canonum. Mit Zugrundelegung dieser ältesten Sammlungen entstanden bis ins 12. Jahrhundert in den einzelnen Ländern mit der Zeit zahlreiche neue Kompilationen, welche den Zweck hatten, das in den früheren Werken zerstreute Material in Verbindung mit[475] neueren kirchlichen Satzungen zu einem übersichtlichen und dem praktischen Bedürfnisse entsprechenden Ganzen zu vereinigen. Gegenüber den älteren kompendiösen und meist nur lokalen Interessen dienenden Sammlungen sind die späteren grossenteils von bedeutenderem Umfange und von der Art, dass sie über die Diöcese hinaus, in der sie entstanden, benutzt werden konnten; dahin gehören u.a. die Sammlungen des Abtes Regino vom Prüm, gest. 915, des Bischofs Burchard von Worms um 1220, des Bischofs Ivo von Chartres, gest. 1117. Immer blieb jedoch das Bedürfnis einer Sammlung, welche mit Beseitigung des unbrauchbar gewordenen dasjenige zusammenstellte, was bleibenden praktischen Wert besass und namentlich die vielfachen Widersprüche vereinigte. Eine solche Sammlung bewerkstelligte Gratian, wahrscheinlich Kamaldulenser-Mönch im Kloster St. Felix zu Bologna, um die Mitte des 12. Jahrhunderts; sie trägt meist den Namen Decretum Gratiani. Dieses Werk, durch welches die älteren Sammlungen verdrängt wurden, erschien zu der Zeit, wo Bologna der Mittelpunkt der berühmten Rechtsschule war; die Methode der Lehrer und Glossatoren des römischen Rechtes wurde Vorbild und Muster für die wissenschaftliche Behandlung des Gratianischen Dekretes, und Gratian selbst hielt zuerst Vorträge über sein Werk und wurde dadurch der Begründer einer neuen Schule der Kanonisten oder Dekretisten. Dadurch wurde die Sammlung in den weitesten Kreisen bekannt, und die Päpste selber benutzten und citierten sie in ihren Dekretalen, ohne dass sie zwar von irgend einem Papste ausdrücklich bestätigt oder als authentischer Kodex der Kirche angenommen worden wäre. Der Umstand, dass das Decretum Gratiani in eine Zeit fiel, wo die fruchtbare gesetzgeberische Thätigkeit der auf der Höhe ihrer Macht stehenden Päpste ein neues ausserordentlich reiches kirchenrechtliches Material hervorbrachte, welches die bisherige Disziplin vielfach modifizierte und weiter entwickelte, liess das Werk Gratians bald als antiquiert und unvollständig erscheinen und rief das Bedürfnis neuer Sammlungen hervor, welche, da sie fast ausdrücklich päpstliche Sendschreiben und unter päpstlicher Autorität abgefasste Konzilienbeschlüsse enthielten, meist Collectiones decretalium genannt wurden. Die fünf wichtigsten dieser Sammlungen liess Gregor IX. im Jahre 1230 durch seinen Kapellan und Pönitentiar Raymund von Pennaforte in Verbindung mit den Gregorianischen Dekretalen nach einem verbesserten System in eine Sammlung verarbeiten, welche den Namen Decretalium Gregorii IX. compilatio trägt und sowohl auf den Universitäten wie in der Praxis eingeführt wurde. Nachdem die folgenden Päpste neudings kirchliche Gesetze als Nachträge und Anhänge zur vorigen Sammlung publiziert hatten, liess Papst Bonifazius VII. dieselben in Verbindung mit seinen eigenen zahlreichen Briefen neuerdings zu einem Ganzen ausarbeiten und veröffentlichte diese Sammlung 1298 unter dem Titel Liber sextus, weil durch sie die fünf Bücher der Dekretalen Gregors IX. ergänzt werden sollten. Die letzte offizielle Sammlung kanonischer Rechtsquellen stammt von Clemens V. aus dem Jahre 1313 und trägt den Namen Constitutiones Clementinae. Mit ihnen schliessen die offiziellen Dekretalensammlungen ab. Das erschütterte Ansehen der Päpste, die seit dem 14. Jahrhundert sich steigernden Kämpfe derselben mit der weltlichen Gewalt und einzelnen Nationalkirchen liessen den Erfolg derartiger Unternehmungen als problematisch erscheinen und nahmen die[476] Thätigkeit der Päpste für andere Zwecke in Anspruch. Bedeutende Dekretalen wurden vorläufig nur noch einzeln verbreitet und von den Lehrern des kanonischen Rechtes kommentiert; erst durch Johannes Chappuis wurden sie ebenfalls gesammelt, in zwei Teile geteilt und als Extravaganten, d.h. Einzelgehende, im Jahre 1500 zuerst den Clementinen beigefügt.

Schon im 12. Jahrhundert wurde Gratians Dekret Corpus juris canonici genannt, nicht minder hiess die Gregorianische Sammlung früh Corpus juris; so ist in den Akten der Konzilien des 15. Jahrhunderts öfters vom Corpus juris, Jus scriptum, Jus commune die Rede. Anfangs sind die Sammlungen, aus denen dasselbe besteht, nur einzeln gedruckt worden, das Gratianische Dekret in Strassburg 1471, die Gregorianischen Dekretalen zuerst in Mainz ohne Angabe des Jahres, eine folgende 1473 ebendaselbst bei Peter Schöffer, der Liber sextus in Mainz 1445 bei Joh. Fust und P. Schöffer, die Clementinae bei denselben 1460. Im 16. Jahrhundert wurden diese einzelnen Teile, seit Chappuis mit den Extravaganten vermehrt, gewöhnlich von derselben Offizin in drei Bänden herausgegeben, deren erster das Dekret, der zweite die Dekretalen Gregors IX. und der dritte das übrige umfasste. Erst seitdem man in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts alles in einem Bande zusammenfasste, findet sich auch der Gesamttitel Corpus juris canonici. Wasserschleben in Herzogs Real-Encykl.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 475-477.
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